Kraven
Lernender
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Dezenter Genre-Shift zum Märchen.
Mir fiel mal eine Postcard-Story von Ilija Trojanow in die Hände, mit dem sehr schönen Titel Buchstaben.
Durch etwas Langeweile und angewandten Creative Writing Methoden entstand diese Geschichte.
Babel
Der Verbannte mit dem unausschreibbaren Namen wanderte. Tagelang, jahrelang lief er durch die Lande, verbissen auf der Suche nach etwas, das er nicht kannte und nicht in Worte fassen konnte.
Jetzt nicht mehr.
Eines Tages erschien ihm ein Engel. „Wanderer“, sprach der Engel, "Ich beobachte dein Umherirren nun seit vielen Jahren. Woher stammt dein Unmut?"
„Das weißt du“, antwortete der Verbannte.
Der Engel nickte und lächelte dabei nachsichtig.
„Sei nicht zornig auf sie. Die Welt braucht Ordnung, verstehst du.“
„Ordnung!" Der Verbannte spie das Wort aus. "Ordnung, dass ich nicht lache! Einschränkungen, Reglementierungen, Verbannung der Kreativität! Und wofür?“
„Oh, das kann man auch als Gegenfrage stellen. Wozu bräuchten sie denn mehr? Sie haben 26 Buchstaben, sie haben Grammatik, haben den Syntax, sie haben die Worte... alles, was es gibt, kann beschrieben werden.“
„Alles vielleicht, das du kennst! Wie billig sind die Menschen, sich damit zufrieden zu geben. Wie viel mehr könnten wir erkennen, erfahren, beschreiben anschließend, hätten wir nur die Möglichkeit dazu. Beschreibe mir Liebe! Beschreibe mir Hass! Beschreibe mir Gott! Gerade du, du, beschreibe mir deinen Herrn!
"Das kann ich nicht“, antwortete der Engel. „Nicht so, dass du es verstehen würdest.“
„Ach“, meinte der Verbannte und hob eine Augenbraue. „Wirklich.“
„Das rechtfertigt nicht dein Handeln. Der Mensch braucht Einschränkungen, er braucht Grenzen.“
„Wer sagt das?“
„Na, wer wohl. Der, der euch erschuf. Gott. Es ist euch einfach nicht bestimmt, alles zu verstehen. Alles zu schauen. Alles zu erreichen. So ist es Gottes Wille.“
„Gott also. Soso.“ Langsam begann der Verbannte, den Sand unter seinen Füßen festzustampfen.
„Was tust du?“, fragte der Engel.
Der Verbannte antwortete nicht, suchte sich einen großen Stein und begann unter Mühe, ihn auf den festgestampften Sand zuzutragen.
„Verbannter, ich frage dich: Was tust du da?“
Der Verbannte setzte den Brocken mit einem Ächzen ab und schaute den Engel grimmig an.
„Ich komm rauf zu euch. Und wenn ich da bin, tret ich deinem Chef in den Arsch.“
Also baute der Verbannte, setzte Stein auf Stein.
„Was tust du da“, fragte eine Stimme hinter ihm. Der Verbannte blickte sich um.
„Wer bist du?“
„Ich bin ein Forscher, in der Verbannung. Sie sagten, meine Ideen seien zu abwegig, nicht realisierbar. Im Gegensatz zu den Naturgesetzen, im Gegensatz zu allem, was Gott uns vorgab. Was tust du da?“
Der Verbannte grinste. „Ich baue einen Turm, um Gott in den Arsch zu treten.“
Der Wissenschaftler dachte kurz nach, dann grinste auch er.
Fortan bauten die Beiden zu zweit weiter, ihre Ideen in stetiger, gegenseitiger Ergänzung, und der Bau schritt schneller voran.
„Was tut ihr da?", fragte eine Stimme hinter ihnen. Sie sahen sich um.
„Wer bist du“, fragten sie.
„Ein Poet, in der Verbannung. Sie sagten, meine Stücke seien zu extrem, seien Unsinn, Schwachsinn, Widersinn, seien gegen jeden Menschenverstand, den Gott uns gab. Was tut ihr da?“
„Wir haben vor, einen Turm zu bauen, um Gott in den Arsch zu treten.“
Der Poet dachte kurz darüber nach, dann grinste auch er.
Ein Jahr verging, und der Engel kehrte zurück.
Er erstarrte vor Schreck, als er die gewaltige Baustelle sah, die sich vor ihm aufgetan hatte, einen riesigen Turm, umgeben von Baugerüsten, auf denen sich die Menschen wie Ameisen tummelten.
„Was tut ihr da?“ schrie er.
„Wir haben vor, Gott in den Arsch zu treten“, schrie ihm ein betrunkener Arbeiter entgegen, der seine Unterhose auf dem Kopf trug und gerade eine erstaunlich lebensechte Rose in eine Steinsäule meißelte.
Sekunden später stand der Engel neben dem Verbannten.
„Das kann nicht dein Ernst sein!“
„Du siehst doch, dass es das ist“, antwortete der Verbannte, während er einen schweren Steinbrocken über eine schmale Seilwinde in Richtung Turmspitze hiefte.
„Aber es kann gar nicht sein,“ rief der Engel. „So viele Steine gab es hier gar nicht!“
„Und doch wurden sie verbaut.“
„Ja, auf Sand! Ihr müsstet einstürzen!“
„Und doch stehen wir beide hier, oder?“
Der Engel atmete tief ein. „Du wirst mit deinem Unternehmen keinen Erfolg haben.“
„Das werden wir sehen“, antwortete der Verbannte und drehte geduldig weiter an der Winde.
Ein Jahr verging, und der Engel kehrte zurück. Der Turm war fast dreimal so groß geworden wie zu Beginn, und statt aus rauem Sandstein bestanden die oberen Etagen nun als glattpoliertem, weißem und grünem Marmor.
„Du verrennst dich da in etwas,“ sagte der Engel. „Was du vorhast, kann unmöglich funktionieren. Nichts kann sich gegen Gott stellen, nichts gegen die Gesetze der Natur.“
„Das sagst du mir, während du mit mir in diesem Turm stehst?“
„Er dürfte nicht sein, und das weißt du!“
„Er dürfte nicht sein, wenn es nach deinen Regeln ginge,“ korrigierte ihn der Verbannte. "Langsam sollte doch selbst zu dir durchgedrungen sein, dass hier andere Regeln am Werk sind."
"Das redet du dir ein", behauptete der Engel. "Und das da, was ist das?"
Er deutete auf eine Maschine, die Luftballons aufpustete, sie mit einer Nadel in einem lauten Knall zerplatzen ließ und die geplatzten Reste einschmolz, um aus ihnen neue Luftballons zu formen.
"Das ist eine Erfindung eines unserer Leute, ich glaube, eines Schriftstellers. Er hat sie beschrieben, und jetzt ist sie da."
"Was tut sie?"
"Sie ist lustig."
"Ja, aber was ist ihr Zweck?"
"Das sagte ich dir gerade. Genau das."
"Wie habt ihr sie gebaut?"
"Wozu sie bauen? Wie gesagt, ein Schriftsteller hat sie beschrieben. Wir wissen, was sie tut, er hat es genau geschildert. Bauen, welch ein Umweg, wo wir sie doch alle sehen können."
Der Engel schluckte. "Du weißt nicht, wovon du redest."
Der Verbannte erwiderte seinen Blick. "Doch, ich glaube, das weiß ich. Jetzt lass uns arbeiten."
Ein Jahr verging, und der Engel kehrte zurück, zu einem Turm, der die Wolken durchstieß, gebaut aus lebenden Bäumen und zarten Rosenranken, in lieblichem Widerstreit mit dem Efeu, der sich ebenfalls einen Teil des Turmes einverleibt hatte.
"Hör auf mit diesem Irrsinn!" schrie der Engel. Seine Haut war so blass geworden, dass sie beinahe durchscheinend wirkte, und dunkle Falten umgaben seine geröteten Augen.
"Wieso denn Irrsinn," fragte der Verbannte. Eine E-Gitarre heulte klagend auf, und neben ihnen brach ein Teil des Turmes weg und stürzte herunter und wurde vom Wolkenmeer verschluckt, während Bambusschößlinge an seiner Stelle wuchsen und unter dem geschickten Lenken eines Pianostückes ein weiteres Geschoss mit vielen Zimmern formten. "Das hier ist kein Irrsinn. Es ist das, was passiert, wenn man seine Ketten abwirft und sich endlich gestattet, zu träumen."
"Wir werden das nicht zulassen," rief der Engel. "Wir werden einen Weg finden, euch zu stoppen."
"Oh, ihr droht schon," spottete der Verbannte. "Also bin ich nah dran, nicht wahr. Bald hab ich ihn."
Der Engel erbleichte noch stärker, und verschwand.
Ein Jahr verging, und der Engel kehrte zurück, erblickte einen Turm aus grüner Jade, aus Seide, aus lebenden Schmetterlingen, aus Honig und rosa Zuckerwatte, der zwei, drei, vier Wolkendecken durchstieß, der den Mond zu einem Umweg zwang und der Sonne mit Prügel drohte.
"Hör endlich auf", schluchzte der Engel. Er war unrasiert, und seine Augen waren blutunterlaufen. "Du kannst das nicht tun. Du kannst hier keine elenden Luftschlösser bauen!"
"Wie nah bin ihm ihm," fragte der Verbannte. Er skizzierte schnell etwas auf einem Schreibblock, und aus der reinen Luft formten sich Brücken, Promenaden und Seen, auf denen sich die Menschen lachend niederließen, die vorher einfach durch die Luft geschwebt waren.
"Wir brauchen nicht mal mehr Flügel", meinte er lächelnd. Dann betrachtete der die Arme des Engels. "Sind das da Nadelstiche?"
"Warum tust du das?", fragte der Engel weinend. "Können wir denn nicht verhandeln? Du... wir könnten uns einigen. Du könntest ihn böse angucken. Oder in seine Richtung spucken."
"Das kann ich auch vom Boden aus", meinte der Verbannte gleichmütig. "Der Speichel kommt nicht ganz so nahe ran, aber die Geste ist die Gleiche."
"Aber... das kannst du nicht tun! Du kannst nicht einfach Gott in den Arsch treten!"
Der Verbannte sah von seinem Block auf und sah ihn an. "Du begreifst es einfach nicht, oder? Ich habe es bereits in dem Moment getan, in dem ich den ersten Stein gesetzt habe."
Der Engel sah ihn mit gebrochenem Blick an, kicherte hilflos. "Dann lässt du mir keine andere Wahl."
Er öffnete seine Tunika, und jetzt, erstmals, war es am Verbannte, zu erblassen, als er den Sprengstoffgürtel erblickte.
"Das ist nicht dein Ernst", murmelte er.
"Oh doch", antwortete der Engel. "Wir werden sehen, was die Geschichte daraus machen wird, aber sei dir sicher: Du wirst hier nicht siegen."
Er hob die zittrige Hand, die den Auslöser hielt. "Willkommen in der Realität."
Dann drückte er den Knopf, und der Turm, getragen von reiner Phantasie, brach brennend in sich zusammen, begrub Träume und Wünsche mit sich, und seine Bruchstücke, zu fein geworden, um einen sichtbaren Einschlag zu hinterlassen, regneten auf die Erde herab.
Ein Jahr verging, und ein anderer Engel kam auf die Erde, zu schauen, dass es gut war. Dabei sah er ein kleines Mädchen, das gedankenverloren in einer Ecke saß und mit einem Stock im Sand malte.
"Was tust du da?" fragte er.
"Ich male eine Geschichte", antwortete das Mädchen.
"Aber schreibt man Geschichten denn nicht eher?"
"An sich schon, aber das macht doch jeder, das ist langweilig."
Der Engel betrachtete das Bild, welches das kleine Mädchen zeichnete.
"Woher hattest du diese Idee?"
Das Mädchen zuckte mit den Achseln.
"Keine Ahnung." Plötzlich grinste es. "Vielleicht fiel sie ja vom Himmel."
Der Engel betrachtete den Turm, den das Mädchen in den Sand zeichnete. "Ja", sagte er. "Gut möglich."
Mir fiel mal eine Postcard-Story von Ilija Trojanow in die Hände, mit dem sehr schönen Titel Buchstaben.
Durch etwas Langeweile und angewandten Creative Writing Methoden entstand diese Geschichte.
Babel
Der Verbannte mit dem unausschreibbaren Namen wanderte. Tagelang, jahrelang lief er durch die Lande, verbissen auf der Suche nach etwas, das er nicht kannte und nicht in Worte fassen konnte.
Jetzt nicht mehr.
Eines Tages erschien ihm ein Engel. „Wanderer“, sprach der Engel, "Ich beobachte dein Umherirren nun seit vielen Jahren. Woher stammt dein Unmut?"
„Das weißt du“, antwortete der Verbannte.
Der Engel nickte und lächelte dabei nachsichtig.
„Sei nicht zornig auf sie. Die Welt braucht Ordnung, verstehst du.“
„Ordnung!" Der Verbannte spie das Wort aus. "Ordnung, dass ich nicht lache! Einschränkungen, Reglementierungen, Verbannung der Kreativität! Und wofür?“
„Oh, das kann man auch als Gegenfrage stellen. Wozu bräuchten sie denn mehr? Sie haben 26 Buchstaben, sie haben Grammatik, haben den Syntax, sie haben die Worte... alles, was es gibt, kann beschrieben werden.“
„Alles vielleicht, das du kennst! Wie billig sind die Menschen, sich damit zufrieden zu geben. Wie viel mehr könnten wir erkennen, erfahren, beschreiben anschließend, hätten wir nur die Möglichkeit dazu. Beschreibe mir Liebe! Beschreibe mir Hass! Beschreibe mir Gott! Gerade du, du, beschreibe mir deinen Herrn!
"Das kann ich nicht“, antwortete der Engel. „Nicht so, dass du es verstehen würdest.“
„Ach“, meinte der Verbannte und hob eine Augenbraue. „Wirklich.“
„Das rechtfertigt nicht dein Handeln. Der Mensch braucht Einschränkungen, er braucht Grenzen.“
„Wer sagt das?“
„Na, wer wohl. Der, der euch erschuf. Gott. Es ist euch einfach nicht bestimmt, alles zu verstehen. Alles zu schauen. Alles zu erreichen. So ist es Gottes Wille.“
„Gott also. Soso.“ Langsam begann der Verbannte, den Sand unter seinen Füßen festzustampfen.
„Was tust du?“, fragte der Engel.
Der Verbannte antwortete nicht, suchte sich einen großen Stein und begann unter Mühe, ihn auf den festgestampften Sand zuzutragen.
„Verbannter, ich frage dich: Was tust du da?“
Der Verbannte setzte den Brocken mit einem Ächzen ab und schaute den Engel grimmig an.
„Ich komm rauf zu euch. Und wenn ich da bin, tret ich deinem Chef in den Arsch.“
Also baute der Verbannte, setzte Stein auf Stein.
„Was tust du da“, fragte eine Stimme hinter ihm. Der Verbannte blickte sich um.
„Wer bist du?“
„Ich bin ein Forscher, in der Verbannung. Sie sagten, meine Ideen seien zu abwegig, nicht realisierbar. Im Gegensatz zu den Naturgesetzen, im Gegensatz zu allem, was Gott uns vorgab. Was tust du da?“
Der Verbannte grinste. „Ich baue einen Turm, um Gott in den Arsch zu treten.“
Der Wissenschaftler dachte kurz nach, dann grinste auch er.
Fortan bauten die Beiden zu zweit weiter, ihre Ideen in stetiger, gegenseitiger Ergänzung, und der Bau schritt schneller voran.
„Was tut ihr da?", fragte eine Stimme hinter ihnen. Sie sahen sich um.
„Wer bist du“, fragten sie.
„Ein Poet, in der Verbannung. Sie sagten, meine Stücke seien zu extrem, seien Unsinn, Schwachsinn, Widersinn, seien gegen jeden Menschenverstand, den Gott uns gab. Was tut ihr da?“
„Wir haben vor, einen Turm zu bauen, um Gott in den Arsch zu treten.“
Der Poet dachte kurz darüber nach, dann grinste auch er.
Ein Jahr verging, und der Engel kehrte zurück.
Er erstarrte vor Schreck, als er die gewaltige Baustelle sah, die sich vor ihm aufgetan hatte, einen riesigen Turm, umgeben von Baugerüsten, auf denen sich die Menschen wie Ameisen tummelten.
„Was tut ihr da?“ schrie er.
„Wir haben vor, Gott in den Arsch zu treten“, schrie ihm ein betrunkener Arbeiter entgegen, der seine Unterhose auf dem Kopf trug und gerade eine erstaunlich lebensechte Rose in eine Steinsäule meißelte.
Sekunden später stand der Engel neben dem Verbannten.
„Das kann nicht dein Ernst sein!“
„Du siehst doch, dass es das ist“, antwortete der Verbannte, während er einen schweren Steinbrocken über eine schmale Seilwinde in Richtung Turmspitze hiefte.
„Aber es kann gar nicht sein,“ rief der Engel. „So viele Steine gab es hier gar nicht!“
„Und doch wurden sie verbaut.“
„Ja, auf Sand! Ihr müsstet einstürzen!“
„Und doch stehen wir beide hier, oder?“
Der Engel atmete tief ein. „Du wirst mit deinem Unternehmen keinen Erfolg haben.“
„Das werden wir sehen“, antwortete der Verbannte und drehte geduldig weiter an der Winde.
Ein Jahr verging, und der Engel kehrte zurück. Der Turm war fast dreimal so groß geworden wie zu Beginn, und statt aus rauem Sandstein bestanden die oberen Etagen nun als glattpoliertem, weißem und grünem Marmor.
„Du verrennst dich da in etwas,“ sagte der Engel. „Was du vorhast, kann unmöglich funktionieren. Nichts kann sich gegen Gott stellen, nichts gegen die Gesetze der Natur.“
„Das sagst du mir, während du mit mir in diesem Turm stehst?“
„Er dürfte nicht sein, und das weißt du!“
„Er dürfte nicht sein, wenn es nach deinen Regeln ginge,“ korrigierte ihn der Verbannte. "Langsam sollte doch selbst zu dir durchgedrungen sein, dass hier andere Regeln am Werk sind."
"Das redet du dir ein", behauptete der Engel. "Und das da, was ist das?"
Er deutete auf eine Maschine, die Luftballons aufpustete, sie mit einer Nadel in einem lauten Knall zerplatzen ließ und die geplatzten Reste einschmolz, um aus ihnen neue Luftballons zu formen.
"Das ist eine Erfindung eines unserer Leute, ich glaube, eines Schriftstellers. Er hat sie beschrieben, und jetzt ist sie da."
"Was tut sie?"
"Sie ist lustig."
"Ja, aber was ist ihr Zweck?"
"Das sagte ich dir gerade. Genau das."
"Wie habt ihr sie gebaut?"
"Wozu sie bauen? Wie gesagt, ein Schriftsteller hat sie beschrieben. Wir wissen, was sie tut, er hat es genau geschildert. Bauen, welch ein Umweg, wo wir sie doch alle sehen können."
Der Engel schluckte. "Du weißt nicht, wovon du redest."
Der Verbannte erwiderte seinen Blick. "Doch, ich glaube, das weiß ich. Jetzt lass uns arbeiten."
Ein Jahr verging, und der Engel kehrte zurück, zu einem Turm, der die Wolken durchstieß, gebaut aus lebenden Bäumen und zarten Rosenranken, in lieblichem Widerstreit mit dem Efeu, der sich ebenfalls einen Teil des Turmes einverleibt hatte.
"Hör auf mit diesem Irrsinn!" schrie der Engel. Seine Haut war so blass geworden, dass sie beinahe durchscheinend wirkte, und dunkle Falten umgaben seine geröteten Augen.
"Wieso denn Irrsinn," fragte der Verbannte. Eine E-Gitarre heulte klagend auf, und neben ihnen brach ein Teil des Turmes weg und stürzte herunter und wurde vom Wolkenmeer verschluckt, während Bambusschößlinge an seiner Stelle wuchsen und unter dem geschickten Lenken eines Pianostückes ein weiteres Geschoss mit vielen Zimmern formten. "Das hier ist kein Irrsinn. Es ist das, was passiert, wenn man seine Ketten abwirft und sich endlich gestattet, zu träumen."
"Wir werden das nicht zulassen," rief der Engel. "Wir werden einen Weg finden, euch zu stoppen."
"Oh, ihr droht schon," spottete der Verbannte. "Also bin ich nah dran, nicht wahr. Bald hab ich ihn."
Der Engel erbleichte noch stärker, und verschwand.
Ein Jahr verging, und der Engel kehrte zurück, erblickte einen Turm aus grüner Jade, aus Seide, aus lebenden Schmetterlingen, aus Honig und rosa Zuckerwatte, der zwei, drei, vier Wolkendecken durchstieß, der den Mond zu einem Umweg zwang und der Sonne mit Prügel drohte.
"Hör endlich auf", schluchzte der Engel. Er war unrasiert, und seine Augen waren blutunterlaufen. "Du kannst das nicht tun. Du kannst hier keine elenden Luftschlösser bauen!"
"Wie nah bin ihm ihm," fragte der Verbannte. Er skizzierte schnell etwas auf einem Schreibblock, und aus der reinen Luft formten sich Brücken, Promenaden und Seen, auf denen sich die Menschen lachend niederließen, die vorher einfach durch die Luft geschwebt waren.
"Wir brauchen nicht mal mehr Flügel", meinte er lächelnd. Dann betrachtete der die Arme des Engels. "Sind das da Nadelstiche?"
"Warum tust du das?", fragte der Engel weinend. "Können wir denn nicht verhandeln? Du... wir könnten uns einigen. Du könntest ihn böse angucken. Oder in seine Richtung spucken."
"Das kann ich auch vom Boden aus", meinte der Verbannte gleichmütig. "Der Speichel kommt nicht ganz so nahe ran, aber die Geste ist die Gleiche."
"Aber... das kannst du nicht tun! Du kannst nicht einfach Gott in den Arsch treten!"
Der Verbannte sah von seinem Block auf und sah ihn an. "Du begreifst es einfach nicht, oder? Ich habe es bereits in dem Moment getan, in dem ich den ersten Stein gesetzt habe."
Der Engel sah ihn mit gebrochenem Blick an, kicherte hilflos. "Dann lässt du mir keine andere Wahl."
Er öffnete seine Tunika, und jetzt, erstmals, war es am Verbannte, zu erblassen, als er den Sprengstoffgürtel erblickte.
"Das ist nicht dein Ernst", murmelte er.
"Oh doch", antwortete der Engel. "Wir werden sehen, was die Geschichte daraus machen wird, aber sei dir sicher: Du wirst hier nicht siegen."
Er hob die zittrige Hand, die den Auslöser hielt. "Willkommen in der Realität."
Dann drückte er den Knopf, und der Turm, getragen von reiner Phantasie, brach brennend in sich zusammen, begrub Träume und Wünsche mit sich, und seine Bruchstücke, zu fein geworden, um einen sichtbaren Einschlag zu hinterlassen, regneten auf die Erde herab.
Ein Jahr verging, und ein anderer Engel kam auf die Erde, zu schauen, dass es gut war. Dabei sah er ein kleines Mädchen, das gedankenverloren in einer Ecke saß und mit einem Stock im Sand malte.
"Was tust du da?" fragte er.
"Ich male eine Geschichte", antwortete das Mädchen.
"Aber schreibt man Geschichten denn nicht eher?"
"An sich schon, aber das macht doch jeder, das ist langweilig."
Der Engel betrachtete das Bild, welches das kleine Mädchen zeichnete.
"Woher hattest du diese Idee?"
Das Mädchen zuckte mit den Achseln.
"Keine Ahnung." Plötzlich grinste es. "Vielleicht fiel sie ja vom Himmel."
Der Engel betrachtete den Turm, den das Mädchen in den Sand zeichnete. "Ja", sagte er. "Gut möglich."