"Quicksilver" von Neal Stephenson
Dieses Topic hat erst eine Seite?
Und war auf die allerhintersten Bänke des Forums verrutscht? Was ist mit Euch, Ihr Leser und Leserinnen der Heiligen Hallen der Weisheit und des Wissens - wie wollt Ihr wissen, wenn Ihr nicht lest?
Okay, ich muß es jetzt hervorholen und, wie der Zufall so will, wegen desselben Autoren wie in meinem letzten Post hier: Neal Stephenson. Er hat gerade die langjähre Nummer 1 meiner Top-Autorenliste, nämlich Franz Kafka, abgelöst. Und dies, obwohl er doch auf Englisch schreibt und mich also sprachstilistisch schon mal gar nicht betören kann. Umso schwerer wiegt eben, was er schreibt.
Es geht um das Buch "Quicksilver". Warum man es in der deutschen Übersetzung nicht mit "Quecksilber" genannt hat, ist eine jener Fragen, die wohl nie eine vernünftige Antwort finden werden, aber egal. Quicksilver ist der erste Band einer Trilogie, deren zweiter und dritter Band bislang noch nicht übersetzt vorliegen. Ein Skandal, eine Dreistigkeit sondergleichen, denn sie sind schon vor über einem Jahr auf Englisch erschienen und das sollte doch eigentlich genügen zum Übersetzen, schließlich war die Trilogie lang genug vorher angekündigt worden und Sthephenson ist nach "Snowcrah" und "Diamond Age" ja kein unbekannter Schreiberling, bei dem man noch überprüfen müßte, ob sich die Übersetzungskosten überhaupt lohnen...
Aber schon dieser erste Band hat es in sich: Über 1100 Seiten ist er lang, und die sind nicht mit belanglosem Zeugs vollgestopft wie manche Fantasyschwarte.
Worum geht's.
Es handelt sich um einen Roman, der im Barock-Zeitalter spielt. Einer Zeit, die meiner Meinung nach etwas vernachlässigt wird in der Literatur und auch im Film, wahrscheinlich, weil sie so verdammt komplex und schwierig zu verstehen war, weil sie nicht mit ein paar Stereotypen wie z.B. das Mittelalter beschreibbar ist. Mir fällt kein wirklich spannender Roman über diese Zeit ein, wenn man mal absieht von "Gefährliche Liebschaften" oder den "Drei Musketieren". Höchstens der "Simplicissimus" von Grimmelshausen, aber nun ja, der ist schon arg alt... Und so mußte also ein Amerikaner herkommen, um diese Epoche literarisch zu beleben.
Die zwei Hauptprotagonisten des Romans sind Daniel Waterhouse und Jack Shaftoe. Leuten, die das "Cryptonomicon" gelesen haben, dürften diese Namen vertraut sein. Vielleicht handelt es sich ja um Vorfahren der Waterhouses und Shaftoes der Neuzeit? Eine dritte Hauptfigur ist Eliza, später zur Gräfin de la Zeur geadelt. Eine im übertragenen Sinne bärenstarke Frauenfigur, wie sie mir bislang selten in Büchern untergekommen ist.
Daniel Waterhouse enstammt einer wohlhabenden Puritanerfamile in London, sein Vater war ein weitbekannter Prediger, der wegen seiner Religion ziemlich deftig bestraft wurde (Nase und Ohren wurden ihm abgeschnitten, was er aber recht gut überstand). Daniel wird Mitglied der Royal Society, der ersten Vereinigung von Naturwissenschaftlern (die sich damals "experimentelle Naturphilosophen" nannten). Ausserdem ist er ein enger Freund Isaac Newtons, mit dem er sich eine "Studentenbude" teilt.
Jack Shaftoe ist der König der Vagabunden. Er enstammt einer bettelarmen Londoner Unterschichtsfamilie und wird also ins Stehlen und Betteln hineingeboren. Die häufigen Hinrichtungen sind für ihn und seinen Bruder Bob eine lukrative Einnahmequelle, denn sie verdienen sich schon früh ein gutes Zugeld, indem sie sich an die Beine von Gehenkten hängen, um so deren Tod zu beschleunigen - zumindest in den Fällen, wo die zum Tode Verurteilten oder deren Angehörige vorher etwas für diese Dienstleistung zahlten...
Beide, Daniel Waterhouse und Jack Shaftoe kommen in ihrem Leben weit in Europa herum und lernen
tout le monde kennen. Jack, als König der Vagabunden, hat freilich einen noch höheren Bewegungsradius als Daniel. So heuert er in seiner Jugend bei Piraten an und macht einen Abstecher in die Südsee, kommt aber später nach Deutschland, wo er für einen Kurfürsten in dessen Armee dient, welche eigentlich nur Scheinbelagerungen ausführt, weil der Kurfürst das Kriegsspielen (im wahrsten Sinne des Wortes) so liebt. Während die Pest in Europa umgeht und auch in Paris haust, verschlägt ihn just dieser Grund dorthin: Schließlich verlassen alle reichen Pariser ihre Häuser... Später sorgt sein wenig legaler Lebenswandel dafür, daß er aus Paris fliehen muß - und so findet er sich wenig später als Sölner in einer polnischen Armee wieder, die den Wienern zu Hilfe eilt: immerhin wird diese Stadt gerade von den Türken belagert... Jack hat wenig Lust zu kämpfen, er möchte eigentlich nur Beute machen, und so trifft er, nachdem die Türken schon in heilloser Flucht befindlich sind, auf eine Haremsdame: Eliza. Details werden nicht verraten, aber allein dieser Abschnitt ist absolut kurios und ebenso witzig wie spannend.
Wenig später befinden sich Jack und Eliza schon im Harz, wo sie irgendwie an Wilhelm Leibniz geraten. Und Jack platzt natürlich noch in eine echte Walpurgisnacht auf dem Brocken...
Genug von Jack, obwohl er noch ein gutes Stück weiter herumkommt...
Daniel Waterhouse ist ein Wissenschaftler-Typ. Eher langweilig und halt puritanisch, ein kleiner Schißhase auch, der ungern irgendwo anecken möchte, was in einer Zeit, wo in Cambridge Ehrenzwistigkeiten unter Studenten gern mit dem Säbel ausgefochten wurden, nicht so ganz einfach ist. Daniel ist ein "Mann der zweiten Reihe", was daran liegt, daß er früh an Isaac Newton gerät und dessen Genialität schnell erkennt. Also unterstützt er diesen seinen Freund lieber, statt sich selbst zu profilieren. Dennoch reichen seine Leistungen, um ihn in den erlauchten Kreis der Royal Society zu bringen. Einem Zirkel von Naturwissenschaftlern in einer Zeit, wo Experimente noch eher etwas für Gelehrte eigentlich Unwürdiges waren und man sich am liebsten mit Archimedes oder Aristoteles beschäftigte. Die Royal Society ist anders: Da werden Hunde seziert und Käfer, da werden Sterne beobachtet und Wasserwagen erfunden. Kristalle gezüchtet und Prismen geschliffen, die ersten Mikroskope eingesetzt und eine "philosophische Universalsprache" entwickelt (letzteres endet natürlich in einem kompletten Reinfall). Ausserdem werden haufenweise pyrotechnische Experimente gemacht und man widmet sich der Alchemie...
Aufgrund seiner puritanischen Herkunft sitzt Daniel Waterhouse immer ein bißchen zwischen allen Stühlen, was aber auch seine Vorteile hat, weil man ihn deswegen häufig als potentiellen Vermittler sieht. So wird er schließlich zum "Höfling".
Ebenso wie Eliza, welche es inzwischen mit Jack Shaftoe zusammen nach Amsterdam verschlagen hat, und die dort ihr Händchen für den Börsenhandel entdeckt. Denn Amsterdam war ja die Wallstreet der barocken Welt, hier wohnten all die Juden, die sich in den nagelneuen Papiergeld-Transaktionen am besten auskannten, hier landeten all die Waren aus den Schiffen der Ostindischen Handelskompanie, hier wurde auf Tuche und Tulpen, Blei (wichtig für Kriegsführung) und Gerste (als Pferdefutter ebenfalls wichtig für den Krieg) gewettet. Eliza schafft es mit Köpfchen und sicherlich auch ihrem guten Aussehen, an Geld zu kommen und somit näher an die adeligen Kreise zu rutschen. Kurze Zeit später findet sie sich als eine Art Agentin in Versailles wieder, wo sie für verschiedene Leute, unter anderem für Wilhelm von Oranien, spioniert, während sie gleichzeitig den Adeligen am Hofe des Sonnenkönigs durch ihre Kenntnisse des Aktienmarktes hilft, die teure doppelte Haushaltsführung (Paris
und Versailles) zu finanzieren.
Mehr Details würden Euch jetzt wohl nur ermüden, aber seid gewiß: ich habe nicht mal an der Oberfläche dessen gekratzt, was Euch in diesem Buch erwartet. Dutzende imposanter Figuren treten darin auf und erst ein Blick in das Namensregister am Ende macht deutlich, welche dieser Figuren nun tatsächlich real existierten und welche sich Stephenson ausgedacht hat.
Was mich an dem Buch so fasziniert hat, ist der Umstand, daß ich in eine fantastische Welt entführt werde, die eben nicht in irgendeinem Parallel-Universum existiert, sondern die hier, in Europa existierte. In eine Zeit, die soooo lange noch gar nicht her ist, und die so prall voll mit Ereignissen und Umbrüchen war, wie man es sich kaum vorstellen kann: hier entstand die Neuzeit, das Bürgertum, die Gedankenfreiheit, der Insiderhandel, die Präzisionsuhr, das binäre System... Was ich bewundere, ist er Rechercheaufwand, der für dieses Buch betrieben werden mußte. Daten und Fakten prasseln auf jeder Seite nur so auf einen ein. Anfangs ist das wirklich etwas anstrengend zu lesen, bei all den Personen- und Ortsnamen schwirrt einem schier der Kopf. Und Stephenson macht es einem auch nicht gerade komfortabel leicht, sich gemütlich reinzulesen. Denn er sprint in den Zeitebenen hin und her, daß einem schwindelig wird: Die Erzählung beging 1713 in Boston (Amerika), um kurz danach in die 1660er Jahre vom Cambridge zurückzuspringen. Auch wird zwischen den verschiedensten Textsorten abgewechselt: Mal hat man es mit einem Theaterdrama zu tun, dann liest man das Protokoll einer Zusammenkunft der Royal Society, hernach wieder folgen lange Briefpassagen. Jedes Kapitel wird von Originalzitaten eingeleitet, die nur entfernt mit dem jeweiligen Inhalt zu tun haben. Während das im ersten Drittel des Buches etwas nervend ist, weil man sich erstmal daran gewöhnen muß, fand ich es am Ende einfach nur noch geil. So bleibt die Geschichte immer überraschend und man freut sich über die intelligente Art und Weise, wie man selbst gerade verschaukelt und geneckt wird. Denn eines wiederkehrenden Erzähltricks darf man sich sicher sein: daß immer dann, wenn's gerade richtig spannend wird, zu einem anderen Schauplatz umgeschaltet wird.
Natürlich machen all die Vor- und Rückblenden später einen Sinn, wenn sich nämlich die Geschichte dann sozusagen in schon bekannte Gebiete bewegt und man sowas wie einen Zuhause-Effekt erlebt.
Dennoch: Wie anhand mancher amazon-Rezension zu erkennen, ist dieser Erzählstil nicht nach jedermanns Geschmack. Ein Rezensent hörte schon nach nicht einmal dreihundert Seiten zu lesen auf, weil er die Geschichte langweilig fand. Nun ja, wenn man bedenkt, daß alle drei Bände der Trilogie auf mehr als 3000 Seiten kommen, dann sollte einem eigentlich klar sein, daß man nach einem Zehntel dieses Volumens so gerade mal die "Einführung" hinter sich gebracht hat. Bis Leibniz, eine der wichtigsten Nebenfiguren des Buches, zum ersten Mal persönlich auftritt, sind wir schon auf Seite 320!
Dieses Buch ist also keines für Nebenbeileser oder für Leute, die sich nicht anstrengen mögen beim Lesen. Sthephenson begeht nicht den Kardinalfehler der meisten Autoren, nämlich den Leser zu unterfordern. Die Geschichten, die erzählt werden, sind nicht simpel, es gibt keine Guten und Bösen - denn immerhin hält er sich weitgehend an die historischen Fakten, wenngleich er die mit einer unbändigen Fabulierkunst natürlich ausschmückt und bereichert. Es kommt viel Politik vor in diesem Roman und viel Wissenschaft. Auch die Cryptologie kommt vor, insbesondere in Bezug auf das I-Ging und Kreuzstich-Stickereien...
Es kommen sehr brutale Szenen vor und ab und an wird an der Ekelschwelle gekratzt.
Aber dadurch wird das Buch andererseits auch so authentisch und lebendig: Nichts wird ausgeblendet, weder die prunkvollen Feste am Königshof, noch das elende Sterben an der Beulenpest.
Vor allem aber lernt man so gewaltig viel über diesen unseren Kontinent, lernt auch, warum Europa irgendwie zusammengehört, wie Europa die Moderne gebiert... Eigentlich gehört Sthephenson der Karlspreis verliehen!