Zu Punkt 1.
Zur genaueren Erläuterung müsste ich erstmal wissen, ob du den Menschen (als Abstraktion) und sein Verhalten als "natürlich" ansiehst. Das muss gar nicht in irgendeinen genbedingten Determinismus münden, es genügt die Information ob menschengemacht als "natürlich" betrachtet wird oder nicht.
Wie auch immer, ich ziehe die Trennlinie zwischen künstlich und natürlich ziemlich genau da, wo sich Verhalten und anschlüssige Strukturen ganz klar im willentlich beeinflussbaren Bewusstsein des Menschen bewegen. Das heißt im Klartext, dass die parlamentarische Demokratie, wie sie im Westen vorherrscht, ein künstliches, mittels menschlichem Denken und Handeln erschaffene Struktur ist. Dies schließt notwendigerweise die Veränderung dieser Struktur durch weitere bewusste Handlungen ein: beispielsweise wurde das Frauenwahlrecht erkämpft und eingeführt, obgleich es nicht von Anfang an Bestandteil dieser Demokratieform war.
Diese Demokratie folgt ihrer eigenen Logik, die einigermaßen transparent für jedermann ist; ihrem eigenen Anspruch nach muss sie das auch sein. Die Logik der Übertragung eines diffusen "Volkswillen" auf RepräsentantInnen und daran anschließend die Gesetzgebungsmechanik ist durchsichtig, ihre Beeinflussbarkeit gleichsam Beweis ihrer "Künstlichkeit". Sie ist Resultat eines bewussten Vorgangs.
Das gilt meiner Ansicht nach, und in Abgrenzung zu den liberalen Säulenheiligen, auch für den Kapitalismus, allerdings mit dem nicht zu unterschätzenden Unterschied, dass dessen Mechanik allenfalls an der Oberfläche für jedermann transparent und nachvollziehbar ist.
Der Entwicklungsprozess hin zu dieser Gesellschaftsform ist historisch bedingt und politisch durchgesetzt, sie baute auf bereits vorhandenen Formen auf. Vorbedingungen waren u.a. mehr oder weniger ausgeprägter Tauschhandel, Bestehen einer nationalen Ordnungsmacht etc. Politischer Durchsetzung bedurfte es z.B. bei der Enteignung bzw. Privatisierung von Allgemeineigentum, etwa der Allmende, einer im dörflichen Kollektiv genutzten Landfläche, oder eben auch der Auflösung der Gilden. Die historische Genese des Kapitalismus im Westen mag ein jemand anders hier nachzeichnen.
Wie auch immer: im oben stehenden Post habe ich bereits geschrieben, dass die kapitalistische Gesellschaftsform von ihren Vordenkern als "natürliche" gesetzt wurde. In einem Zeitalter extremer Naturgesetzgläubigkeit wurde so eine Gesellschaftsstruktur im Wesen des Menschen verankert. Das gilt für so ziemlich alle liberalen Stützpfeiler, wie etwa für die Notwendigkeit eines Leviathan, eines die Ordnung gewaltsam durchsetzenden Herrschers, damit sich nicht die Regel des homo homini lupus est durchsetzt. Die Annahme, der Mensch neige ohne eingreifende Gewalt per se zur Selbstzerfleischung, ist das, was ich als Misanthropie der liberalen Denker bezeichnet habe.
Der Kapitalismus und seine Bedingungen - Privatarbeit, privater Besitz an Produktionsmitteln, private Aneignung gesellschaftlicher Arbeit & deren Produkte - werden gleichsam als unmittelbar der Natur des Menschen entspringend gesetzt und gleichsam durch den liberalen Staat in ihrer Existenz garantiert. Die Drohung mit Gewalt, sollte der Versuch des Umsturzes der oben genannten Bedingungen versucht werden, ist daher stets integraler Bestandteil jeder bürgerlichen Ordnung.
Allerdings entzieht sich der Kapitalismus scheinbar der Beeinflussbarkeit, die der Demokratie in bestimmten Grenzen noch zu eigen ist, denn er ist ihr vorgelagert. Der Staat ist in seinem Handeln an das Gelingen oder Scheitern des kapitalistischen Verwertungsprozesses gebunden. Er muss sich dem Medium des Geldes bedienen, dass er gleichfalls nicht selbst erzeugt.
Dass der Kapitalismus letztendlich das primäre bestimmende Moment der Gesellschaft ist zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich das Kapital in jeder politischen Organisationsform wohlfühlt; populärstes Beispiel ist wohl die Diktatur in Chile, die zugleich als Erprobungsfeld der neoliberalen Theorien der Chicagoer' Schule diente und Freihandel mit einem repressiven, mordenden Regime hervorragend zu verbinden wusste. Weiteres Indiz ist die ständige Argumentation mit diversen "Sachzwängen".
Das Wort allein sagt schon alles aus: es ist der Zwang einer Sache, eines verselbstständigten Dinges, dass sich (scheinbar) außerhalb der bewussten Einflussnahme bewegt. Es hängt über unseren Köpfen und baut in unseren Haaren Nester.
Die menschliche Vernunft muss aufgrund dieser Verselbstständigung notwendigerweise die Form der Vernunft dieses unbeeinflussbaren Dinges annehmen: sich also den Gesetzen unterwerfen. Die Gesetze lauten: Konkurrenz bis aufs Blut, Profiterzeugung um jeden Preis, Unterdrückung und nachrangige Behandlung der ureigenen Bedürfnisse und noch einiges mehr. Was dabei herauskommt, ist eine Schizophrenie in historisch einmaligem Ausmaß, die noch die größten Widersprüche unter Bezugnahme auf die Sachzwänge aushält. Um mal Hagen Rether zu zitieren:
"Nö, ich konnt nicht zur Demo 'Kein Blut für Öl'. Die Karre war verreckt."
Das Erscheinen als dem Menschen immanente Vernunft macht es zugleich schwierig bis unmöglich, diese Vernunft zu hinterfragen. Nichtmal die Soziologie möchte sich mehr dazu aufraffen, stattdessen ergeht sie sich in "rational-choice"-Theorien, die klingen, wie aus dem BWL-Marketing-Lexikon abgeschrieben. Gelingt es doch, machen die mörderischen Gesetze des Konstrukts das bewusste andere Leben schwierig bis unmöglich. Man ist im Überleben auf die eigene Einpassung in die Gesetze gezwungen, dieser Zynismus garantiert das Weiterbestehen. Das System wird am Bewusstsein der Handelnden vorbei ständig reproduziert.
Ich kann mich zwar individuell einer Arbeit verweigern, die nur auf die weitere Kapitalakkumulation hinausläuft und daher sinnlos ist, nur sinken dann meine Teilnahmemöglichkeiten an diversen Errungenschaften dieser Zivilisation ganz schnell ins Bodenlose. Von den juristischen Strafmaßnahmen im Fall, dass ich mit einer Horde ArbeiterInnen die Fabrik zu Gemeineigentum erkläre, ganz zu schweigen.
Die marxistischen Kategorien dieser Analyse lasse ich mal beiseite.
Die Anthropologie auf heutige Gesellschaften anzuführen halte ich für völlig absurd. Aussagen wie "dabei haben wir uns doch nur das Wirtschaftssystem geschaffen, das am besten zu uns passt." sind zu beweisen, nicht von mir zu widerlegen.
Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein, und in Folge dessen die Auffassung darüber, was "vernünftig" ist. Das wird völlig ausgeblendet, weil die Wirtschaftswissenschaften nicht im Stande sind, zwischen Form und Inhalt zu unterscheiden; und weil die liberale Lüge, dass diese und jene Strukturen "künstlich" und diese und jenen Strukturen "natürlich" und dem Menschen daher angebracht seien, inzwischen zur anthropologischen, aus jedem gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhang gerissene Konstante verdichtet wurde.
Die Aussage, dass "in jedem Menschen ein Unternehmer stecke" ist kein Hoffnungsversprechen auf eine bessere Zukunft, es ist die ultimative Drohung einer Dystopie der totalen Konkurrenz, des totalen Marktes, der totalen Unterwerfung und der totalen Destruktion natürlicher Ressourcen.
Zu Punkt 4 kommt später was.