Catch the Beat - Eine Geschichte aus dem Cthulhu-Mythos

Ascalon

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Ascalon wandelt auf H.P. Lovecrafts Spuren... viel Spaß dabei!

Catch the Beat

Am ersten Tag des neuen Jahres hielt eine Polizeistreife auf der Rheinbrücke zwischen Homberg und Rheinhausen um vier Uhr morgens eine junge Frau an. Die offenbar schwer angetrunkene und nur unzulänglich bekleidete Frau wies an Händen und Armen Verbrennungen dritten Grades auf, war augenscheinlich nicht Herrin ihrer Sinne und stammelte zusammenhangslose Phrasen vor sich hin. Für die Polizisten war es ein leichtes, zwischen ihr und dem Brand der Diskothek in der Innenstadt einen Zusammenhang herzustellen, wenn auch den falschen. Der Notarzt wurde gerufen und die junge Frau wurde ins Krankenhaus gebracht, wo sie, nachdem ihre Brandwunden behandelt wurden und das Anästhetikum nachließ, im Laufe des Vormittags in nahezu unmenschliches Kreischen ausbrach und flehte, die Ärzte sollten doch die Musik abstellen. Die Eröffnung des behandelnden Arztes, es sei kein Radio und keine Musikanlage eingeschaltet, führten bei der Patientin zu einem Nervenzusammenbruch und als sie nach einigen Tagen relativ stabil wirkte, wurde sie zur Überwachung in das St. Nikolaus Hospital in Rheinberg überführt. Diese junge Frau war ich.

1.

Die Rechtsprechung in diesem Land kann niemals so gerecht sein wie das Universum – wäre sie es, dann würde ich jetzt nicht hier sitzen, in einem vergleichsweise bequemen Krankenzimmer, und darauf warten, dass meine offenen Wunden zu einer topographischen Karte meiner Taten vernarben, sondern säße in der Zelle eines Gefängnisses, die ich mein Leben lang nicht mehr verlassen würde. Nicht der Mangel an Beweisen war es, der Ärzte und Polizei gleichermaßen von meiner Unschuld überzeugte. Vielmehr mag es so sein, dass meine jämmerliche Erscheinung an die niedrigsten Instinkte in den Polizisten und Ärzten appellierte, die ihre kleine Welt nicht erschüttert sehen wollten. In dieser Welt sind junge, blonde, hübsche Frauen wie ich Opfer und nicht Täter. Für die Presse steht der Tathergang fest: Gegen zwei Uhr morgens verlor ein versetzter Liebhaber die Nerven und warf einen Brandsatz, den er an den überforderten und unachtsamen Türstehern vorbei schmuggelte, in die tanzende Menge der Diskothek, um seine Freundin und alle glücklichen Menschen der Welt gleichzeitig zu bestrafen. Die Flasche mit Benzin zerbrach und die brennende Flüssigkeit floss zwischen die Tanzenden, hüllte die feiernde Masse in ein Flammenmeer und kostete 25 Menschen auf der Stelle das Leben. Auf der Tanzfläche brach Panik aus und das Feuer griff auf die Einrichtung des Clubs über, dessen Brandschutzmaßnahmen, wie sich in diesem Moment zeigte, aufs äußerste unzureichend waren. Nach dem Mann wird noch gefahndet, einzelne Hinweise und Zeugenaussagen helfen bislang nicht weiter. In meinen wachen Momenten frage ich mich, ob eines Tages die Polizei durch eine Aussage auf die richtige, auf meine Spur gelenkt wird. Einen Unterschied machen wird es nicht, für mich ist jetzt nur wichtig, meinen Plan zu verfolgen – der Plan, der heute das Zentrum meines Lebens bildet und der mir vor einem halben Jahr nicht einmal in den Sinn gekommen wäre.

Tatsächlich empfand ich im Frühsommer das erste Mal das Gefühl, es würde eine Art kosmische Gerechtigkeit geben. Ich hatte gerade meine langjährige Beziehung beendet, da Marc, wie ich in dieser Zeit heraus fand, unter dem Begriff Treue etwas anderes verstand als ich. Seine Liebe zu mir äußerte sich nur noch durch spärliche Lippenbekenntnisse, und die Zeit, die er vorgab, mit seinen Freunden auf Spieleabenden und Conventions zu verbringen, wurde eher zu Spielen in den Betten anderer Frauen verbracht als mit Würfeln und Karten. Nachdem ich ihn zur Rede gestellt und nach einer Woche zwischen Diskussionen, Weinkrämpfen und fast stündlichen Nachrichten auf meinem Handy, die von seiner tiefen Liebe zu mir zeugten, fast bereit war, ihm zu vergeben, überzeugte mich ein kurzer Anruf bei seinem besten Freund, dass auch der an diesem Tag vorgeschobene Spieleabend nichts weiter als eine Farce war. Am nächsten Tag setzte ich ihn vor die Tür und fand mich allein in der Wohnung, die wir die letzten beiden Jahre gemeinsam bewohnt hatten. Auf sein Klingeln und die Anrufe reagierte ich nicht sondern strich langsam und mit Tränen in den Augen durch die Zimmer, betrachtete die Regale, die vollgestopft waren mit seinem Kram. Marc ist ein ausgemachter Fantasy- und Horrorfan und es war nicht schwer, seine Seite des Zimmers von meiner zu unterscheiden. Ich fuhr mit dem Finger über die Bücherrücken der zahllosen Romane von Stephen King, Clive Barker, J.R.R. Tolkien, Wolfgang Hohlbein und all den anderen und blieb vor dem Regalfach stehen, das Marc seinem persönlichen Liebling H.P. Lovecraft gewidmet hatte. Er hatte monatelang versucht, mir die Geschichten über kosmische Schrecken näher zu bringen und ich hatte mich ernsthaft bemüht, dem konfusen Geschreibsel einen Hauch von Grusel und Horror zu entnehmen – allein, guter Wille reicht nicht aus. Ich lehnte den Kopf an das Regal und schaute auf die schwarze Statue, Marcs ganzer Stolz. Sie zeigte, hatte er mir erklärt, Cthulhu, eine Replik einer Statuette aus der Geschichte „Der Ruf des Cthulhu“, aus schwarz lackiertem Ton. Cthulhu saß auf einem Steinblock, seine Klauen über den Rand des Blockes gelegt, die Schwingen an den Körper gefaltet. Kleine Schweinsäuglein funkelten böse aus dem tentakelbewehrten Gesicht – trotz meines Kummers musste ich grinsen, aus Mitleid über eine Person, die ihre kreativen Energien auf so einen Schwachsinn konzentriert. Ohne nachzudenken gab ich der Figur einen Stoß und sie fiel aus dem Regal, um scheppernd auf dem Laminat zu zerschellen.


Als Marc in den darauf folgenden Tagen seine Sachen packte und mit seinen Freunden aus der Wohnung schaffte ließ ich mich so wenig wie möglich blicken. Ich hatte die zerschellte Figur auf dem Boden liegen gelassen und mich in mein Arbeitszimmer eingeschlossen. Ich wollte keinen von ihnen sehen. Sie gaben sich alle Mühe, leise zu sein, mehr als ein paar gemurmelte Worte und ab und zu ein leises Schaben hörte ich nicht von ihren Anstrengungen, so sehr ich zwischendurch auch lauschte. Mit einer grimmigen Befriedigung stelle ich am Abend des ersten Tages fest, dass die Scherben der Cthulhu-Figur verschwunden waren. Marc hatte sie sorgfältig aufgesammelt um sie wohl reparieren zu lassen. Selbst als wir in den beiden darauf folgenden Tagen uns noch ein, zwei mal sahen, erwähnte er die Figur mit keinem Wort, sondern starrte mich nur waidwund an. Ich verschloss mich dem Mitleid gegenüber.

Am dritten und letzten Tage des Auszuges las ich die Neuigkeiten auf der Website meiner Universität, die in mir eine diebische Freude entstehen ließen. Ich hatte mich drei Tage lang darauf beschränkt, gedemütigt und verletzt zu sein, nun war es an der Zeit, zurück zu schlagen. Als Marc und seine Freunde die letzten Kisten in den gemieteten Transporter geschleppt hatten, verließ ich mein Arbeitszimmer und rief ihn an der Wohnungstür zu mir zurück. Er kam sofort.
„Die Schlüssel“, sagte ich knapp. Ich lehnte mich in den Türrahmen und sah zu, wie er an seinem Schlüsselbund nästelte. Dann nahm ich die Schlüssel für die Haustür, die Wohnung und den Keller an mich, überprüfte sie akribisch und nickte. Marc bleib auf dem Treppenabsatz stehen und sah zu mir herauf.
„War's das jetzt?“ fragte ich ihn, ebenso knapp wie vorher und verschränkte die Arme vor der Brust. Er nickte. „Gut.“
Wir schwiegen eine Weile, ich konnte in seinem Gesicht sehen, dass er fieberhaft nach Worten suchte, irgendetwas, das er mir sagen könnte. Ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Du wirst meine Nummer aus deinem Handy löschen“, sagte ich. „Meine E-Mail-Adresse, meine ICQ-Nummer und alles andere. Ich will nichts mehr von dir hören oder sehen. Wenn irgendwas ist, dann kannst du ja einen deiner Freunde drauf ansetzen.“ Ich konzentrierte mich darauf, meiner Stimme einen harten Klang zu geben, um den Kloß in meinem Hals zu überspielen. „Wenn was ist, wissen die ja, wie ich erreichbar bin. Aber nicht morgen Abend, da bin ich in der Uni.“ meinen letzten Satz kostete ich genüsslich aus. „Die Geschichtsfakultät hat einen Gastdozenten der Miskatonic-University da. Zutritt nur für Studenten. Ich glaube, das werde ich mir anschauen.“ Und vor seinem verdatterten Gesicht warf ich die Tür zu.

Die Miskatonic-Universität ist keine besonders große oder gar wichtige Universität, trotz ihres Rufes. Der große Teil ihrer Bekanntheit ist dem Fakt geschuldet, dass Lovecraft viele seiner Geschichten in der Universität und der Kleinstadt Arkham um den Campus herum spielen ließ, ähnlich wie Stephen King einen Großteil seiner Geschichten in Maine ansiedelte. Marc hatte mir ein paar der Geschichten zu lesen gegeben, in denen die Universität eine Rolle spielte. Ich hatte keine große Freude daran. Über Marc wusste ich jedoch, dass die Universität mit ihrem Ruf gerne hausiert und einen Haufen Merchandise feil bietet – Professoren der Anthropologischen Abteilung verfassen populärwissenschaftliche Monographien über die Schriften Lovecrafts, das inoffizielle Wappentier der Universität ist Cthulhu und College Sweatshirts mit dem Miskatonic-Aufdruck sind unter Horrorfans heiß begehrt. Ich konnte mir seinen Ärger also gut vorstellen, nicht zu dieser Veranstaltung gehen zu können.

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, lehnte ich noch ein paar Sekunden mit der Stirn an dem kühlen Holz und atmete tief durch. Nun war er weg. Die Wohnung war geleert. Ich starrte die nackte Wand an, an der Marcs Regal gestanden hatte, und langsam sickerte in meinen Kopf, dass er nun wirklich weg sei. In dieser Nacht weinte ich mich in den Schlaf und dieses mal waren meine Tränen nicht hysterisch oder zornig, sondern todtraurig und jämmerlich. Trotz allem hatte ich ihn geliebt.



2.

Eigentlich hatte ich gar nicht vor gehabt, wirklich zu diesem Vortrag zu gehen. Um ehrlich zu sein, am nächstem Tag hatte ich den Vortrag schon wieder vergessen. Ich erinnere mich bis heute nicht mal mehr an das Thema, irgendein amerikanisches Problem, das nur anglophile Historiker wirklich interessieren würde. Ich hatte nur behauptet, dort zu sein, um Marc zu verletzen. Aber der Tag nach seinem endgültigem Auszug war die Hölle. Es machte mich krank, an die leeren Wände zu starren und zum hundertsten Mal durch die Zimmer zu gehen, neugierig in alle Ecken schauend, ob er nicht irgendetwas vergessen hätte. Mir fiel, wie man so sagt, die Decke auf den Kopf. Nachdem ich mich dazu aufgerafft hatte, die Wohnung wenigstens für einen kurzen Spaziergang zu verlassen, machte ich mich schick. Eigentlich wollte ich nur rasch unter die Dusche und dann mit etwas Make-Up meine verheulten und verquollenen Augen kaschieren, doch nachdem ich Concealer und Lidschatten aufgetragen hatte und in den Spiegel blickte, steig eine Art verzweifeltes Trotzgefühl in mir auf. Wer war ich, dass ich mich heulend zurück zog, weil irgendein Kerl meine Qualitäten nicht erkannte? Ich war 21, ich war hübsch und intelligent. Und das wollte ich der Welt zeigen. Nach und nach trug ich Make-up, Eyeliner, Rouge und Lippenstift auf und verwendete die gleiche Sorgfalt darauf, mich heraus zu putzen, als ginge es in die Disco oder auf einen Ballabend. Zu der warmen Jahreszeit passend wählte ich einen kurzen Rock mit auffallendem Gürtel, ein helles, enges Top und meine Lieblingssandalen mit den hohen Absätzen. Als ich mich im Spiegel betrachtete war ich zufrieden. In einem Viertel mit geringerem Wohnwert wäre ich wohl auf meinem Weg durch die Straßen vor aufdringlichen Angeboten kaum sicher gewesen, aber die Straßen um die Universität sind größtenteils frei von zwielichtigen Gestalten. So genoss ich die Blicke, die mir hinterher geworfen wurden, belohnte die anerkennenden mit einem koketten Lächeln und strafte die missbilligenden mit kalter Ignoranz.

Ich hatte nicht auf den Weg geachtet und meine Füße hatten automatisch den Weg eingeschlagen, den ich immer zu meinen Vorlesungen an der Universität nahm. Am späten Nachmittag war der Campus normalerweise nicht mehr so gut besucht, doch heute war die Wiese vor dem Audimax belagert von Studenten. Ich ließ meinen Blick über die Menge streifen und erinnerte mich an den Vortrag des Gastdozenten. Die meisten der Anwesenden trugen T-Shirts, die in irgendeiner Weise mit dem Horrorgenre liebäugelten – Fanshirts von Heavy-Metal-Bands oder ikonischen Filmmonstern sowie eine beträchtliche Anzahl von lustig gemeinten „Cthulhu rules!“-Aufdrucken erweckten nicht den Anschein, als sei der Großteil der Anwesenden sonderlich interessiert am Thema des Vortrages. Alle saßen oder standen in Grüppchen zusammen, ich hörte Gesprächsfetzen, die sich um Regelfragen von irgendwelchen Rollenspielen drehten, die Marc so sehr liebte. Einige lagen auf einer Decke im Gras, blätterten in Büchern wie „Schatten über Innsmouth“ oder „Der Fall Charles Dexter Ward“, markierten einzelne Stellen mit einem Textmarker oder machen sich Notizen. Neuankömmlige wurden mit Geschrei begrüßt und alle Minuten brüllte irgendjemand „Cthulhu fhtagn!“, was die Umstehenden mit lautem Beifall bedachten. Es war, als würden die Besucher des Vortrages keiner wissenschaftlichen Veranstaltung, sondern einem Rockkonzert beiwohnen. Ich fühlte mich ungeheuer fehl am Platz, nicht zuletzt, da meine Erscheinung neben den Horror-Fans wirkte wie aus einer anderen Welt.



Gerade wollte ich mich resigniert auf den Weg zur Cafeteria machen als die Tür zum Audimax geöffnet wurde und drei Studenten in den violetten Shirts der Miskatonic-University nach vorne traten. Zwei von ihnen trugen einen Tisch, der dritte einen großen Karton. Den Tisch bauten sie vor dem Eingang auf und begannen, T-Shirts, Sweater und andere Devotionalien mit den Insignien der Universität aufzubauen. Langsam kam Bewegung in die Masse der Studenten, die den Rasen bevölkert hatten und binnen weniger Minuten umzingelten sie den Verkaufsstand. Die Neugier hatte mich nun doch gepackt und ich besah mir das Angebot an Kleidung, Wimpeln, Aufnähern, Stickern und Postern aus der Nähe. Die Preise waren übertrieben hoch – mehr als das doppelte, was man für derartige Artikel normalerweise bezahlt. Und die Fans rissen sich darum. Binnen der halben Stunde, in der ich fasziniert zuschaute, war, wie ich schätze, Geld im vierstelligen Bereich über die improvisierte Ladentheke geflossen. Als ich, halb entsetzt, halb mitleidig, der Menge hinterher schaute, die lauthals jubelnd und debattierend ihre Errungenschaften verglich und zurück auf die Wiese zog, bemerkte ich, wie die drei Studenten mich ansahen und leise tuschelnd grinsten. Ich beeilte mich, meine überhebliche, unberührte Mine wieder aufzusetzen und wandte mich zum Gehen, als einer der drei mich zu ihnen herüber rief. Eigentlich war mir nicht nach einem Gespräch, aber seine Stimme war angenehm voll und mit einem gewissen, amüsierten Unterton, der eine Saite in mir zum Klingen brachte. Oder war es vielleicht nur der gar nicht so unangenehme amerikanische Akzent?
„Kein Interesse an einem Aufkleber? Halber Preis für dich, sind die letzten“, sagte er und hielt mir zwei bierdeckelgroße Aufkleber mit dem Zeichen der MU hin. Ich schüttelte den Kopf und sagte, dass die Universität nicht sonderlich interessierte. Er lachte.
„Kein Fan von Lovecraft?“ grinste er mich entwaffnend an. „Cthulhu? Große, böse Wesen mit Tentakeln?“ Er schnitt eine Grimasse und ahmte ein großes, watschelndes Monster nach, so dass ich unwillkürlich lachen musste.
„Nein“, sagte ich. „Kann damit nichts anfangen.“
„Ist wohl besser so“, sagte er und verstaute die Aufkleber in einer Tasche. „Keine Geschichten für Mädchen.“
Wenn er glaubte, mich damit provozieren zu können, lag er bei mir falsch. Ich trat einen Schritt näher und stütze mich auf dem Tisch auf, wohl wissend, dass das weit ausgeschnittene Top und die vorgebeugte Körperhaltung seine Augen unweigerlich auf die mittleren Regionen meines Körpers ziehen würden.
„Bin ich etwa ein Mädchen in deinen Augen?“ fragte ich schelmisch und fixierte seinen Blick.
Heute weiß ich selbst nicht, was mich damals zu dieser Tat bewog. War es der Frust darüber, dass mein Freund mich mehrfach betrogen hatte und ich mir selbst beweisen musste, attraktiv genug für die Männer zu sein? Oder fand ich den Amerikaner vor mir doch anziehender, als ich mir eingestehen wollte? Jedenfalls verfehlte der Ausblick, den ich ihm bot, seine Wirkung nicht und mein Gegenüber bekam knallrote Ohren.
„Sorry, das war doch so nicht gemeint, ich wollte...“ Ich ließ ihn noch eine Weile stottern, bevor ich ihn mit einem offenen Lächeln den Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Situation wies.
„War doch nur Spaß“, sagte ich und stellte mich wieder aufrecht. „Aber ich mag diesen Horror-Kram einfach nicht.“ Jetzt lachte er.
„Ich auch nicht.“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich bin hier als Assistent von Dr. Farrow.“ Er hielt mir die Hand hin. „Henry.“ Ich ergriff seine Hand und schüttelte sie.
Während seine beiden Begleiter den Tisch und die Kasse wieder in das Gebäude trugen plauderten Henry und ich eine Weile und rauchten eine Zigarette zusammen. Worüber wir redeten, weiß ich nicht mehr, es waren Oberflächlichkeiten und Floskeln. Allerdings war er charmant genug, dass ich mich von ihm auf einen Kaffee in die Cafeteria einladen ließ.

3.

Der Vortrag des Professors war ein ebenso großes Desaster, wie ich erwartet hatte. Drei Stunden saß ich mit einem Haufen Horror-Freunden im Audimax, und weder sie noch ich hatten irgendein Interesse an den Themen, über die Dr. Farrow referierte. In der ersten Reihe saß eine Handvoll Studierender, die sich Notizen machte, der Rest des Publikums benahm sich unmöglich, warf mit Papierkügelchen, lachte und brach bei jedem Wort des Dozenten, das man in irgendeiner Weise auf den Cthulhu-Mythos münzen konnte, in lauten Jubel aus. Ich weiß selber nicht genau, was mich bewog, der Veranstaltung beizuwohnen – weder hatte ich Interesse an den Fakten noch an dem Kult um die MU. Ich glaube, was mich wirklich bewog, in der Vorlesung zu verweilen, war Henry, der stoisch neben seinem Dozenten stand, ab und zu am Lautstärkeregler des Mikrophons drehte oder hilfreich einsprang, wenn die Powerpoint-Präsentation nicht so wollte wie der Professor. Mit seinen dunkelbraunen, kurzen Haaren, der Sportlerfigur (er spielte im Soccer-Club der Universität) und den hellen, grünen Augen war er schon eine beeindruckende Gestalt und ich ertappte mich mehr als einmal dabei, ihn gedankenverloren anzustarren. Auch schien es mir, dass seine Augen suchend über die Bänke glitten, als suche er jemanden und ich bildete mir gerne ein, dass ich das sei.


Während der Vorlesung hatte ich einen Entschluss gefasst und wartete auf meinem Platz, während die Lovecraft-Fans allen ernstes mit den Büchern des Autoren zu dem Professor stürmten und ihn, ja sogar die Studenten um Autogramme baten. Ich musste schadenfroh grinsen, als ich sah, wie rüde die Autogrammjäger abgekanzelt wurden. Ich wartete noch eine Weile geduldig, bis die letzten Lovecraftianer den Raum verlassen hatten und ging nach vorne, um Henry zu suchen. Ich unterdrückte die Stimme in meinem Kopf, die mir zuflüsterte, ich solle einfach nach Hause gehen – ich weiß nicht mehr genau, was ich eigentlich wollte, aber ich hatte nicht vor, den Tag so unbefriedigend enden zu lassen. Henry war gerade dabei, das Gebäude zu verlassen, als ich ihn endlich erblickte und ihm hinterher rief. Er schient zunächst erstaunt, doch dann lächelte er.
„Viel gelernt heute?“ fragte er mich.
„Geht so“, sagte ich und zuckte die Achseln.
„Hast du noch eine Frage“, wollte er wissen. „Oder wolltest du mich auf ein Bier einladen?“
Sein Lächeln war so entwaffnend, dass ich den endgültigen Entschluss, mit ihm zu schlafen, wohl in diesem Moment traf.

Die Sonne ging bereits unter, als Henry und ich Arm in Arm das Studentenwohnheim betraten, in dem er für die Dauer seines Aufenthaltes ein Zimmer zugewiesen bekommen hatte. Wir hatten den Abend in einer der Studentenkneipen verbracht und uns mit Smalltalk die Zeit vertrieben. Allerdings wurden unsere Anekdoten mit jedem Glas Bier, das wir tranken, anzüglicher und jeder Blick, den wir uns zuwarfen, inniger. Henry war charmant, aber auf eine seltsame Art und Weise unnahbar. Mal war es ein kurzer Blick von ihm zur Seite, mal war es eine Veränderung der Körperhaltung, mal das Bewusste Nicht-Eingehen auf eine versteckte Anzüglichkeit von mir. Erst Tage später wurde mir klar, dass jede Geste und jedes Wort in diesen Momenten von ihm bewusst gewählt wurde – er spielte mit mir wie eine Katze, die eine Maus zwischen den Pfoten hat. Und er hatte Erfolg. Als er schließlich anbot, den Ort zu wechseln, war ich bereits Wachs in seinen Händen, ohne es zu bemerken.

Henrys Zimmer war nicht groß, bis auf ein Bett mit Nachttisch, einen Tisch mit Stuhl und einen Kleiderschrank gab es nicht viel in dem Raum zu sehen Henry hatte seinen Koffer noch nicht ausgeräumt sondern nur einige Kleidungsstücke herausgenommen. Bis auf ein paar Bücher und eine kleine kompakte Stereoanlage befand sich nichts in dem Zimmer, das nicht von vorne herein hier hin gehört hätte. Ich stellte beruhigt fest, dass die Bücher tatsächlich nichts mit Fantasy oder Horror zu tun hatten – tatsächlich waren es reine Fachbücher.
„Etwas Musik?“ fragte Henry und schaltete, ohne meine Antwort abzuwarten, die Stereoanlage ein. Es musste sich bereits eine CD im Laufwerk befunden haben, denn sogleich begann die Anlage, Musik zu spielen. Auch jetzt war ich erleichtert, denn die Musik hatte ebenfalls nichts mit der geschmacklosen und und aggressivem Heavy Metal- Musik zu tun, die ich bei dem Großteil der Lovecraft-Jünger auf dem Rasen vermutet hatte. Ruhige, sphärische Klänge wechselten ineinander über, zu einem dezenten, nicht zu harten Rhythmus.
„Wer ist das?“ fragte ich.
„Die kennt man hier nicht“, sagte Henry und setzte sich aufs Bett, so, dass ich noch Platz nehem ihm hatte. „Die kennt bei uns auch kaum jemand. Machen so eine Mischung aus Techno und New Age. Ich find sie entspannend.“
Ich streifte meine Schuhe ab und blieb im Raum stehen. Die Musik hatte etwas seltsam vertrautes, und doch fremdartiges. Ich schob es auf den Rhythmus, der sich in meine Ohren einschmeichelte und meinen Körper wie von selbst dazu brachte, sich im Takt zu bewegen.
„Stört es dich, wenn ich tanze?“ frage ich, selbst erstaunt über meine Reaktion auf die fremdartigen Töne. Ich schob es auf den Alkohol. Henry schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück.
Es dauerte einen Augenblick, bis ich die Musik verinnerlicht hatte. Ich ging fast jedes Wochenende in die Disco und genoss es, Musik in mich aufzunehmen und mich zu den Rhythmen zu bewegen – doch diese Musik war anders. Wann immer ich versuchte, mich ihr anzupassen, entzog sie sich mir wieder, neckte mich, wartete, bis ich bereit war für einen neuen Versuch und wiederholte das Spiel von vorne. Es war, als würde der Beat sich absichtlich meinen Versuchen entziehen und gerade, als ich enerviert aufgeben wollte, hörte ich Henrys Stimme dicht an meinem Ohr. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er zu mir gekommen war.
„Lass dich voll und ganz fallen“, flüsterte er. „Bewege dich nicht, lass die Musik dich bewegen.“
Ich schloss die Augen und spürte deutlich den Alkohol in meinem Kopf, ich roch sein herbes Aftershave und ich hörte auf die Musik. Langsam, ganz langsam begriff ich. Ich musste mich voll und ganz hingeben. Nicht mein Tanz war es, der von der Musik geleitet sein sollte, sondern mein ganzes Wesen. Mein Körper, mein Geist. Nach und nach gab ich meinen natürlichen Widerstand auf und ließ den Beat in meinen Geist, wie die Stimme eines Hypnotiseurs, die einen Menschen im Unterbewusstsein erreicht. Und ich spürte, wie ich mich zu bewegen begann, einer Marionette gleich, die den Befehlen eines unsichtbaren Spielers folgt. Ich spürte, wie meine Arme wie von selbst über meinen Körper fuhren und seltsame, kryptische Zeichen in die Luft malten – nicht das zufällige gestikulieren eines wilden Tänzers, sondern Figuren, Formen, Muster, die einem eingeweihten Botschaften vermitteln mochten, die ich selbst jedoch nicht kannte. Ich hatte mich voll und ganz verloren – erst, als ich nackt und verschwitzt, mit brennenden Bissmalen auf den Schultern, schmerzenden Brustwarzen und einem gereizten Pochen zwischen den Beinen schwer atmend neben Henry in seinem schmalen Bett lag, kam ich wieder zu mir.


4.

Ich schlief bis weit in den Mittag hinein und war alleine, als ich erwachte. Henry hatte mir einen Zettel geschrieben, es täte ihm Leid, aber seine Verpflichtungen seinem Vorgesetzten gegenüber seien äußerst dringlich. Er würde sich aber gerne wieder mit mir treffen, vielleicht heute Abend? Nachdem ich mir meinen Slip und das Top angezogen hatte setzte ich mich auf das Bett und versuchte, den gestrigen Abend zu erfassen. Mein Kopf drehte sich und ich hatte einen sehr trockenen Mund, gottseidank hatte Henry eine Wasserflasche neben dem Bett stehen, die ich auf einen Zug austrank. Danach stand ich auf und ging zu der Anlage. Ich wollte mir diesen Song noch einmal anhören, die mir nicht aus dem Kopf ging. Doch Henry hatte die CD mitgenommen, der Schacht war leer. Während ich enttäuscht meine Anziehsachen zusammen sammelte, versuchte ich, mir einige Teile der Musik ins Gedächtnis zu rufen – doch wann immer ich es probierte, es wollte mir nicht gelingen. Es war, als würde die Melodie in meinem Gedächtnis lauern, wie ein Name, den man seit langer Zeit nicht mehr gehört hat und nun verzweifelt versucht, sich daran zu erinnern. Doch das befreiende Gefühl, endlich in seinem Kopf auf die Erinnerung gestoßen zu sein, wollte sich nicht einstellen. Je mehr ich mich konzentrierte, desto weiter weg schien die Antwort zu liegen. Frustriert und müde verließ ich das Zimmer, nachdem ich unter Henrys Nachfrage ein „Gerne“ geschrieben hatte.

An diesem Abend ging ich gleich in das Wohnheim Ich hatte nicht vor, unsere Zeit mit Smalltalk zu verschwenden sondern wollte sofort zur Sache kommen. Schon auf dem Flur hörte ich diesen Song aus seinem Zimmer dringen und kaum, dass ich die Melodie hörte, schimpfte ich mich eine dumme Gans, dass ich so eine eindringliche Melodie hätte vergessen können. Vor seiner Tür standen zwei andere Studentinnen und ein Student und lauschen durch das Holz hindurch. Ich sah, wie sich ihre Körper unbewusst im Takt der Musik bewegten und fühlte mich plötzlich ihnen ungeheuer überlegen – kam ich doch in den ganzen Genuss der Musik. Selbstsicher drängelte ich mich durch sie hindurch und klopfte dreimal an die Tür, ihre erstaunten Blicke ignorierend. Ich hörte, wie Henry drinnen aufsprang, die Anlage ausschaltete und die Tür einen Spalt weit öffnete. Sein gehetzter Blick verwandelte sich in ein Lächeln, als er mich sah.
„Komm 'rein“, sagte er und schloss die Tür hinter mir. „Du bist mir doch nicht böse, dass ich dich heute morgen einfach so alleine gelassen habe?“
„Nein, gar nicht.“ Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Höchstens, dass du die CD mitgenommen hast.“ Er zog eine Augenbraue hoch.
„Wieso?“ - „Ich wollte noch einmal in Ruhe 'reinhören, aber das ging ja nicht, du Egoist.“ Ich warf ihm einen gespielt beleidigten Blick zu und er breitete in einer hilflosen Geste die Hände nach außen.
„Sorry, aber ich musste eine Kopie für einen Freund machen und du siehst ja, kein Brenner hier.“ Ich musste kichern ob seiner Hilflosigkeit.
„Ist schon gut“, sagte ich versöhnlich. „Ich verzeihe dir.“

Henry hatte es nicht so eilig wie ich, gleich zur Sache zu kommen. Im Gegenteil: Er wehre meine Annäherungsversuche im ersten Moment mit Nachdruck ab.
„Nicht so hastig“, sagte er lachend, als ich stürmisch seine Lippen küssen wollte. „Mach es dir doch erst einmal gemütlich.“
„Gemütlich kann ich es auch zu Hause haben“, sagte ich lachend, während ich ihn stürmisch an die Wand dränge. „Du weißt doch, warum ich hier bin und ich dachte, du willst es auch.“
„Ja schon, aber...“ Er stoppte. Ich löste mich von ihm und sah ihn prüfend an. „Aber was?“ - „Ich meine, wir könnten uns doch etwas Zeit lassen, ein bisschen Reden oder so.“ Ich konnte ein genervtes Schnauben nicht unterdrücken.
„Reden? Ich habe die letzten Jahre genug geredet. Ich will nicht reden.“ Tatsächlich kochte in mir ein Verlangen, wie ich es noch nie gespürt hatte. Ohne weiteren Widerspruch abzuwarten drängte ich ihn zurück an die Wand und meine Zunge in seinen Mund. Diesmal ließ er es zu.


Einige Zeit später standen wir gemeinsam am Fenster des Zimmers und rauchten. Im Wohnheim herrschte strenges Rauchverbot, deswegen hatten wir das Fenster weit aufgemacht und pusteten den Qualm im die laue Sommernacht. Ein leichter Wind kühlte meinen erhitzen Körper und strich über meine nackten Brüste. Das Zimmer lag zum Glück so, dass keine zufälligen Passanten uns sehen konnten. Und wenn, dann wäre es mir auch egal gewesen. Henry sah mich von der Seite her an.
„Stimmt etwas nicht?“ fragte er nach ein paar Minuten. Tatsächlich stimmte etwas nicht. Der Sex war sehr gut gewesen, keine Frage und ich hatte meinen Orgasmus gehabt, aber dennoch...
„Ich weiß nicht“, gab ich offen zu. „Es war sehr schön mit dir, aber gestern war es anders.“ Er sah mich betroffen von der Seite an.
„Es hat dir nicht gefallen“, stellte er fest. Ich schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, das stimmt nicht“, sagte ich. Aber innerlich musste ich ihm Recht geben. Guten Sex hatte ich auch mit Marc gehabt, aber so eine außergewöhnliche Erfahrung wie gestern noch nie. Eben deswegen bin ich zurückgekommen. Um mich noch einmal vollends fallen zu lassen.
„Lass uns Musik hören“, schlug ich vor, um meinen aufgewühlten Geist zu beruhigen. Diese Melodie, die mich den ganzen Tag verfolgt hatte, ohne mich wirklich einzuholen, hatte sich meinem Geist wieder entzogen und wollte mir nicht in den Sinn, so sehr ich auch versuchte, mich daran zu erinnern. Henry nickte und öffnete seinen Rucksack, um ein paar CDs heraus zu kramen.
„Nein, nicht das“, sagte ich. „Das von gestern.“ Er sah mich an.
„Ist etwas?“ fragte ich, plötzlich beunruhigt. Etwas in seinem Blick behagte mir ganz und gar nicht. Er erwiderte meinen Blick kurz, dann schüttelte er den Kopf.
„Alles bestens.“ Er ging zur Anlage und drückte auf Play.

5.

Nach dieser Nacht zwang ich mich, wach zu bleiben. Ich starrte aus dem Fenster und rauchte ab und zu eine Zigarette, wartete geduldig, bis der Morgen graute. Nachdem Henry die CD wieder angeschaltet hatte, fiel es mir an diesem Abend schon viel leichter, mich der Musik hinzugeben. Es dauerte keine Minute, bis ich spürte, dass sie meinen Körper in Besitz nahm und meine Arme und Beine wie ferngesteuert bewegte. Auch der Sex mit Henry war so leidenschaftlich und intensiv wie in der Nacht davor. Doch hatten seine Augen, als wir nebeneinander langen und ich langsam zu Atem kam, einen seltsamen Ausdruck.
„Was ist los?“ hatte ich gefragt, er hatte aber nur den Kopf geschüttelt. „Ich würde gerne nochmal das Stück hören“, sagte ich, denn schon wieder hatte sich die Melodie mir auf wundersame Weise entzogen. Ich konnte spüren, wie Henry sich neben mir verspannte.
„Bitte nicht“, hatte er mit einem flehenden Unterton gesagt, der mich noch immer verstörte. War es Angst? Wie konnte jemand Angst vor Musik haben, und dann noch einer solch großartigen?
„Ich habe das Stück jetzt schon viel zu oft gehört“, sagte er nach ein paar Augenblicken, in denen er sich wieder entspannt hatte. „Ich meine, einmal am Abend reicht.“ Er gab mir einen Kuss. „Schlaf jetzt.“ Ich seufzte und schmiegte mich an ihn, nur um mich nach ein paar Momenten unruhig zu lösen und hin und her zu werfen. Diese Melodie, diese verdammte Melodie, die in meinem Kopf aber nicht in meinem Ohr war! Sie war deutlich näher gekommen, das spürte ich. Ich dachte, wenn ich mich nur ein wenig konzentriere, dann würde sie mir wieder einfallen. Aber da war nichts, was mir einfallen könnte. Immer, wenn ich versuchte, die Musik zu greifen zu bekommen, entschlüpfte sie mir, glitschig wie ein Aal. Kann man sich von seinen Erinnerungen verhöhnen lassen?

Schließlich wurde es mir zu bunt und ich klettere aus dem Bett und ging zur Anlage. Henry drehte sich um und fragte mich, was ich vor hatte.
„Ich will das Stück noch einmal hören“, sagte ich und schaltete die Anlage ein.
„Nein!“ Sein Ruf ließ mich zusammen zucken. „Bitte nicht“, sagte er dann, in einem flehenden Tonfall. „Ich... ich kann es einfach nicht mehr hören. Morgen wieder.“
Irgendetwas in seiner Stimme ließ mich von der Anlage Abstand nehmen. Ich riss mich zusammen und krabbelte wieder zu ihm unter die Decke.
„Na gut, aber morgen auch wirklich!“

Ich lag still, bis ich merkte, dass er eingeschlafen war. Dann löste ich mich sanft aus seiner Umarmung und trat ans Fenster, um zu rauchen. Mein Blick fiel auf die Stereoanlage und ich widerstand der Versuchung, sie einfach einzuschalten, nur mühsam. Erst jetzt fiel mir auf, dass Henry mir nicht einmal den Namen der Gruppe genannt hatte. Es würde sicher nicht schaden, einen Blick auf die CD zu werfen und mir den Gruppennamen aufzuschreiben. Sicher würde ich im Internet fündig, wo doch jede Band, und sei sie auch noch so klein, ihren Auftritt hat. Ich schaltete die Anlage ein und drehte die Lautstärke herunter, bis nichts mehr zu hören war, sollte ich versehentlich auf einen falschen Knopf drücken. Tatsächlich zeige mir das Display an, dass die CD automatisch gestartet wurde und ich beglückwünschte mich still zu meiner Voraussicht. Der Drang, einfach den Lautstärkeregler nach oben zu schieben, war gewaltig, doch ich widerstand und öffnete die Schublade der CD. Sie war leer. Ich runzelte die Stirn und ließ die Lade wieder zurückfahren. Sofort begann die Anlage, Musik abzuspielen. Ich überprüfte das Laufwerk ein zweites Mal. Ich schaute in die Kassettenschächte. Alles war leer. Ich drehte die Lautstärke wieder etwas hoch und da war sie wieder, die Musik. Sofort brannte die Melodie sich in meinem Hirn fest, als habe sie nur darauf gewartet, mich in ihren Bann zu schlagen. Aber dieses Mal konzentrierte ich mich und ließ nicht zu, dass sie Gewalt über meinen Körper bekam – so schwierig es auch auf einmal war. Es war schon schlimm genug, dass ich Henrys Vertrauen missbraucht hatte, er musste es nicht auch noch unbedingt bemerken.

Als der Morgen graute, kletterte ich wieder zurück ins warme Bett. Henry lege im Schlaf einen Arm um mich und murmelte etwas unhörbares. Als der Wecker klingelte, stellte ich mich schlafend und wartete, bis er das Zimmer verlassen hatte. Dann unterzog ich die Anlage einer genaueren Untersuchung.

6.

Ich bin nicht sehr geschickt, was technische Geräte angeht. In dieser Hinsicht hatte ich immer Glück in der Auswahl meiner Freunde, die von Installationen auf meinem Laptop bis zum Wechseln der Glühbirne alles für mich übernommen haben. Aber dass eine Stereoanlage ohne CD keine Musik machen kann, dessen war ich mir vollkommen bewusst. Zunächst probierte ich die anderen Soundquellen aus. Das Kassettendeck verhielt sich normal und auch das Radio spielte die Musik ab, die man von ihm erwartet. Sobald ich jedoch den CD-Player anwählte, spielte die Anlage ganz von selbst, ohne dass eine CD eingelegt wäre. Ich lege eine von Henrys CDs ein und diese wurde ganz normal abgespielt. Sobald das Laufwerk jedoch leer war begann die unheimliche Musik von alleine. Und nach den dritten oder vierten Versuch konnte ich mich ihrer hypnotischen Kraft nicht länger entziehen und begann, meinen Körper in ihrem mitreißenden Rhythmus zu bewegen. Ich verlor mich in der Musik und spüre nur noch verschwommen, wie meine Arme die gleichen kryptischen Zeichen in die Luft malten, die sie die letzten Nächte nachgezeichnet hatten. Aber gleichzeitig waren da keine Arme mehr, die gestikulieren können, denn da war auch kein Körper mehr, zu dem diese Arme gehörten. Ich fühlte mich leicht, leicht wie eine Feder und schwebte. Nun vermeinte ich, eine Stimme zu hören, die in der seltsamen, fremdartigen Melodie sang. Worte, die ich nicht verstand, und die mich doch lockten. Jemand rief mich zu sich, mit drängender, verlangender Stimme... Aber dann war das Lied vorbei und alles, was ich hörte, war ein leises Klopfen an der Zimmertür. Ich öffnete und starrte den Studenten an, der gestern Nacht schon an der Tür gelauscht hatte. Er starrte ebenso. Und dann wurde mir bewusst, dass ich versäumt hatte, mir etwas anzuziehen, meine Brustwarzen hart und erregt aufrecht standen und meine Schamlippen obszön feucht glitzerten.

Nachdem ich die Tür eilig zugeworfen und mir etwas angezogen hatte, öffnete ich erneut. Der Student stellte sich als Thomas vor.
„Ich bin Henrys Zimmernachbar“, sagte er und deutete auf das Zimmer nebenan. „Kannst du mir wohl sagen, welche Band das ist?“ Ich verneinte. „Dann schau doch mal eben auf die CD und sag's mir“, sagte er. Ich setzte zu einer Antwort an, überlegte es mir im letzten Moment allerdings anders. Wenn ich gesagt hätte, dass keine CD in der Anlage zu finden sei hätte ich mich gewiss lächerlich gemacht.
„Die ist unbeschriftet“, sagte ich kurz. Thomas nickte enttäuscht. „Und Henry hat das Ding auch nur so bekommen, er kann auch nicht weiterhelfen. Ich hab schon gefragt.“ Wieder nickte er.
„Dann lass mich doch wenigstens eben eine Kopie davon machen, ja? Ich hol nur schnell eine Kassette.“ Thomas lief zurück in sein Zimmer, bevor ich protestieren konnte. Und eigentlich hatte ich ja nichts dagegen. Im Gegenteil, ich ärgerte mich, dass ich nicht selbst auf die Idee gekommen bin.

Thomas brachte keine Kassette mit sondern ein Laptop und ein Kabel, das er direkt an den Kopfhörereingang der Anlage anschloss. Ich schaute ihm über die Schulter, während er Fenster öffnete und schloss und schließlich eine Aufnahme startete.
„Als Hobbymusiker braucht man so etwas“, sagte er grinsend und ich nickte wissend.
„Kannst du... kannst du mir den Song dann auf meinen MP3-Player spielen?“ fragte ich. Thomas warf einen Blick auf sein Laptop und gab vor, die oszilierenden Wellen auf dem Bildschirm zu überprüfen.
„Ja, ich schätze, das ist drin“, sagte er schließlich und versuchte, möglichst professionell auszusehen. Vielleicht bin ich blond und eine Niete in technischen Belangen, aber nicht dämlich. Ich konnte seinen Blick ganz genau deuten und seine Gedanken lesen, als hätte er ein offenes Buch im Gesicht. Natürlich erhoffte er sich einen Gefallen für seine angebliche Arbeit, eine Sounddatei umzuwandeln und auf einen tragbaren Player zu kopieren. Sein Blick, mit dem er mir auf die Brüste starrte, sprach Bände.
„Das wäre wirklich zu nett von dir“, sagte ich mit einem koketten Augenaufschlag, fest entschlossen seiner Libido einen Dämpfer zu verpassen. Als seine Arbeit getan war, ich die Kopfhörer aufsetzte und entzückt feststellte, dass die Klangqualität noch viel intensiver war als über die recht billige Anlage überwog meine Dankbarkeit jedoch über alle Maßen und ich gab ihm nur allzu bereitwillig seinen Lohn.

Ich verließ das Wohnheim, bevor Henry nach Hause kam. Ich hatte Thomas das Versprechen abgenommen, Henry nicht wissen zu lassen, was er getan hatte und sorgfältig alle Spuren wieder verwischt. In den folgenden Tagen besuchte ich Henry nicht mehr, ich verabschiedete mich nicht einmal von ihm, als er mit seinen Kommilitonen und dem Professor eine Woche später zurück nach Amerika flog. Um ehrlich zu sein, in dieser Woche tat ich so gut wie gar nichts. Ich hatte meine Kopfhörer auf und lausche dieser eigenartigen Musik, ich ließ mich von ihr führen und wenn das Stück nach ein paar Minuten zu Ende war, dann ließ ich es von neuem laufen. Quälend lange Pausen gab es nur, wenn ich den Akku aufladen musste.

7.

In den nächsten Wochen nahm ich kaum mehr am Leben teil. Meine Freundinnen schoben es auf den Liebeskummer, der ihrer Meinung nach tief in meinem Herzen nagte. Doch ich wusste es besser. Mein Freund war der MP3-Player geworden, der mich Tag und Nacht begleitete. Ich legte ihn nur schweren Herzens weg, wenn ich das nötigste Einkaufen musste oder die schiere Erschöpfung mich übermannte. Zu erhebend war das Gefühl, sich von der so fremden und doch so vertrauen Musik führen zu lassen, zu verlockend der Ruf, den ich von Mal zu Mal deutlicher hörte, der mich verführerisch lockte und neckte mit Worten aus keiner mir bekannten Sprache, und doch deutlich und klar vernehmbar. Jedes Mal, wenn ich das Lied aufs neue startete, klang diese ätherische Stimme näher an meinem Ohr und jedes Mal, wenn ich mich fallen ließ, fühlte ich mich stärker zu ihr hingezogen.

Drei Monate mochten so vergangen sein. Der Oktober näherte sich dem Ende und die Tage waren merklich kürzer geworden. In der letzten Woche des Monats standen sie plötzlich vor meiner Tür – meine so sträflich vernachlässigten Freundinnen. Drei Monate Liebeskummer seien mehr als genug, sagten sie und brachen in entsetztes Schweigen aus, als sie meinen verwahrlosten Zustand bemerkten. Ich war drei Monate lang nicht beim Friseur gewesen und hatte mich nur sehr oberflächlich gepflegt, meine Haare waren stumpf und brüchig, meine Fingernägel eingerissen, meine Haut unrein. In aller Eile wurde ein Notfallplan zur Rettung meiner Schönheit erstellt: Ein gemeinsamer Besuch beim Friseur, bei der Kosmetikerin mir anschließendem Shopping und Wellnesswochenende inklusive Sauna und Massage. Ich versuchte mich zu wehren, zog von Depression bis hin zu Krankheit und klammen Geldbeute alle Ausreden heran, die mir einfielen – allein, es nutzte nichts. Am nächsten Samstag morgen würden sie mich abholen und ich sollte es wagen, mich zu widersetzen. Zähneknirschend gab ich nach.

Noch in Frühling hatte ich genau solche Tage wie diesen Samstag genüsslich ausgekostet – zuerst ein ausgedehntes Frühstück im Café mit ausgiebiger Lästerei, dann der Besuch beim Friseur und dem Kosmetikstudio und eine ausgedehnte Shoppingtour. Aber ich konnte mich nicht freuen, nicht einmal darüber, solche fürsorglichen Freundinnen zu haben. Tief in meinem inneren wusste ich, dass sie das beste für mich wollten und ich wusste, dass es nichts besseres gab als so einen Tag mit den Mädels – Aber ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Knapp unter der dünnen Membran, die das Unterbewusstsein vom Bewusstsein trennt, lauerte die verlockende Melodie und die engelsgleiche Stimme, die mich lockte. Und wie eine Bewegung in den Augenwinkeln entzog sie sich immer und immer wieder meinen Gedanken, ließ sich nicht fassen und brachte mich beinahe um den Verstand. Meine Freundinnen merkten natürlich, dass ich ganz und gar nicht bei der Sache war und gaben sich alle Mühe, mich aus meinen Träumereien zu reißen. Wenn ich mich konzentrierte, dann schaffte ich es, ihren Gesprächen zu folgen und ihre Witzeleien zu verstehen, ein paar Mal kam sogar ein Lächeln auf meine Lippen – und dann war da wieder diese verlockende Stimme, die ich hören und doch nicht hören konnte.

Wäre diese Musik nicht, ich wäre entspannt und von allen Sorgen befreit nach Hause gekommen. Wir hatten im Whirlpool Sekt getrunken, in der Sauna gesessen und uns gegenseitig bestätigt, dass unsere Brüste bei weitem nicht so hängen würden wie die von anderen Frauen, wir hatten den Männern auf die Hinterteile geschaut und manches ansehnliche dabei entdeckt. Doch immer, wenn meine Konzentration nachließ, und das tat sie bei steigendem Alkoholkonsum die ganze Zeit, schweiften meine Gedanken ab und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als wieder zu Hause zu sein und meine Musik zu hören. Ich warf die Tasche mit den feuchten Handtüchern, kaum, dass ich meine Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte, unachtsam in den Flur und hastete in das Wohnzimmer, griff nach dem Player und stöpselte mir die Kopfhörer in die Ohren.

Schon nach den ersten Takten war ich wieder in meinem glückseligen Schwebezustand und ließ mich von der Musik treiben, führen, lenken, leiten... und lauschte verzückt auf die ätherische Stimme, denn nun, endlich, endlich! Nach all den Monaten verstand ich deutlich, was sie von mir wollte. Ich verstand jedes einzelne Wort dieser so fremden Sprache und wusste endlich, was ich zu tun hatte. Mit strahlendem Lächeln öffnete ich den Mund und ich hörte mich die Worte sprechen, die mir aus der äonentiefen Finsternis zugetragen wurden, im perfekten Einklang mit den Gesten, die aus der grauen Vorzeit zu uns sterblichen hinübergetragen wurden. Und dann flog ich, verließ meinen Körper und meine Wohnung, dachte einen Moment an die Berichte über die Menschen, die nach dem Tode zurückgeholt wurden, vergaß sie gleich wieder, denn mein Geist flog höher und höher, verließ die Stadt, das Land, die Erde und trieb hinaus ins das offene, dunkle, kühle Weltall. Ich sah mit Augen, die keine Augen waren die Wunder unserer Galaxie, ich flog mit Kometen um die Wette, sah die Geburt von Sternen und die gewaltige Explosion einer Nova. Gebilde trieben an mir vorbei, erschaffen aus Materialien, die dem Menschen fremd sind und erbaut von Zivilisationen, die schon vergangen waren, als das Leben auf der Erde seine ersten Versuche unternahm, an Land zu gehen. Ich sah die zyklopischen Türme von Celaeno, in denen das Wissen des Universums niedergeschrieben steht. Ich flog durch die Sterne, von denen einst der große Cthulhu und sein Sternengezücht auf die Erde hernieder ging. Ich umkreiste Haddath und sah die Cthonier bei ihrer Balz, ich betrachtete den kalten, toten Yith und ich durchquerte die Galaxie von Xentilx. Und alle diese Wunder erklärte mir, geduldig und liebevoll, mein Führer und Freund Yog-Sothoth, der Schlüssel und Tor gleichermaßen ist.


Und dann flogen wir gemeinsam durch den dunkelsten Äther. Längst hatten wir das Licht der Sterne hinter uns gelassen und ich hätte es mit der Angst zu tun bekommen, hätte ich nicht meinen treuen Begleiter an meiner Seite gehabt. Ich wusste, dass er sich das größte Geheimnis bis zum Schluss aufgehoben hatte, und ich wusste, es wäre ganz gewiss wundervoll. Und so führte mein Begleiter mich an den Hofe des blinden Idiotengottes, an den Thron des nuklearen Chaos, dessen ewige, gewaltige Detonation die Zeit überdauert und der sich wiegt im Takte einer einsamen, geborstenen Flöte, geblasen von Wesen, die älter und böser sind als die Zeit, und ich lachte, denn ich erkannte die Melodie, die in schrillen, blashpemischen Tönen durch die Zeit hallte, die Melodie, die so lange unter der dünnen, verletzlichen Hülle meines Verstandes lauerte. Ich lachte, während mir die Tränen aus den Augen liefen, als diese Hülle zerbrach und mein Geist sich bar jeden Schutzes sah – als ich endlich verstand.

Ich erwachte in einer stinkenden Lache aus meinem eigenen Urin und Erbrochenem auf dem Boden meines Wohnzimmers, unfähig, das hysterische Lachen zu beenden.

8.

Ich weiß nicht, wie lange ich da lag, in meinem eigenen Unrat, und mich kreischend vor Gelächter über den Boden wälzte, bis eine gnädige Ohnmacht mich umfing. Ich erwachte am nächsten Tag, mit eingetrockneten Brocken Erbrochenem im Haar, blutig gebissener Zunge und mit der Musik im Ohr. Monatelang hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, mich endlich an diese Musik erinnern zu können. Und nun, da ich es tat, wünsche ich nichts sehnlicher, als sie aus meinem Kopf zu verbannen. Doch ich wusste tief in meinem Inneren, diese schrille Melodie mein Leben lang verfolgen. In jeder ruhigen Minute würde ich sie hören und nur dann zur Ruhe kommen, wenn die Erschöpfung oder der Rausch mir eine Ohnmacht schenkte.

Ich begann, wieder auf Parties zu gehen. Es wurde zu meiner Obsession, jedes Wochenende vom frühen Abend bis in den Morgen hinein durch die lautesten Clubs zu ziehen, die brachialsten Konzerte zu besuchen und bis zur Besinnungslosigkeit zu feiern. Alkohol, Pillen, Joints wurden meine ständigen Begleiter, ich achtete sorgsam darauf, jeden Abend so erschöpft wie möglich ins Bett zu fallen. Wenn die Party alleine nicht ausreichte, nahm ich mir männliche Gesellschaft mit und treib sie mit meiner unersättlichen Gier nach Verausgabung an den Rande ihrer Kräfte. Schon nach wenigen Wochen galt es unter den Jungs der Stadt als eine Art Männlichkeitsbeweis, es der sexgeilen Irren so richtig zu besorgen. Mir war es egal, ich war nicht wählerisch.

Der Silvesterabend war mein schönster Abend der vergangenen Monate. Nicht, dass es mich interessiert hätte, was gerade gefeiert wurde. Aber die Leute waren gelöster, die Musik war lauter und der Alkohol für Frauen umsonst. Ich tanze am wildesten, trank am meisten und schrie den Countdown für das neue Jahr am lautesten von allen heraus. Und als die Sektrunde vorüber gezogen war rannte ich so lange durch die verschiedenen Hallen der Disco, bis die Musik wieder einsetzte und ich mich auf der Tanzfläche verausgaben konnte. Ich trieb meinen Körper zum äußersten und verlor mich... als ich die Stimme hörte, die mir einen eiskalten Schauer über den Rücken trieb. Niemals vorher mögen profanere Worte einen Menschen so nahe an den Rand des endgültigen Wahnsinns gebracht haben.
„Liebe Leute, das Jahr ist erst ein paar Stunden alt und schon ist es Zeit für den Höhepunkt! Ich hab hier etwas ganz feines für euch, ein Geheimtipp aus den USA, so geheim, dass niemand weiß, wessen Genie sich dieses grandiose Stück Musik ausgedacht hat! Ja liebe Leute, solche heißen Scheiben spielt nur euer guter alter DJ Thommy!“
Ich hatte die Stimme gleich nach den ersten paar Worten erkannt und meine Organe im Leib zogen sich krampfartig zusammen. Atemlos starrte ich zur Empore des DJs hinauf und hoffe für eine Sekunde, ich würde mich irren, doch die ersten Töne belehrten mich eines besseren. Mit namenlosem Grauen starrte ich auf die Masse der Tänzer, von denen erst einer, dann ein zweiter, dann eine dritte langsam begann, sich im Takt der Melodie zu wiegen und deren Hände sich gen Hallendecke hoben. Mein Entsetzensschrei ging in der lauten Musik unter. Dann umfing mich Dunkelheit.

Kann es möglich sein, dass ein Mensch es schafft, in völliger geistiger Umnachtung eine Discothek zu verlassen, an der gegenüberliegenden Tankstelle einen Molotovcocktail herzustellen, diesen unbemerkt bis zur Tanzfläche zu transportieren, zu entzünden und dann in die Menge zu werfen? Kann sich ein Mensch in völliger Umnachtung daraufhin selbst die brennende Kleidung vom Leib reißen und die Flammen, die durch das verschüttete Benzin auf seinen Armen tanzen, ersticken? Kann so ein Mensch in der allgemeinen Panik einfach nach draußen gelangen und unbemerkt seiner Wege gehen? Anders kann ich mir nicht erklären, wieso ich nun in der Psychiatrie liege und nicht im Gefängnis oder auf dem Friedhof gelandet bin. Mein Plan ist so simpel wie effektiv. Ich werde die nächste Zeit eine vorbildliche Patientin sein und gewaltige Fortschritte in meiner Heilung machen. Mein Gemütszustand wird sich stabilisieren, bis die Ärzte mich für gesund genug erklären, dass ich ohne Überwachung rund um die Uhr bleiben kann. Und dann wird es ein Ende haben. Von dem jungen Pfleger mit dem lüsternen Funkeln im Blick habe ich mir, weil ich ja so schlecht schlafen kann, ein Röhrchen mit Tabletten ins Zimmer schmuggeln lassen – gegen Bezahlung in der gleichen Währung, mit der ich schon meine Schulden für das Kopieren des Songs beglichen habe. Nichts will ich lieber als schlafen. Friedlich und vor allem ruhig schlafen. Dann habe ich die Hoffnung, dass die Musik endlich verstummt. Und mit mir stirbt die Wahrheit.

Mag sein, dass eines Tages irgendein armer Teufel als mutmaßlicher Brandstifter verhaftet wird, der meine Strafe ausbaden muss. Aber wem nützt die Wahrheit? Wem nützt es zu wissen, dass ich keine Menschen umbrachte. Wen interessiert schon, dass ich keine gelöste Feiergesellschaft sah, in dem Moment, als die Musik begann – sondern die zuckende, amorphe Masse wabernden Irrsinns, die aus den Tiefen des Kosmos gekommen war, um mich zu holen?
 

Rote Zora

Pfefferklinge
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Bin kein Lovecraft Fan, aber diese Geschichte habe ich mit Begeisterung gelesen. Danke, dass du sie mit uns teilst. :)
ZORA
 
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