BA - Alone in the Dark

Mantis

Heilende Hände
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Rhonwen

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Das Moor

Stellt eine Kerze in Euer Fenster bei Nacht
Mir zu Leuchten in der Dunkelheit
Mir Frieden zu schenken
Und mich heimzuführen aus der Finsternis.


Der Winter naht, die Nebel über dem Moor weichen teilweise schon gefrorenen Blattspitzen. Dem unerfahrenen Wanderer erscheinen unter dem Raureif die Stellen, die den Schuh nach kurzem Griff loslassen, genau wie die Stellen, die mit dem Fuß den ganzen Wanderer an sich ziehen. Dies ist die Zeit, in der das Leben sich zurückzieht aus dem Moor und Platz macht für… anderes.

Ich ziehe meine festen Schuhe an, der dicke Mantel hängt neben der Tür. Abseits des Dorfes steht meine Hütte, so als würden die, welche ich treffe bei Nacht, mir ins Dorf folgen. Und doch ist meine Vorratskammer wohl gefüllt, denn wenn sie mir zu meiner Hütte folgen, bleiben sie dann nicht fern den anderen Hütten des Dorfes, dem ich diene?

Mein Weg führt mich von der Ansammlung der Hütten weg, die tapfer der Feuchtigkeit trotzen, in das Dunkel der Nacht, zu den hoffnungslosen Seelen und denen, die nicht mehr wissen, dass sie einmal eine Seele hatten. Feuchte Halme streifen meinen Mantel wie Kinderfinger, die sich festkrallen am Rock der Mutter: geh nicht fort, vielleicht kommst du nicht wieder heim. Leise seufzend höre ich das Wasser unter meinen Füßen, es erzählt Geschichten, so alt wie meine Familie, die wir die Verbindung halten zwischen den Menschen und denen, die lange vor den Menschen hier zu Hause waren.

Heute führt mich mein Weg durch die Birken mit ihren wehenden Zweigen in Richtung eines Wanderers, dem diese Nacht die letzte und schrecklichste seines Lebens werden wird. Leise seufzend, flüsternd, raunend, mit Worten, die nur ich zu verstehen vermag, erheben sich die Ertrunkenen aus ihren Gräbern im Moor. Sie sind auf der Suche nach Gesellschaft in dieser Nacht, nach Trost, der nicht kommen wird und nach Unterhaltung, die eine weitere Seele zu ewiger Unruhe in den dunklen Tiefen verdammen wird. Manche weisen mit ihren Geisterlichtern den falschen Weg, manche greifen nach Füßen und Kleidung der Wanderer, manche ziehen den Verliebten in eine Umarmung und manche bereiten dem Müden ein Bett. Doch niemand, der so mit ihrer Aufmerksamkeit bedacht, fand je den Weg lebend hinaus aus dem Moor ohne Hilfe.

Wenn das Schicksal uns im Torfrauch des Herdfeuers ein Zeichen gibt, folgen wir ihm. Manchmal, um einen Tod zu bezeugen und die Kunde weiterzugeben. Manchmal, um einen Tod zu bezeugen und die Seele sicher hinaus aus dem Moor zu geleiten. Und manchmal, um einem Wanderer, dessen Zeit noch nicht gekommen ist, an unserem Arm sicher in unsere Hütte zu geleiten, auf dass sie in jeder weiteren Nacht ihres Lebens zitternd aus dem Schlaf aufschrecken, wissend, dass die Dunkelheit die Heimat von Schrecken ist, die sie sich weder vorstellen noch sie mit Worten und Bildern beschreiben können.

Meine Füße tragen mich über das Moor, sicher die festen Stellen findend und die trügerisch erhobenen, doch tödlich Tiefen meidend. Manch Halm splittert unter meinen Füßen, gefroren in der kalten Luft, doch noch lebendig von der Feuchtigkeit des Tages Nebel. An der Trauerweide, die ihre Zweige hängen lässt wie die Tochter des Brunnenbauern beim Waschen und Kämmen ihrer Haare, bleibe ich stehen und lausche. Dem Seufzen, Flüstern und Raunen mischt sich ein Klagen bei, ein Unterton von Streit. Wem steht der Wanderer dieser Nacht zu? Der immer traurigen Erhängten? Oder dem betrunkenen Verliebten, der in einer lauen Frühlingsnacht ertrank? Das dürre Kind, halb erdrosselt von den Schlingpflanzen, halb ertränkt von den Moosen, hat sich zurückgezogen, ihre Gesellschaft kommt heute Nacht noch.

Auf einem Stein, der den Beginn eines sicheren Weges durch die allgegenwärtige Bedrohung kennzeichnet, nehme ich Platz, um das grausige Schauspiel der heutigen Nacht zu bezeugen. Der Wanderer kommt immer näher, meinem Standpunkt und seinem Ende entgegen. Die traurige Erhängte hat diese Auseinandersetzung für sich entschieden. In ihrem grauen Kleid ähnelt sie den im ersten Frost sterbenden Pflanzen, Tränen laufen ihr über die kalten Wangen. Sie hat kaum mehr Substanz als die Nebel über den Teichen. Der Wanderer ist schon fast zu sehen, seine Bewegungen teilen die Luft und die feuchten Schwaden, die in ihr treiben. Ein Stocken, sein Blick hat die Gestalt der Klagenden erfasst. Die menschliche Regung, Mitleid mit einem schwächeren Wesen zu haben, wird sein Ende sein.
Seine Arme strecken sich ihr entgegen, breiten sich aus und die traurige Erhängte lässt sich hineinfallen. Er sieht ihr triumphierendes Lächeln nicht. Erst, als ihre Haare sich um seinen Hals wickeln, sich immer fester zuziehen, regt sich sein Widerstand. Doch es ist zu spät. Zu spät schon, seit er den ersten Fuß ins Moor setzte heute Abend. Langsam sinkt sein Körper zu Boden, seine Seele wird festgehalten von ihr, sie wird ihn in dieser Nacht nicht mehr loslassen.

Meine Arbeit hier ist für heute Nacht getan, ich ziehe mich zurück. Morgen früh werde ich den Menschen des Dorfes den Weg weisen, damit sie den Körper in heiliger Erde zu Grabe tragen können, auch wenn ihr gütiger Gott keinen Zugriff auf diese Seele haben wird. Doch ihr Gemüt scheint Frieden in ihrem Tun zu finden, und so sei ihnen der Trost dieser Geste gewährt.

Ich gehe weiter auf meinem Weg durch das Moor, eine weitere Aufgabe ist zu tun heute Nacht. Das Schilfrohr raschelt wie trockene tote Haut über Knochen. Ich höre Tiere, die in der Nacht hier genauso zu Hause sind wie die Geister und die verlorenen Seelen. Wie ich? Wo bin ich mehr zu Hause, in meiner Hütte, die gemieden wird, als seien Tote ansteckend oder hier im Moor, wo ich eines der wenigen lebenden Wesen bin, Mittlerin zwischen beiden Seiten? Schnaubend schüttele ich diese Gedanken von mir ab, sie führen zu nichts. Mein Lebensfaden liegt nicht klar vor mir, doch die Richtung ist zu erkennen, und sie verläuft abseits des unwissenden Zusammenlebens der Dorfgemeinschaft.

Die letzten Schritte sind schnell, aber bedächtig getan, dann bin ich dort, wo meine zweite Aufgabe in dieser Nacht unter einem Ginsterbusch liegt. Der kleine Sohn, der Jüngste der Korbflechterswittwe, hält ein kränkliches spätes Lamm im Arm. Kaum zu sagen, wer wen wärmt. Behutsam nehme ich beide auf meinen Arm und schlinge meinen warmen Mantel um sie. Der Verlust des einen wie des anderen wäre ein herber Verlust für die Frau gewesen, die wie ich in einer kleinen Hütte am Rande des Dorfes wohnte. Seit dem Tod ihres Mannes und dreier ihrer Kinder wurde sie fast noch mehr gemieden als ich. Und sie erhielt keine heimlichen Geschenke zur Abwehr des Bösen von den Abergläubischen des Dorfes.

Erheitert über mein eigenes Mitleid und meine menschlichen Regungen zupfe ich leicht am Schicksalsfaden. Was ich erfahre lässt mich den Entschluss fassen, neben dem Jungen und dem Tier noch etwas anderes vor die Türe der Korbflechterswittwe zu legen. Ich richte mich auf, strecke trotz der Last in meinen Armen den Rücken durch und wende mich dem Dorf zu. Wie es dem uralten Pakt entspricht, stehen Kerzen in den Fenstern. Nicht zu sehen von hier aus, doch wie ein Magnet, der mich zu den Hütten zurückzieht. Ein Anker, der mich vor dem Verlust meiner selbst im Moor bewahrt, eine Kette, die mich an das Dorf bindet. Mir den Frieden gibt, nicht zu werden wie die, vor denen ich das Dorf bewahre, in dem wir schon seit tausenden von Jahren leben und wachen.

Im Dorf bin ich nur ein Schatten, der an den Hütten vorbeihuscht, wie ein kalter Wind, der Schnee bringt. Lamm, Sohn und ein Beutel werden vor einer Tür abgelegt, die sich erst öffnet, als ich schon nicht mehr zu sehen bin. Ich höre Freudenrufe, Weinen und eine müde Kinderstimme. Morgen werden die Stimmen, die über mich sprechen, so von Dankbarkeit erfüllt sein wie an anderen Tagen vor Wut und Hass. Mir ist es gleich. Der uralte Pakt wurde schon einige Male gebrochen, doch immer mit schrecklichen Folgen. Die Geschenke vor meiner Tür werden mal mehr und mal weniger, manchmal bleiben sie ganz aus. Doch ich bin nicht darauf angewiesen. Waren wir nie. Werden wir nie sein. Auch nicht, wenn der Winter naht und die Kälte durch alle Ritzen in die Hütten kriecht. Die Feuchtigkeit durch die Böden zieht und in sich in den Lungen der Menschen einnistet.

Der uralte Pakt gehört zum Moor wie die Sonne zum Tag und die Dunkelheit zur Nacht. Auch morgen werde ich wieder hinaus gehen in das Dunkel der Nacht, zu den hoffnungslosen Seelen und denen, die nicht mehr wissen, dass sie einmal eine Seele hatten.

Stellt eine Kerze in Euer Fenster bei Nacht
Mir zu Leuchten in der Dunkelheit
Mir Frieden zu schenken
Und mich heimzuführen aus der Finsternis.
 

Timestop

Running out of Time
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Das Moor umschließt seine Kinder, heißt es. Manche glauben, es wäre eine wärmende Decke, die beschützt und erhält, was sonst verloren geht. Manche glauben, es verschlänge die Schuldigen, Bösen, Ungeduldigen oder Schwachen. Manche glauben, es greife gierig nach den Seelen Unschuldiger. Sie glauben an Motivation wie Rachsucht, an Bestrafung oder Macht. Sie halten es für Böse oder Gut.

All jene verstehen dieses Moor nicht. Es ist weder getrieben, noch verurteilend. Es folgt Gesetzen, die der Mensch nicht verstehen kann und diejenigen, die das Moor durchwandern, sind selbsterwählt seine Diener oder Nachbarn, aber keine Brüder oder Schwestern.

Wenn die Füße der Wanderer seinen Grund betreten, wacht es über ihre Schritte und verlangt ihnen nur die Aufmerksamkeit ab, die nötig ist, um es zu überleben. Manche von ihnen sehen die Schönheit in dem Moor und verehren es.
Es antwortet nicht.
Es kann auch geben und sein Körper versorgt die Anwohner. Mit seinem Torf fügt es sich in das Leben der Menschen ein und wird zu einem Verbündeten. Doch hat es im Gegensatz zum Menschen weder dieses Verständnis der Situation oder dieses Ziel, noch wehrt es sich dagegen.


Es beobachtet und versteht die Suchende auf eine Weise, wie sie sich ihre Art nicht vorstellen kann, bemerkt ihre Schritte auf ihm, welche mit der Sicherheit von lange zuvor erlernter, weitergegebener Weisheit erfolgen.
Als die Diener des Moores sich ihre Rache oder Erquickung holen, sieht es zu. Es hilft nicht, ist aber da, wenn die Wanderer den Fehler begehen seinen Dienern nicht zu widerstehen und sich täuschen zu lassen. Es spürt, wie die in ihm gefangenen Seelen mit seiner Erlaubnis weitere Verfluchte zu sich herab zerren und zu einer langen Zeit der Qual verdammen.
Es erkennt das und sieht auch die Suchende ihre Arbeit tun, als Botschafterin.

Einige Meilen weiter entfernt stürzen zwei Mörder einen Leichnam in die matschige Umarmung, lassen ihn versinken und drehen um. Einer der beiden lacht, als sich sein Gesicht zu einer überraschten, verständnislosen Grimasse ändert, wenn sein Freund ihm ein Messer in den Leib stößt. Er fällt voller Schmerz und Furcht mit dem Gesicht zuerst in das Moor, von den Tritten seines Freundes versenkt. Er zappelt in Panik und Angst und geht unter. Emotionen von Triumph und Trauer mischen sich in dem Überlebenden, der Zerstörer und Zerstörter zugleich ist. Das Moor erkennt all diese Gefühle und ihre jeweilige Konzentration in der Person, versteht sie aber nicht wie Menschen oder Tiere. Sie sind ihm so fremd, wie den Wesen in und um es herum das Moor ein Rätsel ist.

Die Suchende, die anders ist als die meisten hier, beobachtet ebenfalls erneut. Zeit ist vergangen, aber für das Moor anders als für seine Bewohner. Obwohl die Suchende und ihre Sippe vor ihr viel von dem Moor angenommen und verstanden haben, so bleibt sie doch ein Mensch. Sie kennt die Kräfte, die ihm und allen Dingen innewohnt und kennt die Pfade. Das, was die Menschen als Magie bezeichnen mögen. Sie ist mehr als die meisten Wesen hier. Doch das Moor erhascht auch ihre unmerklich aufflackernden Gefühle für die Opfer und die Seelen, die einst Opfer waren und nun zu Tätern in den Augen der Menschen werden. Es erkennt die Empfindungen und versteht sie nicht.

Ohne Hast verfolgt es ihren Tag erneut. Es kennt keine Geduld oder Ungeduld, Vorfreude oder Furcht. Als die Frau ein Lamm und ein kleines Kind errettet, als Helferin, nimmt es diese Nachricht auf wie alle anderen.

So wie die seines eigenen Verderbens. Es spürt die andersartigen Kräfte der Menschen. Noch bevor die Natur selbst das tun wird, wird es von ihnen vernichtet werden, es ist nur eine Frage der Zeit, der Generationen, ihrer Entwicklung, noch bevor sie sich selbst auslöschen werden. Dieses Moor weiß das, erkennt das und sieht den Tag voraus, wenn die Menschen es mit ihrer Macht zerstören und begraben werden. Und mit ihm die Magie.
 

Mantis

Heilende Hände
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Ich glaube, du bist eine Tänzerin. Du bewegst dich mit dieser natürlichen Eleganz, sie ist in all deinen Bewegungen. In der Art, wie du gehst. Wie du von deinem Stuhl aufstehst, wie du einen heruntergefallenen Kugelschreiber aufhebst. Wie du dir eine Strähne deines goldblonden Haares aus dem Gesicht streichst.
Ich glaube, die anderen bemerken es gar nicht.
Vielleicht ist ihr Auge fürs Detail von der Hektik des Alltags geblendet, vielleicht ist ihre Wahrnehmung durch den grauen Büroalltag abgestumpft.
Warum sonst sollten sie dich derart übersehen, wie sie es tun?

Ich sehe oft wie du dich bemühst, wie du nach Bestätigung und Anerkennung suchst und nach ihrem Lächeln, aber sie sehen dich nicht mal. Nicht so, wie ich dich sehe.
Sie wissen nicht, dass du viel mehr bist als deine strahlenden Augen und dein bezauberndes Lächeln.

Manchmal sehe ich, wie du dich von ihnen runterziehen lässt.
Wenn du wieder ein Projekt präsentiert hast, das eigentlich keinen interessiert.
Wieder einen Vorschlag eingebracht hast, der ignoriert und wenig später von jemand anderem wiederholt wurde, gefolgt von großer Zustimmung.
Wenn sie an dir vorüber laufen, dich nur flüchtig grüßen.
Dann verliert dein Lächeln seinen Glanz, und es ist, als ob der Raum ein wenig dunkler wird. Du lächelst zwar noch, aber es kommt nicht mehr bis zu deinen Augen, es bleibt eine Anstrengung deiner Gesichtsmuskeln.
Gut genug, um die zu täuschen, die nicht hinsehen.

Und sie sehen nicht hin.
Sie gehen dir aus dem Weg.
Sie mögen dich nicht.
Ich verstehe sie nicht.

Ich habe mal gehört, wie sie über dich geredet haben, als du nicht da warst.
Aufgetakelt
Tussi
Nur zur Dekoration angestellt

Sie haben keine Ahnung, dass du erst einen Job bekommen hast, als du angefangen hast, dich für Vorstellungsgespräche zu schminken und chic anzuziehen.
Keine Ahnung, dass in deiner eigenen Zeit die hohen Hacken im Schuhschrank bleiben, und dass nach einem Arbeitstag Abschminken das erste ist, was du tust.

Ich weiß, dass hinter deiner freundlichen, hübschen Fassade mehr ist, als du sehen lässt.
Ich weiß wie du dich fühlst.
Die Sorge.
Die Angst.
Die Frustration.
Nicht akzeptiert zu werden.
Nicht wertgeschätzt zu werden.
Ignoriert zu werden.
Als selbstverständliches Hintergrundgeräusch angesehen zu werden.

Ich weiß wie das ist.

Die anderen wissen es nicht.

Und sie haben keine Ahnung, dass du nach der Arbeit einen Umweg fährst, und nicht die direkte Linie, damit du mehr unter Menschen bist.
Damit du nicht alleine im Dunkeln bist, wenn du an deiner eigentlichen Haltestelle aussteigst, sondern eine Station weiter weg über eine Hauptstraße heimkehren kannst. Mehr Leute, mehr Licht.
Die anderen wissen nicht, dass du so schnell du kannst nach Hause gehst, wenn du die Straßenbahn verlässt, sie wissen nicht, dass deine Tür drei Schlösser hat, die du alle verschließt, wenn du nach Hause kommst, und dass du jedes Mal noch mal kontrollierst, ob du die Tür auch wirklich verschlossen hast.

Dabei gibt es keinen Grund dafür. Ich habe noch nie gesehen, dass dir jemand gefolgt wäre.
 

Timestop

Running out of Time
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Wunderland ist abgebrannt

Sie erwachte im Dunkeln. Es war still und die dünne, raue Decke juckte über ihre Haut. Sie strampelte sie weg und kratze sich, während sie sich umsah. Ein Fenster warf Licht in ihre Welt, aber sie konnte keine Sterne im dunklen Himmel erkennen. Irgendwo verschwammen Dächer im Hintergrund. Was sollte sie tun, was wollte sie tun? In einer Ecke saß etwas auf einer Stange. Sie fixierte es. Es sah wage flauschig aus und schien sich zu bewegen, wenn sie kurz wegsah.

„Alice. Alice, komm hier rüber.“

Die Stimme war leise, aber drängend.

„Zur Tür.“

Sie richtete sich auf, brauchte ein paar Sekunden um gegen Schwindel anzukämpfen, atmete dann durch und stand auf.
Zuerst musste sie sich am Bett festhalten, dann ging sie zaghaft weiter über den kalten Boden, Schritt für Schritt, konzentriert auf das dunkle Linoleum starrend, als ob ihr das Halt geben könnte, bis sie mit dem nackten Zeh gegen die Stange trat.
Sie fluchte.
„Still. Hier drüben ist die Tür“, sagte die Stimme.

Sie schob sich in die Richtung, die Hand ausgestreckt, bis sie auf Widerstand traf. Holz. Sie tastete weiter über abgeblätterte Farbe, bis sie eine Türklinke in die Hand bekam.
„Warte! Horch“, mahnte die Stimme.

Andere Stimmen waren hinter der Tür zu hören, die näher kamen.

„Geben sie ihr halt 20 Milligramm Dirotreptcin und dann wird das schon“, sagte eine Stimme.
„Wenn sie meinen, Doktor“, antwortete eine zweite, weibliche.

Sie hielt den Atem an, wartete und horchte. Schritte entfernten sich. Es wurde still.

„Jetzt. Los“, drängte die Stimme.

Alice atmete aus, öffnete die Tür und schlich geschwind hinaus, schloss die Tür wieder und schaute sich um.
Der Korridor war dunkel, die Leuchtstoffröhren an der tiefen Decke spendeten kaum Licht. Direkt vor ihr war eine weitere Tür, wenige Meter nach rechts und links kreuzten weitere Gänge.
Sie ging auf die Tür vor ihr zu.
„Halt“, ermahnte sie eine Stimme.
Sie schaute sich um und sah ein dickes, hundeähnliches Tier mit Schweineschnauze neben der Tür sitzen, aus der sie gerade gekommen war.
„Ich würde da nicht reingehen“, sagte es.
„Warum?“
„Weil das nicht gut für dich ist.“
„Warum?“
„Jetzt hab ich dir schon so oft geholfen, da wäre doch etwas Vertrauen angebracht.“
„Ich habe so meine Probleme mit Vertrauen“, schnaubte Alice.

„Hör auf Peter“, sagte eine Stimme von der anderen Seite.
Eine Katze saß dort und leckte ihre Pfoten.
„Wir müssen dich hier rausbringen.“
„Eine grandiose Erkenntnis.“
Die Katze stoppte ihre Fellpflege abrupt und lächte sie mit einem breiten Grinsen an.
„Warum denn so ernst? Wir wollen nur dein bestes.“

„Tut mir leid“, Alice rieb sich die Schläfen. „Ich fühl mich so müde und schlapp.“

„Dann brauchst du Kaffee“, schlug Peter vor.
„Ich mag keinen Kaffee.“
„Und ich mag mir nicht dauernd das Fell ablecken und Haare auskotzen. Aber du brauchst was um dich aufzuwecken“, befahl die Katze.
„Ich hab dort hinten Automaten gesehen. Da gibt’s bestimmt auch Kaffee“, meinte Peter.

„Ich würde mich lieber wieder hinlegen“, sagte eine Stimme neben Alice.

Alice drehte sich zur Wand und sah dort eine kleine, haarige Spinnen sitzen.

„Eine Spinne!“, rief die Katze.
„Mach sie tot!“, grunzte Peter.

„Lasst den Unsinn“, keifte die Spinne, die zur Sicherheit ein paar Meter wegkrabbelte.

„Dann lass du deine dämlichen Einwürfe, Ludmilla“, fauchte die Katze.
Peter schaute um die Ecke.
„Bahn frei zu den Automaten.“

„Vorsichtig, lausch lieber nochmal“, sagte die Katze, die die andere Richtung sondierte.
„Jetzt oder nie!“, Peter stürmte los.

„Ach, verdammt. Hinterher“, die Katze stupste Alice an, bis sie dem fetten Viech hinterhertappste, während sich Ludmilla hinterherschwang.

Zwei blinkende Kästen warteten darauf allerlei Köstlichkeiten auszuspucken. Einer enthielt Kaffee.
„Los, pack dir nen Becher und füll ihn.“
„Ich hab kein Geld.“

Der fette Peter seufzte. Er ging zum Automaten und rüttelte daran. Steckte seine Pfote in den Ausgabeschlitz und zerrte keuchend.
„Du machst zuviel Lärm“, beschwerte sich die Katze.
„Ich habs gleich.“
Es knackte und seine Augen wurden groß, dann zog er triumphierend einen Schokoriegel hervor.

„Du hast dir die Pfote verstaucht und was aus dem Süßigkeitenautomat geholt. Und nun?“

„Haben wir was zu essen. Das gibt Kraft. Auch was?“, er kaute auf Plastik und Karamell herum.

„Nein, danke“, wehrte Alice angewidert ab.

„Und nun?“

„Vielleicht kann sich Ludmilla mal nützlich machen.“

„Aus Automaten stehlen während man halbnackt durch die Krankenhausflure rennt. Glaub ihr das ist eine gute Idee?“, mahnte die Spinne.
„Wenn du ihr nicht hilfst, dann holt sie sich in ihrem Hemdchen noch den Tod. So ein schöner, warmer Kaffee hilft ihr bestimmt mehr als Vorträge“, knurrte Peter.

Seufzend machte sich Ludmilla auf und verschwand durch eine Spalte im Automaten. Man hörte leises rumpeln, knacken, quietschen und pfeifen. Dann Stille und die Stimme der Spinne von unten.
„Ich habs.“
„Es passiert nix.“
Unter dem Automat kam etwas hervorgerollt.
„Ich hab eine Münze gefunden.“
„Auch gut.“
Alice hob das staubige, alte Geldstück voller Spinnweben hoch, musste beim Aufstehen einen weiteren Schwindelanfall überwinden, atmete durch und steckte es in den Schlitz, wofür sie mehrere Versuche benötigte.
Ein Becher wurde bereitgestellt und der Apparat begann zu arbeiten.
„Lauter geht’s wohl nich, Drecksmaschine. Und dafür zahlt man noch“, knurrte Peter.

„Da kommt wer“, signalisierte die Katze, die um eine Ecke gelinst hatte. Sie stürmte auf sie zu.
„Wir müssen los.“
„Der Becher ist gleich voll“, sagte Peter, der auf das dampfend fließende, schwarze Gesöff starrte, als könnte er damit den Vorgang beschleunigen.
„Egal, wir müssen weg“, die Katze sauste an ihnen vorbei.
„Noch ein bisschen, noch ein bisschen...“
„Los jetzt! Hierher“, fauchte die Katze, die an der nächsten Ecke stand.
„Ok, schnapp ihn dir.“
Alice packte den Becher und spurtete los, rutschte um die Ecke. Hundschwein und Katze waren schon an der nächsten.
„Weiter.“
Sie kamen in einen weiteren dunklen Raum. Unscharf erkannte sie Möbel. Eine Fahrstuhltür lockte mit blinkenden Lichtern, aber hinter ihnen erklangen Schritte.
„Verstecken, hinter dem Sofadings da.“

Sie kauerte sich so gut sie konnte hinter das Sofa. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass der Kaffee zu heiß war und ließ ihn fallen. Der Inhalt ergoss sich brennend auf ihre Haut, bevor er auf dem Boden verfloss. Sie wollte schreien, aber biss stattdessen in die Pfote der Katze die ihr den Mund zuhalten wollte.
„Leute schritten am Sessel vorbei, die Fahrstuhltür ging auf, etwas wurde herausgeschoben, Stimmen murmelten.
„Ist aus dem dritten Stock gefallen. Brüche, Quetschungen, Schädeltrauma, stab...“

Die Stimmen verschwanden und es wurde wieder leise.

„Danke dafür“, fauchte die Katze und zog ihre Pfote zurück um sie zu mit der Zunge zu behandeln.
„Der schöne Kaffee“, heulte Peter und leckte ihn verzweifelt vom Boden auf.
Alice zog die Luft durch die Zähne ein, zum Glück verging der Schmerz wieder. Und jetzt war sie vorerst wach.
„Zum Fahrstuhl.“
„Nein, keine gute Idee“, nuschelte die Katze.
„Die Treppe können wir besser übersehen.“
„Oder wieder zurück ins Bett.“

Das war Ludmilla.
Katze und Hundschwein starrten sie böse an.
„Red keinen Blech“, Peter trat nach ihr und die Spinne huschte außer Reichweite.
„Komm, wir müssen weg“, die Katze lief vor zur Treppentür.
Alice zog sich ächzend hoch und schleppte sich hinterher. Die Tür war schwer und sie bekam sie nur halb auf, weil Peter und Katze ihr ziehen halfen. Sie quetschte sich in den düsteren Treppengang.
Am Geländer festhalten, einen Schritt auf die Stufe, anderes Bein nachziehen.
Das Linke oder das Rechte? Welches hatte sie zuerst gesetzt? Sie rutschte fast weg und lehnte sich auf das Geländer. Alice schaute nach unten. Wie ein Strudel schien sich die Treppe ins Nichts zu bohren. Meter für Meter, für Kilometer. Lichttage. Lichtjahre.
Sie rutschte ein paar Meter am Geländer entlang, dann fiel sie auf den Hintern und setzte sich erstmal.
„Wir müssen weiter“, ermahnte sie die Katze.
„Eine kleine Pause kann nicht schaden“, keuchte Peter.
„Ach, du fettes Vieh. Wir sind gerade mal vier Stufen weit gekommen.“
„5 mindestens und ich hab eine verstauchte Pfote.“
„Und mich hat sie gebissen. Aber hörst du mich jammern? Weiter.“
Alice zog sich hoch, noch ein paar wackelige Schritte, mit den Hacken über die Treppenränder schleifend, schräg am Geländer festklammernd, bis zur ersten Wende. Dort war auch ein Fenster, das mehr Licht spendete. Wurde es schon Tag?

Peter seufzte, als sie am Fenster ankamen.
„Ach, was würde ich doch jetzt für ein Bier geben. Einen guten Schuss...“
„Fokus. Erstmal hier raus“, das war wieder die Katze.

Alice klammerte sich an das Fenster. Ihr war schlecht, sie brauchte frische Luft. Sie riss am Hebel, aber nichts passierte, ehe das Hundeschwein sie unterstützte. Das Fenster schwang mit Wucht nach hinten, traf sie am Kopf und fegte alle zu Boden.
Keuchend zog sie sich hoch, sie merkte wie ihr der Schweiß von der zitternden, schmerzenden Stirn tropfte, versuchte die frische Luft einzuatmen, gurgelte und übergab sich.

Karamellbrocken tropften langsam gen Boden.
Sie starrte röchelnd auf einen wunderschönen Park voller Büsche und Bäume.
Sie schienen sich verschwommen im Wind zu wiegen.

„Vielleicht.. sieht gar nicht so hoch aus.“
„Naja, die Büsche könnten den Aufprall schon hemmen.“
„Das ist doch verrückt. Gehen wir wieder zurück.“
„Nein, das müssen wir jetzt durchziehen.“
„Ja, komm, das geht schnell und dann...irgendwer nimmt uns schon mit zu..“
„Keine Namen.“
„Wir sind doch unter uns.“
„Leute, das ist ein Fehler.“
„Auf 3. 1.. 2..“




Die Visite füllte fast das gesamte Krankenzimmer aus.

„So, für alle Neuen: Hier haben wir Alice Carroll. Zweiter Suizidversuch. Auch abhängig von Lewis. U.a. Frakturen, Zerrungen, Schädel-Hirn-Trauma. Katatonisch. Hat versucht sich aus dem Fenster im Treppengang zu stürzen. Wenn sie es vorher noch nicht wussten, gleich nochmal: „Don't do drugs, kids“, der Chefarzt schaute mahnend in die Runde.

„Was ist mit ihren Augen?“
„Nebenwirkungen von dem Zeug, sie werden langsam blind. Ist aber nur eine ihrer Sorgen jetzt.“

„Sind das alles Verletzungen von dem Sturz?“

„Fast, Cathlyn. Sie hat noch Bissverletzungen, vermutlich selbst zugefügt und eine Verbrennung. Wie sie das geschafft hat, wissen wir nicht.“

„Was ist das?“

„Hämatome und Kratzspuren dank der Drogen. Das sollten sie aber erkennen Peter.“

„Was wird nun aus ihr?“

„Sie verbleibt jetzt in dem Zustand, da ist nicht viel zu machen, äh.. Ludmilla, nicht wahr? Dank dem ganzen Zeug in ihrem Körper wird das aber nicht mehr sehr lange dauern. Nehmen sie das als Warnung, aber sich auch nicht zu sehr zu Herzen, beides würde sie kaputtmachen. Auf zum nächsten Patienten.“

Drei Jungärzte blieben noch kurz zögernd stehen.
„Tja, Scheißjunkies“, meinte der fette Pete und warf noch ein Schokobonbon ein.
„Cat, kannst du mir nachher noch ein paar Zigarettchen leihen?“
„Leihen, hm? Und noch etwas Benzinchen für das Feuerchen um sie anzuzünden? Manman. Kommst du, Ludi?“

„Gleich“, sagte die angesprochene Frau, fuhr mit ihren schlanken Fingern durch ihr dünnes, langes Haar und schaute auf das unbewegliche, blind nach oben starrende, dürre Mädchen im Bett.

„Tut mir leid“, murmelte sie.
 
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Lisra

Schmusekater
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@Mantis
Quis custodiet ipsos custodes? :eek:
 

Zelon Engelherz

Wachritter des Helm
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Eigentlich war das hier als Kreis gedacht gewesen. Leider scheiterte es am Forenformat :(. Mal sehen ob der Text trotzdem einigermaßen funktioniert.

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Norden: Dunkelheit
Selbstmitleid ist die größte Sünde.

Osten: Viel mehr Dunkelheit
Ich bin so allein.

Süden: Dunkelhausen
Ich hab es mal wieder versaut.

Westen: Unterdunkelstan
gleich neben Isolationsheim
und vor Manupistan
aber hinter Scheißdraufabien
Es tut mir leid.

In der Mitte: Hallo?
 
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Aletheia

Sternlichtgespenst
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Hey du,

du mit dem bewegten Leben und dem überlaufenden Herzen. Du mit dem meilenweit entfernten Blick und dem eingefrorenen Tagesablauf. Du mit der eingespielten Warteroutine und dem Gedankenkarussell. Du mit den brachliegenden Zukunftsplänen und dem Alltag im Leerlauf. Du mit dem Countdown im Kopf und den Tigerkreisen im Parkett.
Hast du dir nicht vor Jahren schon geschworen, dass dein Leben niemals zum Großteil aus Zwischenzeit bestehen soll?

Hör auf zu warten – Zeit vergeht von ganz allein. Geh' und füll' deine Tage mit Leben, und heb' dir das verträumte Starren und das Seufzen und das Tagträumen und die Gedankenspielerei und das Schmetterlingsjagen für die wirklich leeren Momente deines Lebens auf, den öffentlichen Nahverkehr zum Beispiel.

Geh leben.
 
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