Gedankengebilde

Mantis

Heilende Hände
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Jemand meinte mal, hier im Geschichtenforum bräuchte es mehr Threads einzelner Personen statt vieler Einzelposts in einem Sammelthread.
Deshalb hier mal einer von mir, vielleicht füllt er sich ja mit der Zeit mit noch anderen Gedankengebilden an.

Hier erst einmal eins, das vor kurzem entstanden ist.
Kommentare sind willkommen und erwünscht, gerne auch Kritik.
Viel Spass beim Lesen. :)


~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~

Bahnsteig

Kurz bevor ich das Bahnhofsgebäude erreiche, sehe ich ihn. Meinen Zug. Rotleuchtend, und immer kleiner werdend: er fährt gerade weg – ohne mich.
Ich fluche, kann mich gerade noch beherrschen, nicht gegen die Wand zu treten. Es ist dunkel, es ist kalt, ich bin müde und ich will nach Hause.

Auf dem Bahnsteig. Der erste Blick gilt dem Fahrplan, bringt die Erkenntnis, dass nun wenigstens vierzig Minuten vergehen werden, bevor der nächste Zug kommt.

Erst dann fällt mir auf, dass ich alleine bin in dieser zweigleisigen Ödnis.

Ich stehe neben den windgeschützten Sitzplätzen, meine Tasche zwischen meinen Füssen, breitbeinig, als wollte ich sie verteidigen, auch wenn weit und breit niemand zu sehen ist. Den Rucksack habe ich noch nicht abgenommen, noch ist die Erkenntnis, dass ich hier noch eine Weile stehen muss, nicht ganz bei mir angekommen.
Als meine Schultern zu schmerzen beginnen, setze ich mich doch hin – es kommt mir vor wie eine Kapitulation.

Zeit vergeht.
Die Uhr ist nicht normal. Oder vielleicht folgt die Zeit hier auch anderen Gesetzen.
Als ich hier ankam, da bin ich mir ganz sicher, zeigte sie zehn Minuten nach zwei an. Es ist zwar Nacht, aber es kann unmöglich so spät sein. Die Uhr geht falsch.

Ich versuche, mich zu beschäftigen, lese ein wenig. Als meine Finger zu kalt werden um die Seiten umzublättern, höre ich auf, vergrabe die Hände tief in den Manteltaschen, schaue erneut zur Uhr. Zwei Minuten vor acht.

Eine Bewegung hinter mir lässt mich aufschrecken, es ist ein älterer Mann der die Treppe zum Bahnsteig hochkommt. Zu zweit an diesem Ort – das ist einer zu viel, oder einer zu wenig.
Ich schaue wieder auf die Uhr – zehn nach neun. Etwas stimmt hier nicht.


Der ältere Mann ist verschwunden. Ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, mich bloss nicht suchend umzudrehen. Wenn er noch hier ist, soll er nicht merken dass mich seine Anwesenheit verunsichert, wenn er mich beobachtet, soll es für ihn so aussehen, als wüsste ich nicht einmal dass er da ist. Ich entscheide mich dafür, vorbeifahrende Autos auf der Strasse am unteren Ende der Böschung zu zählen, nach einhundertzwölf merke ich, wie die Gedanken zähflüssig werden, nach einhundertdreiundfünfzig fallen mir die Augen zu.
Ich reisse sie weit auf, mir fröstelt, die Augen tränen in der kalten Nachtluft. Ich habe keine Ahnung wie spät es ist – die Uhr zeigt halb zwölf an – oder wie lang ich hier schon sitze und warte, auf diesen verdammten Zug.

Wieder einmal stehe ich auf, begutachte den Fahrplan.
Vierzig Minuten Wartezeit – sind die nicht schon längst vorbei?
Zeit tröpfelt vor sich hin, auch wenn ich gerade aus den Augenwinkeln beobachten konnte wie der Stundenzeiger der Uhr eine Vierteldrehung vollführte – in die verkehrte Richtung.

Mein Blick wandert wie von allein, die Strasse, der Fahrplan, meine Hände, nichts davon ist spannend genug, um meine Aufmerksamkeit längere Zeit fest zu halten.

Ich bin immer noch alleine auf dem Bahnsteig, doch ich höre Geräusche. Geräusche die nicht von der Fahrbahn kommen, die nicht dem Wind zuzuschreiben sind.
Ich höre Schritte, von der dunkleren Seite des Bahnsteigs, weg von der Treppe, dem Ausgang. Doch sobald ich den Kopf drehe, und die Augen anstrege die Finsternis zu durchdringen, wird es wieder still.
Während ich ins Dunkel starre, wird mir mit einem Mal bewusst, dass ich hingegen durch die Beleuchtung gut sichtbar gemacht bin, dass sogar meine Mimik für einen weiter entfernt stehenden Menschen zu erkennen sein müsste.

Wieder höre ich Geräusche, Schritte, dieses Mal aus der anderen Richtung. Hallend, als wäre es mehr als einer, und gleichzeitig gedämpft, als bemühten sie sich, leise zu gehen, ungehört zu bleiben, unbemerkt von mir.

Der Mann, der den Bahnsteig betritt, ist in einen dunklen Mantel gekleidet, hat den Kragen gegen Wind und Regen hochgeschlagen. Er stellt sich einige Meter entfernt von mir hin ohne mich anzusehen, also bemühe auch ich mich, ihn nicht mit der Neugierde oder vielmehr dem Misstrauen zu mustern, das ich verspüre.



Der Mann beobachtet mich doch. Immer dann, wenn er denkt, ich würde es nicht sehen, dreht er seinen Kopf, nur ein kleines bisschen, nur eine Nuance, um mich besser im Blick behalten zu können.
Worauf wartet er, frage ich mich, während ich meine Muskeln anspanne und wieder entspanne. Erst jetzt merke ich, dass mir wirklich kalt ist, die Beine schon ganz steif geworden sind. Und was wenn ich jetzt wegrennen müsste? Wie weit würde ich kommen bevor er mich einholt? Bis in die Unterführung? Sicher nicht bis zum Bahnhofsvorplatz.

In diesem Moment fährt der Zug ein, die grellen Scheinwerfer erhellen den Bahnsteig, ich drehe mich reflexartig vom Licht weg, mein Blick fällt dabei auf den Mann neben mir. Bilde ich mir das ein, oder ist da ein Anflug von Missbilligung zu sehen gewesen, ein Aufflackern der Enttäuschung, bevor er seine Gesichtszüge wieder vollkommen unter Kontrolle hat?

Im Zug setze ich mich mit dem Rücken zur Wand, Gesicht zur Tür.
Mir fällt auf, dass ich beim Festhalten der Tasche viel mehr Kraft verwende als nötig wäre, dass sich meine Hände um den Haltegriff verkrampft haben. Als ich loslasse, dauert es nur wenige Sekunden bis meine Finger sich in nervöser Unruhe selbstständig machen, die Hände wringen, sich zur Faust ballen, nur mühevoll wieder entspannen können.
Wieder sehe ich den Mann, der am Bahnsteig noch neben mir stand, nein, nicht nur neben mir stand, mich beobachtete.
Er setzt sich ein paar Reihen weiter hinten in den Zug, und dennoch habe ich das Gefühl, als hätte er sich mir gegenüber gesetzt. Er holt eine Zeitung aus seiner Tasche, hält sie vor sein Gesicht, tut so, als würde er lesen, aber ich weiss, was er in Wirklichkeit tut. Er beobachtet mich, durch die Zeitung hindurch, vielleicht hat er Löcher hineingeschnitten, oder vielleicht braucht er nicht einmal Löcher um mich durch das dünne Papier hindurch zu sehen. Ich weiss,er wartet darauf, dass meine Aufmerksamkeit nachlässt, doch das wird nicht passieren.
Kurz bin ich versucht, ihn zurück anzustarren, dann komme ich mir komisch vor, die Rückseite seiner Zeitung anzusehen, und schaue zur Seite, ins Dunkel.
Vom beleuchteten Zuginnern aus sieht der Bahnsteig noch dunkler aus als er vorhin war, während ich noch darauf stand.
Jetzt sehe ich auch wieder den alten Mann von vorhin. Er steht am Fahrplan, das Gesicht kann ich nicht erkennen, dafür ist es zu finster. Aber auch wenn ich nichts von seiner Mimik erkennen kann, so habe ich doch den Eindruck, als ringe er mit sich selbst, während er die nun geschlossenen Zugtüren betrachtet. Als überlege er sich, nicht doch noch einzusteigen, oder vielleicht doch noch zu warten, weitere vierzig Minuten Wartezeit, auf die nächste Person, die diesen Zug verpasst, die vielleicht weniger wachsam ist.

Der Zug setzt sich in Bewegung, und unwillkürlich seufze ich auf. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich den Atem angehalten hatte, und jetzt, da mir mein Atem bewusst geworden ist, ist es schwierig, nahezu unmöglich die Aufmerksamkeit wieder davon zu lösen, wieder automatisch zu atmen. Der Gedanke, ich müsste ersticken wenn ich aufhöre, über Atmung nachzudenken, versucht sich in meinem Kopf einzunisten, fast gelingt es mir nicht mehr ihn zu vertreiben.

Jemand räuspert sich, es ist der Mann mir gegenüber. Er hat seine Zeitung gesenkt, unsere Blicke kreuzen sich, er lächelt, nein, er grinst mich an. Nicht aus Freundlichkeit – aus blankem Hohn. Er spürt meine Angst, dafür braucht er mir nicht einmal in die Augen zu sehen, er geniesst seinen Triumph über meine Nerven.
Dann, langsam, genüsslich, blättert er die Zeitung um, hebt sie wieder vor sein Gesicht. Und noch immer spüre ich seine Augen auf mir.

Ich halte das nicht mehr aus, irgend etwas muss ich tun, um mich zu beruhigen, um wach zu werden. Bilde ich mir all diese Dinge nur ein?
Ich kneife mich in den Unterarm, zumindest der Schmerz ist eindeutig real. Vielleicht sollte ich mir ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht spritzen, vielleicht sind das alles nur Ermüdungserscheinungen?

Ich stehe auf, schultere Rucksack und Tasche. Um zur Zugtoilette zu kommen muss ich am Zeitungsleser der seine Zeitung nicht liest vorbei. Ich gehe schnell, den Blick starr geradeaus gerichtet. Er kichert leise, kaum hörbar als ich an ihm vorbeirausche. Ich bleibe nicht stehen, drehe mich nicht nach ihm um. Nur weg von hier.

Das Klicken des Türschlosses verspricht Sicherheit, doch an diesem Ort will ich lieber nicht länger als unbedingt nötig bleiben. Offenbar ist dieser Zug schon eine Weile unterwegs, und der Mangel an guter Belüftung ist hier eindeutiger als im Abteil.
Ich schaue in den Spiegel. Fast erkenne ich mich selbst nicht wieder. Angst verzerrt meine Züge, schafft eine Maske aus Panik und Abwehr, und die Augen springen hin und her, im verzweifelten Versuch, alle Ecken zugleich im Blick zu halten. Ich beschliesse, dass ich ein Mimik-Makeover nötiger habe als kaltes Wasser, und mache mich daran, meine Mundwinkel in eine halbfreundliche Position zu bringen, meine Augen zu beruhigen, kurzum, eine Tarnung zu erschaffen, hinter der ich mich verstecken kann bis ich in Sicherheit bin.
Gerade als ich mit dem Ergebnis zufrieden bin, höre ich wieder das Geräusch.
Vorhin habe ich es wohl einfach zu den normalen Zugfahrtgeräuschen gerechnet, Lärm, Hintergrundakustik, aber jetzt, als es zum wiederholten Male auftritt, bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Es klingt, als stünde jemand auf der anderen Seite der Tür, und stosse mit jeder Kurve dumpf gegen ebendiese, begleitet von einem metallischen klink, wie von einer Mantelschnalle. Als hätte dieser jemand ein schlechtes Gleichgewicht, vielleicht, weil er sich nicht festhalten kann. Vielleicht, weil er etwas anderes in der Hand hält. Eine Zeitung etwa.

Ich schlucke, schaue erneut in den Spiegel. Die Mühen von vorhin scheinen vergebens, und dieses Mal brauche ich bedeutend länger, um mein Gesicht unter Kontrolle zu kriegen. Doch endlich gelingt es - obwohl ein verräterisches Blitzen in den Augen bleibt, das man aber auch als unterdrückte Aggression auslegen könnte. Nicht das Schlechteste also, um die anderen von mir fernzuhalten.
Mit einem Ruck vom Handgelenk öffne ich das Schloss und stosse die Tür weit auf - wenn da jemand vorsteht, dann werde ich ihn voll erwischen, denke ich, kampflos werde ich nicht untergehen.

Die Tür schwingt ins Leere, auch der Gang ist leer, kein Mensch zu sehen.
Für einen Moment zögere ich, dann gehe ich zurück nach dort von wo ich gekommen war - da habe ich wenigstens den Zeitungsleser im Blick, denke ich mir. Besser, als ihn in meinem Rücken zu haben.

Mein alter Platz ist unbesetzt - genau wie der Platz des Zeitungslesers.
Ich zwinge mich zum Weitergehen, zum Hinsetzen, konzentriere mich auf meine Gesichtszüge. Jetzt bloss nicht die Fassung verlieren, denn auch wenn ich auf den ersten Blick allein zu sein scheine, ich kann nicht wissen, ob sie nicht doch hier sind, besser versteckt.

Der Zug hält wieder. Ich schaue die Gespenster an die die Nacht in das Neonlicht der Zugeingeweide ausspuckt, und als ihre Augen den meinen begegnen, zwinge ich meine Mundwinkel zu so etwas wie einem Lächeln.
Sie erwidern die Mimik, es ist, als würde ich in einen zeitverzögerten Spiegel schauen.
Sie durchschauen meine Tarnung nicht, doch ich, ich weiss genau, wer sie sind, was sich hinter ihren täuschend menschenähnlichen Masken verbirgt.
Ich bin wachsam – mich werden sie nicht kriegen.
 
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Lisra

Schmusekater
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Setzt sich problemlos neben deine anderen guten Texte.

:)
 

Kraven

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Wow... ordentlich. Richtig richtig gut. Was am Anfang in erster Linie ein surreales Gefühl erzeugt hat, baut nach dem Einstieg in den Zug richtig Spannung auf. Wohlgemerkt, ohne dass ich als Leser feststellen kann, ob die Protagonistin einfach nur paranoid ist, extrem schlechten Stoff geraucht hat oder an ihrer Angst vielleicht wirklich was dran ist (wobei ich eher zu der gestörten Protagonistin tendiere). Aber du schaffst es, die Geschichte trotzdem so zu erzählen, dass man mit ihr mitfiebert, und ich zumindest hab an der Stelle, als sie in den Spiegel schaut und die Geräusche von draußen hört, echt am Bildschirm geklebt, um zu erfahren, wie es weitergeht.
Bitte mehr davon :D
 

Mantis

Heilende Hände
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Nachdem der Text hier schon einige Zeit in den Untiefen des Festplattensumpfes vor sich hin dümpelt, und ich nicht glaube, dass ich ihn noch mal "besser" hinkriege, nutze ich einfach die allgemeine Fixiertheit auf den Schreibwettbewerb, um hier möglicherweise unbemerkt zu posten.

Zufrieden bin ich damit nicht, aber "raus" musste es trotzdem.
Entstanden aus recht ernüchternden Begegnungen von Realität und eigenen Vorsätzen...


~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ * ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~

Der Besucher.


Die Sonne scheint, es ist ein guter Tag. Ich bin zwar gerade erst aufgestanden, aber ich fühle es schon in meinen alten Knochen, so, wie andere das Wetter fühlen: heute wird ein wunderschöner Tag. Ich bin schon angezogen, sie haben heute morgen neue Kleider für mich bereit gelegt. Sie sehen nicht schlecht aus, aber selber würde ich mir so was nicht kaufen. Außerdem… ich glaube, sie sind gebraucht. Vermutlich geht auch denen das Geld aus. Die sollten besser am Bingo oder am Kuchen sparen, wo kommen wir denn sonst hin wenn hier…


In diesem Augenblick klopft es an der Tür, und Doktor Marten steckt seinen Kopf ins Zimmer. Ein netter junger Mann, sehr charmant, immer freundlich, und er gibt mir meine Medikamente damit ich besser schlafen kann, und nicht plötzlich traurig werde, wie das vor ein paar Monaten passiert ist. Aber das ist schon wieder so lange her, es ist fast, als wäre das in einem anderen Leben gewesen.
„Guten Morgen, Frau Ott, da ist Besuch für Sie an der Rezeption.“
Besuch? Für mich? Ich kriege sonst nie Besuch. Meine Kinder denken doch gar nicht mehr an mich, seit sie mich hier abgestellt haben wie ein gebrauchtes, kaputtes Möbelstück.
„Er sagt, er sei ein alter Freund aus Ihrer Jugendzeit.“
Freunde? Jugendzeit? Ja, da gab es wohl mal etwas, aber das liegt noch weiter zurück als meine letzte Depression, noch viel weiter, und die Umrisse sind verschwommen. Aber es waren gute Zeiten, da bin ich mir sicher. Wie könnten es schlechte Zeiten gewesen sein?
„Er darf gerne herein kommen“, sage ich, und als Doktor Marten die Tür hinter sich schließt und vermutlich zurück zur Rezeption läuft, schaue ich noch schnellflüchtig, damit niemand es bemerkt, in den kleinen Spiegel an der Wand und ordne mein Haar. Allein durch diese kurze Handbewegung komme ich mir um zwanzig Jahre jünger vor, mindestens. Früher war eben doch alles besser.


Ich schaue aus dem Fenster, die Sonne scheint. Ich meine ein paar Vögel zwitschern zu hören, draußen auf den Zweigen von diesem Baum, wie hieß er noch, ich glaube es fing mit B an… Buche… nein, anders.
Es klopft an der Tür, überrascht schaue ich auf, antworte nicht. Wenn ich nicht antworte, gehen sie vielleicht wieder weg und lassen mich in Ruhe. Ich will nicht, dass sie reinkommen, wenn sie reinkommen dann fragen sie mich Sachen, die ich ihnen nicht erzählen will, und dann wollen sie, dass ich Dinge tue, die ich nicht tun will, lächerliche Übungen, hin und her laufen, über meine Gesundheit reden. Die können doch sehen, dass es mir gut geht, ich bin doch aufgestanden, die Sonne scheint. Gestern haben meine Neffen mich besucht, so artige Jungen, aber sie waren so schnell wieder weg, wie schade das war. Gross geworden sind sie auch wieder, man kann ihnen nahezu beim Erwachsenwerden zusehen. Wenn sie nur öfter vorbei kämen, wenn sie nur wüssten was sie mir für eine Freude machen würden. Ich hab ja sonst niemanden.


Es klopft schon wieder, ich hatte fast vergessen, dass da ja jemand steht. Vielleicht geht er ja nicht weg, auch wenn ich so tu, als wäre ich gar nicht da. Wohin hätte ich auch gehen sollen? Ich habe ja keinen anderen Ort mehr.
Manchmal denke ich darüber nach wie das wäre, einfach wegzugehen. Ich würde nicht mal meine Sachen mitnehmen, meinetwegen können sie meine Sachen behalten, ich habe eh nie an ihnen gehangen. Ich würde einfach aus dieser Tür raus laufen, und weiter, bis nach draußen, und niemandem sagen, wo ich hingehe. Sie würden denken, ich mache nur einen Spaziergang. Sie würden es erst bemerken wenn alles zu spät ist, wenn ich schon weit weg bin.


Es klopft, und jemand drückt die Türklinke nach unten, betritt mein Zimmer. Keine Manieren heutzutage, dieses Pflegepersonal.
Der Mann der mein Zimmer betritt, gehört nicht zum Pflegepersonal, er ist gar nicht weiß gekleidet, nein, im Gegenteil, er trägt schwarz. Niemand hier trägt schwarz, nicht einmal die Physiotherapeuten und die tragen, was sie wollen. Auch keiner von den Bewohnern. Schwarz ist keine gute Farbe, Schwarz bringt Pech, denken sie, flüstern sie sich zu, aber niemand spricht es wirklich aus, niemand kann es erklären.
Dieser Mann, er weiß es nicht, weiß nicht, was man sagt. Was will er hier? Er hat Blumen. Warum hat er Blumen?

„Hallo, Karla, erinnerst du dich noch an mich?“ Er hält mir die Blumen hin. „Ich habe dir etwas mitgebracht, du magst Tulpen doch so gerne.“
Ich verstehe nicht. Ich verstehe den Mann, das schon, aber ich weiß nicht, was er hier tut. Ich habe ihn noch nie in meinem Leben gesehen.
„Was wollen Sie hier?“
„Ich komme dich besuchen, Karla. Sieht man das nicht?“ Er lächelt mich an, vertraut. Ich mag die Vertrautheit nicht, auf die sich dieses Lächeln stützt, ich mag diesen Mann nicht. Er trägt schwarz. Vielleicht wollten die anderen mir eins auswischen, vielleicht dachten sie sich, wir schicken ihr einen fremden Mann, ganz in schwarz, der so tut als würde er sie kennen. Dann wird sie sich wundern und sich überlegen, ob sie tatsächlich schon so viel vergessen hat von ihrem Leben. Na, denen werd´ ich´s zeigen, so leicht kriegen sie mich nicht!
„Wer sind Sie?“, frage ich den Mann, und ich bin ziemlich stolz darauf dass ich ihn böse und ernst anschaue. Ich bin mir sicher, er bemerkt nicht, dass ich mich so freue die List meiner Nachbarn erkannt zu haben.
Er sieht betroffen aus, ich weiß nicht, warum. Vielleicht bezahlen meine Nachbarn ihn ja nur, wenn ich auf ihn hereinfalle.
„Wir kennen uns von früher… ich war zufällig in der Gegend, und habe gehört, dass du seit kurzem hier … wohnst, da dachte ich, ich komme vorbei. Wollte dich mal wieder sehen, über die guten alten Zeiten reden, du weißt schon.“
„Die alten Zeiten waren nicht gut. Früher war alles schlechter, jetzt, erst jetzt geht es mir gut, erst hier kümmern sie sich wirklich um mich. Den Leuten früher, meiner Familie, denen bin ich egal, aber die Leute hier, oh, sie kümmern sich. Fragen immer wie es geht, und nicht nur das, nein, sie hören zu. Früher hat nie jemand zugehört, alle haben es immer so eilig gehabt. Hier hat es niemand eilig, alle haben sie Zeit, und ich habe auch Zeit, so viel Zeit wie ich noch nie in meinem Leben gehabt habe.“
„Und was machst du mit all dieser Zeit? Bist du wirklich… glücklich hier?“ Er schaut ungläubig, als könne er nicht verstehen was ich meine, als würde er in diesem Ort nicht sehen, was ich sehen kann, das freundlich lächelnde Personal, die gesprächigen und zuvorkommenden Mitbewohner, die kompetenten Ärzte, das ausgezeichnete Unterhaltungsprogramm…

„Ich weiß noch, wie du mir immer gesagt hast, wie sehr du Orte wie diesen Verabscheust. Wo die Alten, Gebrechlichen, Dementierenden hin abgeschoben werden, weil sich niemand mehr, nicht einmal ihre Familie, um sie kümmern kann, also nicht will. Wo man die Alten vor dem Fernseher parkt, sie füttert und abputzt und Bingo organisiert bis sie endlich den Löffel abgeben und Platz machen für den nächsten Alten, der den kleinen Verschlag übernimmt der die eigenen vier Wände ersetzt sobald man unterschrieben hat.
Schau dich doch mal um, schau dich an! Du kannst nicht mehr laufen, brauchst ein Metallgestell um auf den Füssen zu bleiben, wenn du nicht direkt im Rollstuhl sitzen bleibst. Früher hast du mal gesagt, wenn du deine Beine nicht mehr benutzen kannst, dann war es das für dich, so willst du nicht leben müssen, sagtest du, also würdest du dem eher ein Ende bereiten als es ertragen zu müssen.
Du hast gesagt, bevor du zu menschlichem Gemüse wirst, gibst du dir die Kugel. Lieber sterben als nicht mehr zu wissen wer du bist, wo du bist, wer die Menschen um dich herum sind, und was sie dir einmal bedeutet haben, wenn du sie denn überhaupt kennst.“
„Es hat den Vorteil, dass man jeden Tag neue Menschen kennen lernt“, sage ich, und lächle dem Unbekannten freundlich zu. Den Satz hatte ein Arzt mal zu mir gesagt; oder war es eine Schwester gewesen? Egal – aus irgendeinem Grund hatte ich ihn behalten. Vielleicht kenne ich ihn ja doch, diesen Unbekannten. Irgendein entfernter Verwandter?

Ich merke, dass er immer noch steht, und will ihm einen Sitzplatz anbieten, doch er dreht sich schon um, will wieder gehen.
„Müssen Sie denn schon wieder gehen? Ich kriege doch so selten Besuch und freue mich so, wenn ich mal mit jemandem reden kann.“
Er schaut über die Schulter zurück. „Ich hatte gehofft, hier jemand anderen zu treffen.“, sagt er, dann geht er, ohne die Tür hinter sich zu schließen.

Keine Manieren mehr, die Menschen heutzutage. Früher wäre das nicht passiert.
 

Lisra

Schmusekater
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:(

Berührend.

Mehr kann ich dazu gar nicht sagen.
 

Lisra

Schmusekater
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Topic-Hijack! Positives! Slightly!

Wolkenschauen

Hier am Boden fühle ich keinen Wind, doch in kann ihn in den Bewegungen der Wolken erkennen. Der Boden unter mir ist kalt. Das Kissen unter meinem Kopf ist weich. In meinem Magen liegt ein mächtiges Abendessen. Es macht mich schläfrig, lässt meinen Blick unscharf werden, aber es gibt in Wolken eh nicht viel zu sehen. Eher so viel, dass die Masse der Erkenntnisse in sich zusammenfällt und nichts übrig bleibt, wie beim Mischen vom Farben. In der Physik, nicht in echt. Heute Abend sind die Wolken nicht weiß, sondern Schattierungen von grau. Drehe ich den Kopf nach links formen sie ein Meer, eine unruhige, formlose Einheit. Direkt über mir ziehen sie wie eine Armee aus Nebelwesen vorüber, weder zum Sonnenuntergang hin, noch von ihm weg, als hätten sie einen Feind am Horizont und die Sonne sei der Schiedsrichter. Nebel. Bei Nebel denke ich an Zuhause. Ich habe mehrere Zuhauses. Vor ein paar Monaten habe ich eines verloren, vor einer Weile habe ich ein weiteres gefunden. Nebel erinnert mich an Berge und Täler, an nackte Felsen und Moos, aber vor allem an sich selbst, an eine undurchdringliche Wand aus weiß und grau, die die Menschen in ihre Häuser sperrt. Jetzt beginnt die Sonne ihr abendliches Feuer. Anders als zuhause wird sie nicht bis zum nächsten Tag brennen, sie wird untergehen und wiederkehren. Manchmal vermisse ich die tief rote Sonne um Mitternacht.

Es wird immer kälter. Ich sollte reingehen. Aber etwas in mir möchte nicht, es möchte liegen bleiben, in die Wolken und dann in die Nacht blicken. Für immer. Aber nicht Heute.
 

Aletheia

Sternlichtgespenst
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Topic-Hijacking? Naja dann :)

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Alleine in der Nacht

Alleine in der Nacht, um mich herum ein Lichtermeer.
Ich schaue den vorbeiziehenden Straßenbahnen zu. Wenn ich die Augen etwas zusammenkneife, sehen sie aus wie Züge aus Licht, und die Menschen darin verschwimmen bis zur Unkenntlichkeit. Wer sie sind wird reduziert auf wohin sie unterwegs sind, ein Gedanke mit dem ich mich anfreunden könnte, zumindest jetzt, in dieser Nacht.

Es könnte kalt sein in dieser Nacht, aber ich merke nichts, fühle mich wie losgelöst von der Umwelt durch die ich mich bewege. Ein Gedanke formt sich in meinem Kopf, Nebelschwaden die sich zu etwas Massivem zusammenfügen, Möglichkeiten die sich kombinieren, ausschließen, vervollständigen, bis daraus ein Plan entsteht.
Einfach losgehen.
Ein Plan, der aufgrund seines plötzlichen Entstehens zunächst unrealistisch erscheint, jedoch mit jeder verstreichender Minute plausibler wird. Und nicht nur, weil es wirklich möglich wäre, ihn durchzuführen, sondern weil das stetige Vorüberziehen der Zeit seine Durchführung einfordert. Immer mehr, immer stärker, bis es zum Drang wird. Ein Grundbedürfnis das seinen Tribut fordert, nicht mehr verstummen wird bis es angehört und ihm folge geleistet wurde.

Ich setze mich in Bewegung, wie von einem inneren Kompass geleitet, als wäre ein paar Zentimeter über meinem Magen ein sehr starker Magnet, der mich zu seinem Gegenpart zieht. Gen Süden.
Nur wenig später stehe ich am hell erleuchteten Ort von Abschied und Wiederkehr. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich durch die ausgeleuchteten Passagen gegangen bin, auf der Suche nach dem richtigen Anschluss, nach dem schnellsten Weg, nach der direkten Verbindung. Es ist auch nicht wichtig, was zählt ist nur noch das Ziel das es zu erreichen gilt.

Dann bin auch ich Teil eines Lichtschweifs, den ich natürlich nicht sehen kann, von innen nach draußen schauend. Was ich sehe ist nichts als Dunkelheit, und darin ein Ebenbild meiner selbst das mich nachdenklich aus der Schwärze heraus betrachtet.
Nicht mehr alleine in der Nacht, denn hier sind andere um mich herum, die – zumindest für den Moment – mein Ziel teilen. Wie all diejenigen, die nicht nur einen Ort zum Ziel haben, lächle ich in mich hinein: stumme Vorfreude, die sich in den nächsten Stunden mit jedem Kilometer, jedem weiteren Halt intensivieren wird, bis sie mir schier unerträglich scheint. Aber dann muss ich sie schon nicht mehr aushalten, denn dann werde ich angekommen sein.
 

Mantis

Heilende Hände
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“So hat das keinen Sinn”, seufze ich. „Wir brauchen besseres Werkzeug.“ Oder Dynamit.

Mit Mühe zwänge ich mich aus dem schmalen Spalt zwischen Wand und Maschine hervor. Arme und Rücken schmerzen, Teile meiner Kleidung sind durchnässt, und das übelriechende Wasser hat nicht nur mich, sondern auch den Grossteil des Bodens erwischt.
Vielleicht, sinniere ich, ist es gar nicht so schlecht, dass ich die Kabel nicht rauskriege. Wer weiss schon, ob nicht noch ein Rest Strom in diesem Biest steckt – gerissen und hinterhältig wartend auf den arglosen Menschen, der ihn für immer vom Versorgungsnetz ausklinken will, leichtsinnig genug, nicht im Hochsicherheitsoutfit anzutreten...
Es ist nur eine Maschine, sage ich mir, immer wieder, und doch werde ich den Eindruck nicht los, dass sie mich mit den letzten Umdrehungen ihrer mechanischen Eingeweide verspottet. Wenn ich genauer drüber nachdenke, klingt ihre Pumpe tatsächlich wie ein röchelndes Lachen, wie das eines hämischen Greises, der mit seinen letzten Atemzügen alle um ihn herum verspottet. Tatsächlich ist sie alt genug, um dement zu sein, bösartig aus Senilität.
Keine Person. Manchmal bin ich mir nicht mehr so sicher.

Frustriert suche ich das Werkzeug zusammen, das mir doch keinen guten Dienst erweisen konnte.
„Morgen geht es dir so oder so an den Kragen“, flüstere ich der Waschmaschine zu, „festsitzende Schläuche oder nicht.“

Ich verlasse das Badezimmer, schalte das Licht aus, und sehe mich noch einmal um.
Wie friedlich sie dasteht – als hätte sie nichts Böses im Sinn.

Kopfschüttelnd kehre ich in mein Zimmer zurück. Es ist schon später als ich dachte, und die neue Maschine soll morgen früh geliefert werden. Sollen sich dann doch die Monteure die Zähne an dem widerspenstigen Ding ausbeissen!


Anders als sonst schlafe ich heute sofort ein, und ich schlafe tief, in einem unruhigen Traum voller verwirrender Dramatik versunken. Blassbeige Gestalten schauen mich mit ihren tieftraurigen Bullaugen an und flehen blubbernd um eine zweite Chance, mit oder ohne Weichspüler, und ganz sicher mit Spülstopp, wenn ich mich ihrer nur erbarmen würde.
Zwei Männer in blauer Arbeitermontur tanzen in meinem Badezimmer, sie singen, nein, sie beschwören, doch ausser ihnen regt sich nichts in diesem Raum, der schon einen halben Meter unter Wasser steht.
Ich öffne eine Tür, und ein Schwall Wasser kommt mir entgegen, zusammen mit etlichen lang vermissten Socken, doch sie sind zu schnell, ich kann sie nicht ergreifen, sie entwischen mir jedes Mal um wenige Zentimeter.
„Es frisst nicht nur unsere Socken“, sagt meine Mitbewohnerin, während sie immer kleiner wird und schliesslich im unglaublich weit geöffneten Schlund der Waschmaschine verschwindet.
Ich will rennen, doch ich kann nicht, komme nicht von der Stelle – es ist, als wären meine Füsse am Boden festgewachsen. All meine Anstrengungen sind umsonst, während hinter mir die Maschine näher und näher kommt.


Mit einem erstickten Schrei schrecke ich hoch, schweissgebadet und mit schnell schlagendem Herzen, allein in der Dunkelheit.
Nur ein Traum, denke ich, wiederhole ich innerlich, bis ich mich selbst überzeugt habe. Nur ein Traum.
Dann höre ich das Geräusch.
Es ist kaum mehr als ein Flüstern, nur die Andeutung eines Geräuschs, doch es ist da. Und es flüstert meinen Namen.

Ich lausche angestrengt in die Stille, versuche auszumachen, woher das Flüstern kommt.
Da ist es wieder, am Rande des Wahrnehmbaren. „... mich nicht alleine... lass mich nicht...“
Es kommt aus dem Badezimmer, da bin ich mir sicher.

Im Bewusstsein darüber, dass ich so oder so nicht wieder schlafen könnte bis ich nicht nachgesehen habe, was da vor sich geht, stehe ich auf und schleiche in Richtung Badezimmer.
Das Flüstern verändert sich um Nuancen, von Trauer zu mühsam unterdrückter Wut.
“...nie etwas getan... kein Grund... allein gelassen... verlassen... warum... falsch gemacht...nicht gerecht..."

Es muss an meinen übermüdeten Augen liegen, dass ich einen roten Schimmer aus dem Bad scheinen sehe. Als hätte jemand vergessen, irgendein Gerät abzuschalten. Komisch, denke ich, dabei habe ich doch vorhin genau drauf geachtet, den Strom zu unterbrechen um ungefährdet an der Waschmaschine arbeiten zu können. Sie unschädlich gemacht, sozusagen.

Als ich das Bad betrete, wird mir klar wie falsch ich damit lag.
Das rote Licht, das von dem einzigen Auge der Maschine ausgeht, fixiert mich, blendet mich, erhellt zugleich den Raum – nicht sehr, aber genug, als dass ich ihre Umrisse erkennen kann. Und die Kanone, die sie auf mich gerichtet hält, die sich langsam um sich selbst dreht, während ihre unzähligen Schläuche über den feuchten Boden bis zu meinen Fussgelenken schlängeln, mich fesseln.
“Wenn ich gehen musst – dann gehst du mit mir.“
 
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Lisra

Schmusekater
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Raldaf

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Die Frage, was Du nachts so träumst, hat sich hiermit erübrigt. :D
 

skull

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Das dämonische Rödeln - Narrative Kunstfertigkeit in 'Die Miele'.

Einleitung

Seit ihrem Entstehen in der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die ‚Gothic Fiction‘(damals noch als ‚Modern Romance‘ oder, wertender, ‚Terrorist Writing‘ bezeichnet), immer wieder von einem geschlechterspezifischen Standpunkt aus untersucht und hinterfragt.

Die Kritiker des 18. Jahrhunderts befürchteten hauptsächlich, dass die „deutsche Schule der Schauermärchen“ einen schlechten Einfluss auf junge Frauen ausüben würde, bzw. dass von Frauen geschriebene, allzu emotionale und realitätsfremde Werke männliche Leser „feminisieren“ würden. (Vgl. Schwallowski, S. 1123ff.)

Die Debatte wurde damals ernsthaft geführt, auch wenn sie von einem heutigen Standpunkt aus lächerlich wirkt und an die ‚Killerspiele-Panik‘ des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts erinnert. (Vgl. Neerd, S. 2f.).
Den Siegeszug der ‚Gothic Fiction‘ konnten jedoch auch die vehementesten Kritiker nicht aufhalten, und ihr zweites Revival zu Ende des 19. Jahrhunderts bescherte uns Klassiker wie ‚Dracula‘, ‚Jekyll & Hyde‘ oder ‚The Picture of Dorian Gray‘, die anhaltend rezipiert und neu interpretiert werden.
Mit dem Aufkommen der Psychoanalyse und der Emanzipation der Frau, die schließlich im Feminismus, Post-Feminismus, Post-Post-Feminisma/mus und Bahn-Feminismus mündete, änderten sich auch die Gender-spezifischen Zugänge zu den klassischen und neuen Werken des ebenso langlebigen wie schwer zu definierenden Typus des ‚Gothic.‘

Unter der Bezeichnung der ‚Female Gothic‘ wurde postuliert dass Werke nach Weiblichkeit und Männlichkeit getrennt werden können, sowohl auf Autoren wie auf die Werke selbst bezogen. Die Schicksale weiblicher Protagonistinnen wurden als Kampf um Macht und Einfluss in einer patriarchalischen Welt oder als die Suche nach einer verlorenen Mutterfigur gedeutet.
Psychoanalytische Ansätze wiesen auf die unterdrückte Sexualität und vor allem Homosexualität hin, die sich in Werken wie beispielsweise ‚Dracula‘ äußere, und setzten sie in einen Zusammenhang mit den rigiden, misogynen Moralvorstellungen der viktorianischen Gesellschaft und den Abhängigkeits- bzw. Machtverhältnissen zwischen Mann und Frau.
Dieser akademische Trend setzte sich bis weit ins 21. Jahrhundert fort, wobei auch stets Neuerscheinungen des Genres, wie beispielsweise die Werke von Anne Rice oder die heute in Vergessenheit geratenen Romane einer gewissen S. Meyer, untersucht und in einen Zusammenhang mit Geschlechterrollen gesetzt werden. (Vgl. Sabbel, S. 243ff.).

Unter diesen Voraussetzungen ist es kein Wunder, dass auch das bekannteste Werk der sogenannten ‚neuen Gotik‘ oder ‚Cybergotik‘ des frühen 21. Jahrhunderts hauptsächlich aus einem eingeschränkten, geschlechterspezifischen Blickwinkel untersucht wurde.

‚Die Miele‘ (2011) von V. C. Mantis hat sich wie kaum ein anderes Werk dieser Zeit tief und fortdauernd in unser kulturelles Gedächtnis eingegraben. Während spätere Werke von V. C. Mantis bedeutend mehr Lob von Seiten der Kritiker zugesprochen bekamen und den Buchmarkt über Jahrzehnte dominierten, blieb der finanzielle und kulturelle Erfolg von ‚Die Miele‘ unerreicht. Das Werk wird derzeit in der 97. Auflage verlegt, während die 2028er VR-Adaption von Quentin Tarantino trotz ihrer Antiquiertheit weiterhin als ein Meilenstein der Filmgeschichte gefeiert wird. (Vgl. Giek, S. 43ff.; S. 87f.).

Im Gegensatz zur Bedeutung und Beliebtheit des Werkes steht die bedauerliche Fixation der Literatur- und Filmwissenschaftler auf einen rein Geschlechtertheoretischen Zugang. So bedauerlich und veraltet dieser Zugang auch ist, so ist er auch verständlich und im Werk selbst begründet.
Das Eindringen der weiblichen Protagonistin in die (damals so empfundene) Männderdomäne der Waschmaschinenreparatur sowie die damit verbundenen dramatischen Konsequenzen bieten sich vordergründig für eine Analyse der nach heutiger Sicht rückständigen Geschlechterverhältnisse des frühen 21. Jahrhunderts an.
Nachdem dieser Zugang recht schnell als allzu trivial abgetan wurde, verlegten sich die Interpretationen stattdessen auf Untersuchungen des gestörten Mutter-Kind-Verhältnisses. Zentral ist hierbei natürlich die Szene, in der die Protagonistin ihr „Kind“, das Monster, mit Hilfe der männlichen Autoritätsfiguren Möbelpacker 1 und 2 „verstößt“, nachdem sie es nicht „reparieren“, also nach ihren Vorstellungen formen konnte. (Vgl. zB. Handdarg, S. 37ff.; Schnidl, S. 567ff.; Trumens, S. 2ff.).
Dieser Ansatz ist durchaus wertvoll und nachvollziehbar, konnte jedoch bald nicht mehr um neue Erkenntnisse bereichert werden. Stattdessen versuchte man sich nun an sexuellen Deutungen des Geschehens, die alsbald ins Absurde abglitten.

Hierfür muss auch die bereits erwähnte Tarantino-VR verantwortlich gemacht werden. Zu oft wird, auch von Seiten der Forscher, vergessen, dass die Figur des Sebastian Kull von Tarantino der Geschichte hinzugefügt wurde und sich nicht im originalen Text findet.
Kull verschiebt mit seinen ins lächerliche gezogenen Versuchen, durch eine Reparatur der Maschine die Gunst der desinteressierten Protagonistin zu gewinnen, und vor allem seinem grausamen, sexualisierten Tod durch die eifersüchtige Miele, den Fokus der Erzählung deutlich, weshalb vor allem in geschlechterspezifischen Fragen stark zwischen der VR und dem zugrunde liegenden Original unterschieden werden sollte.

Zielsetzung

Diese Arbeit soll sich ausschließlich auf das literarische Original beziehen, wobei Geschlechterfragen nicht mehr erörtert werden.
Ziel der Arbeit ist eine Analyse der zugrunde liegenden Erzähltechniken. Dadurch soll aufgezeigt werden, dass die große Kunstfertigkeit, welche die Literaturwissenschaft allen späteren Werken V. C. Mantis‘ zuweist, sich auch in ‚Die Miele‘ belegen lässt.
An erster Stelle steht eine Analyse der Stilmittel, die eingesetzt werden, um dem Werk seine dichte, erschreckende Atmosphäre zu verleihen. V. C. Mantis greift dabei vor allem die Angstvorstellung vor dem ‚Monster im Keller‘ auf und führt sie auf die nächste Stufe.

Wer kann beispielsweise ahnen, wie viele der Leser des durch Aberglauben geprägten 21. Jahrhunderts nachts wach gelegen haben und vermeinten, das bedrohliche Rödeln einer Wäschetrommel zu vernehmen? (S. 52f.) Noch heute lässt die Beschreibung dieser berühmten Szene schauern; damals muss sie mit fast unerträglicher Intensität gewirkt haben.

Es soll nun zunächst […].
 
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Lisra

Schmusekater
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Diese bahnbrechende Analyse unseres führenden Experten in Literaturwissenschmacht verdient ebenso viel Beachtung wie das beschriebene Werk.

:up:
 

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Running out of Time
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Den Guttenbergorden für die Sekundärliteratur und ein Jahresabo Waschmittel für den Traum.
 

Mantis

Heilende Hände
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Das hier ist im letzten Winter entstanden, und vermutlich ist es selbsterklärend.
Warum hab ich solche Ideen eigentlich hauptsächlich, während ich auf irgendwelche öffentlichen Verkehrsmittel warte? :hae::D

---

Im Winter bricht die Nacht schnell herein, schneller als man denken würde. Dies ist nicht mein erster Winter, und doch muss ich zugeben, dass die Dunkelheit mich an diesem Abend unerwartet trifft.

Das letzte bißchen Abenddämmerung mischt sich mit dem ersten Licht der noch zaghaften Straßenlaternen, deren Neonkreise sich bald blendend hell vom Rest der nächtlichen Stadt abheben werden.
Ich fürchte mich vor diesem Moment, in dem jeder Schritt aus den erleuchteten Kreisen in die Schwärze hinein ein Schritt ins Ungewisse sein wird. Ich würde die Laternenstraßen gerne ganz vermeiden, doch mein Weg führt mich durch das Neue Zentrum, in dem so gut wie jeder Weg beleuchtet ist, beleuchtet sein muss. Im Kreis der Laterne sehe ich zwei Schritt in jede Richtung, scharf gezeichnete Konturen, beruhigend regungslos. Doch sobald ich ihren Radius verlasse, befällt mich erneut die Nachtblindheit, und durch den steten Wechsel zwischen grell und dunkel ist es, als verweigerten meine Augen schlussendlich die Anpassung, als würden sie – überfordert von der Situation – sich einfach abschalten.

Wenn man eines Sinnes beraubt ist, so schärfen sich die anderen, und so spitzen sich meine Ohren in der Dunkelheit, und ich fahre bei jedem Geräusch zusammen und beschleunige meine Schritte, die Hände tief in den Manteltaschen. Dabei bin ich eigentlich zu alt, um an Monster zu glauben die in der Dunkelheit lauern.
Trotz aller halbblinden Anstrengungen sehe ich nie jemanden auf der Strasse. Doch obwohl ich niemanden erkennen kann, weiß ich, dass sie da sind, auch wenn man natürlich nie sicher sein kann. Better safe than sorry, das hat man uns so oft zu erklären versucht – und wer die Lektion nicht beim ersten Mal lernt, kriegt meist keine zweite Chance.


Ich erreiche die Haltestelle sowohl zu spät als auch zu früh, genau zwischen den Abfahrtszeiten. Trotz allem (der Kälte, der Dunkelheit, den Umständen) sind noch überraschend viele Menschen unterwegs, besonders für diesen Ort, der noch nie viel mehr als eine Kleinstadt war.
Ich erkenne jene Menschen, die schon zum Inventar der Haltestelle gehören zu scheinen. Sie trinken und rauchen und unterhalten sich laut, wie immer, und ab und an verschwindet einer von ihnen ins karge Gebüsch. Wer hätte gedacht, dass das Leben für die meisten von uns im Großen und Ganzen so weitergehen würde?
Ich schaue nicht lange zu ihnen herüber, habe das auch früher nie gerne getan. Ein Blick reicht, um mich zu vergewissern dass sie da sind, dass ich nicht ganz alleine hier stehe.

Ich warte auf den Bus, und die Momente kriechen zähflüssig vorüber, bleiern hängen die Sekunden in der Luft. Es gibt keinen Fahrplan, schon lange nicht mehr, doch ich bräuchte ihn auch nicht um zu wissen, wie lange ich noch warten muss. Es ist immer zu lange, ungeachtet der Minuten, aber wenn objektive Zeit eine Rolle spielen würde, dann wären es noch zehn Minuten.

Während ich stehe und warte, beginnt es zu schneien. Ich strecke einen behandschuhten Arm aus und beobachte, wie die Schneeflocken auf meinen Fingern schmelzen.
Die Flocken werden grösser, der Schneefall dichter. Ich seufze. Das hatte noch gefehlt.


Das Neonlicht reflektiert auf der Schneeschicht die mit jeder Minute weiter anwächst, und taucht meine Welt in ein unecht wirkendes Blau. Mir ist kalt – den ganzen Tag schon, doch erst dieses unwirkliche, unpersönliche Licht macht es mir bewusst.
Mein Blick wandert, doch die Schatten außerhalb des Lichtfelds machen mich nervös. Ich beginne im Kreis zu laufen, in Ellipsen, immer hin und her, bis ich einen erkennbaren Pfad in den Schnee getreten habe. Das Tigern lenkt mich ab, ich schaue auf meine Stiefel statt auf meine Umgebung, und für einen Augenblick vergesse ich, wo ich bin.


Etwas regt sich am Rande meines Blickfelds, und schon bin ich wieder im Hier und Jetzt.
In einer gut ausgeleuchteten Seitenstraße sehe ich eine vermummte Gestalt, die langsam, aber zielsicher auf die Haltestelle zukommt. Sie hebt die Füsse nicht einmal mehr vom Boden, schlurft eher als dass sie läuft. Es war ein langer Tag, und auch sie will vermutlich nach Hause – wie wir alle.

Je näher die Gestalt kommt, desto unwohler wird mir, doch erst als sie den großen Platz betritt der früher einmal Bahnhofsvorplatz hiess und heute nur noch als Haltestelle bekannt ist, wird mir klar, was mit ihr nicht stimmt.

„Achtung!“, schreie ich, meine Stimme ein unwirkliches Krächzen in der bisher noch idyllischen Winterstille. Innerlich verfluche ich mich für meine späte Reaktion, schließlich wurde ich für genau diese Art Situation trainiert.
Ich setze mich in Bewegung, um mich zwischen sie und die Zivilisten zu bringen, doch meine Warnung hat nicht nur die Zivilisten erreicht – die Kreatur weiß, dass sie entdeckt wurde, muss ihre Tarnung nicht mehr aufrecht erhalten. Auch sie rennt jetzt, und erreicht als erste den armen Unglücklichen, der gerade aus dem Gestrüpp zurückkehrt.

„Lauf!“
Zu spät, für ihn. Ich überwinde den Drang zum Zögern als das, was einmal Mensch war, über den Obdachlosen herfällt. Keine Zeit für Zweifel, keine Zeit für Angst, die ich nur allzu deutlich in mir fühle.
Noch rennend springe ich ab und nutze meinen Schwung für einen Tritt, der die Kreatur an der Schulter trifft. Sie wird zurückgestoßen und fällt, ich komme auf Händen und Füßen auf.
Ich habe mit meinem Angriff nur Sekunden gewonnen, doch diese Sekunden sind alles was ich brauche.
Nur ein Griff unter den Mantel, und die Waffe liegt warm und vertraut in meiner Hand. Nicht nachdenken. Ich ziele, drücke ab – drei mal, wie man es mir beigebracht hat. straight to the head.


Die Kreatur zuckt noch ein letztes Mal, dann rührt sie sich nicht mehr. Das ist an sich auch nicht so verwunderlich, denn von ihrem Kopf ist nicht mehr viel übrig.
Dennoch warte ich noch einige Sekunden, bevor ich mich zu den Zivilisten umdrehe. Better safe than sorry...
„Alles in Ordnung?“, frage ich, wider besseres Wissen. Man bringt uns bei, so etwas nicht zu fragen, sondern vielmehr dafür zu sorgen, dass sich die Frage gar nicht erst stellt.
Ich stelle sie trotzdem – ich konnte mich nie wirklich mit diesem elitären Gehabe der Bürgerwehr anfreunden, auch wenn ich jetzt zu ihnen gehöre. Zivilisten oder nicht, sie sind immer noch Menschen – was sich nicht von allen sagen lässt, die dieser Tage auf den Straßen anzutreffen sind.
„Glaub schon“, antwortet einer von ihnen, „aber der Bastard hat Tommi erwischt.“
„Ist es vorbei?“, fragt eine Frau, eine zerbrochene Glasflasche in ihrer zitternden Hand.

Nichts ist vorbei oder überstanden, doch mir bleibt keine Zeit für Erklärungen.
Die erste Kreatur war nur eine Ablenkung – sie mögen ihre Menschlichkeit verloren haben, aber ihre Intelligenz ist geblieben, und mit ihr die Hinterlist.
Sie kommen von der anderen Seite, der Südseite, und es sind viele, vielleicht ein Dutzend.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren lege ich an, ziele, drücke ab.

Meine Munition reicht nicht um sie alle unschädlich zu machen, selbst wenn ich gut genug wäre um mit jedem Schuss zu treffen – aber es bringt zwei von ihnen zu Fall, und es hat einen beachtlichen Effekt auf die Motivation der Zivilisten.

Als ich meine nun unbrauchbare Glock wieder in meinem Mantel verschwinden lasse und die beiden Messer von ihren Halterungen löse, wird mir klar, dass Motivation allein nicht genug sein wird. Noch acht Minuten...


--


Ich bin zu alt um an Monster zu glauben, die in der Dunkelheit lauern. Ich habe schon vor vielen Jahren herausgefunden, dass ihnen die Tageszeit nichts weiter ausmacht – die variierenden Grade der Helligkeit machen es nur einfacher oder schwieriger, sie von den lebendigen Bürgern zu unterscheiden.

Als ich das dunkle Blut von den Klingen wische, wird mir wieder einmal klar, dass ich es hasse. Ich hasse es, ein Teil der Bürgerwehr zu sein, hasse es, mit der Waffe in der Hand und dem Geist in Alarmbereitschaft zu leben. Aber mir bleibt keine Wahl – wer hat die schon, wenn es ums Überleben geht?
Die Haltestelle liegt wieder still da, vom seltenen Stöhnen der Verwundeten abgesehen, doch auch dies ist etwas, an das wir uns erschreckend schnell gewöhnt haben. Innerhalb der nächsten Stunden schon wird sich herausstellen, wer von den Verletzten den Gnadenstoß benötigt, und wer das Glück hatte, nicht infiziert worden zu sein – und dann wird ein jeder wissen, was zu tun ist, und wird tun, was getan werden muss.
Jeder hat seine Aufgabe, meine Aufgabe ist das Töten und das Beschützen, und das ist, was ich tue, was ich gut tue. Ich bin in gewisser Weise erleichtert, dass es nur das Töten der Kreaturen ist, und nicht das der einstigen Kameraden. Die Bürgerwehr ist immun – deshalb wurden wir auserwählt, deshalb können wir überleben, können wir kämpfen wo andere versagen, und deshalb werden wir immer wieder in diese Gebiete geschickt, bekommen wir Aufträge, die uns in die Infizierten Regionen führen.

Aus einer alten Gewohnheit heraus die ihren Nutzen überlebt hat, hebe ich den Blick und schaue zur Ruine herüber, die einmal die Wartehalle beherbergt hat. Früher hing an der Fassade eine grosse Uhr, mit Leuchtziffern und einem hinkenden Sekundenzeiger. Keiner weiss genau, was mit ihr passiert ist, und niemand kümmert sich um Ersatz. Wofür auch? Wir haben diesen Ort schon längst aufgegeben. Nicht offiziell, doch im Geiste, im Verhalten – und das ist das, was zählt.

Noch zwei Minuten.

Ich warte auf den Bus.
 

Lisra

Schmusekater
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Geschichten erzählen sich nicht von selbst. Das Leben passiert von selbst, egal ob und wie sehr man das Gegenteil wünscht, aber Geschichten müssen erzählt werden. Jeder von uns befindet sich in einer besonderen Geschichte und jeder kann indem er zum Beispiel einfach die Augen öffnet und zugreift eine weitere Geschichte fangen und sie erzählen. Irgendwas in diese Richtung habe ich auch vor. Nach vorne sehen, zugreifen, und euch erzählen was ich in den Händen halte, eine weitere Geschichte, einen losen Faden der vielleicht in eine sinnvolle Richtung läuft und vielleicht versandet. Im Endeffekt interessiert es niemanden so genau.

Stellt euch ein paar Farben vor, ganz einfache, elementare Farben. Grau, grün und rot. Sie bilden die Schlüsselelemente. Grau beschreibt nicht nur die Straße ganz gut, auf der zwei Figurennebeneinander laufen, langsam und sich bei den Händen haltend, sondern auch den Blick in ihren Augen, den Himmel und die Farbe aller die ihren Weg kreuzen auf dieser wirklich sehr einsamen Straße. Grünes gibt es auf der Straße, auf dem ganzen Weg den die beiden vor sich haben nicht, das müsst ihr euch selber vorstellen. Bäume, Sträucher, Gras vor den grauen Häusern machen das ganze angenehmer, also denkt es euch ruhig, vergesst jedoch nicht, es existiert eigentlich nicht. Es gibt nur grau.

Aber rot gibt es. Es sickert aus der langsam über die Kleidung unseres Paares und hinterlässt eine Spür, eine rote Linie, so unregelmäßig wie der Schritt der beiden. Tritt ein anderer der grauen darüber, so bleibt nichts kleben, gar nichts, ja sie scheinen noch nicht einmal zu bemerken was dort sich über die Straße zieht. Es ist wie das grün, es ist nicht wirklich dort.

Als sie weiter die Straße entlanggehen, sieht man immer mehr rot, man muss nur gut schauen. Es breitet sich langsam von den Fingerspitzen aus, bald umfasst es beide Hände, je fester sie einander halten, desto stärker scheint das rot über dem grau. Ein Mann in grau stößt fasst mit den beiden zusammen, als er aus einer Seitenstraße gerannt kommt. Er starrt entgeistert auf die Farbe an deren Händen, als habe er sie noch nie zuvor gesehen und eilt dann davon, seine grauen Augen aufgerissen in Unverständnis, gar Abscheu. Verwirrt gehen sie weiter.

Irgendwann ist die Straße zu ende.

Ein Zaun schützt die Fußgänger davor in das graue Flusstal zu stürzen und lädt sie stattdessen dazu ein, den Blick in die Ödnis zu genießen. Es gibt auch hier keine großen grünen Bäume an den Kanten des Tals zu sehen, kein Gras zwischen den Felsen des Abhangs, doch stellt es euch bitte trotzdem vor. Alles wirkt schöner mit etwas grün.

Die beiden bleiben stehen und lösen ihre Hände.

Das rot versickert hinter ihnen, sie bleiben grau. Sie starren sich gegenseitig an, blicken ohne Rührung in die Seele des andern.

Sie ist grau.

Doch auch wenn es gar nicht da ist, sie sehen auch rot. Und als sie jeweils einen Schritt machen, sich zuerst in die Arme nehmen und dann, schnell und ohne jegliche Romantik küssen, da leuchtet das paar Lippen in feuerrot, sickert über das Gesicht, über den ganzen Körper und lässt sie beide in einem farblichen Feuer aufgehen, das nicht abklingt, solange sie beieinander sind.

Doch auch sie lösen sich wieder. Und das grau kehrt zurück.

Doch ist es einmal da, kann rot nicht mehr ausgewaschen werden, egal wie grau die Welt um uns sein mag.

Erinnert euch daran und tragt die Farbe in eurem grauen Herzen, bevor es stockt, sich leert, schwarz wird, denn schwarz ist nicht wie einfaches rot, es durchdring und zerteilt, lässt nicht mehr los und verdirbt jede neue Farbe die in euer Herz dringen will.
 

Mantis

Heilende Hände
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Ich hab da mal wieder was geschrieben. Wenn jemand was dazu sagen will, freu ich mich natürlich.
Und: Wer davon einen Ohrwurm bekommt, der darf ihn behalten :p

---

Baumarkt


Manchmal kommen die Dinge im Leben anders als man denkt. Manches kann man nicht planen, manches passiert so plötzlich und ohne Vorankündigung, dass man sich unmöglich darauf vorbereiten kann.
So wie diese alljährlich wiederkehrenden Ereignisse, die einen vollkommen überraschend treffen.
So wie Weihnachten.

Es war wie jedes Jahr; irgendwann in der Woche vor Heiligabend stellt man fest, dass man nicht nur keine Geschenke, sondern auch sonst nichts vorbereitet hat. Mit Hilfe des allmächtigen Internets lässt sich zumindest die Geschenkefront auch noch mitten in der Nacht sichern, doch manche Dinge erfordern dann doch die persönliche Anwesenheit. Wie zum Beispiel der Verwandtschaftsbesuch.
Und so entschied ich mich an diesem Donnerstagabend schweren Herzens, mich in das feierabendliche Drängen und Schieben eines Baumarkts zu begeben, in der Hoffnung, dort einen kleinen, halbwegs ansehnlichen und halbwegs bezahlbaren Weihnachtsbaum zu erwerben um wenigstens den Anschein weihnachtlicher Stimmung zu wahren.

Ich stehe draußen in der Kälte, in der Abteilung für Gartenpflanzen und Holz, und kann mich nicht entscheiden. Eigentlich sollte man meinen, dass einem eine so triviale Entscheidung leicht fallen müsste, ja, das es nicht einmal eine Entscheidung erfordert. Einfach reinlaufen, den erstbesten Baum greifen, bezahlen, und wieder gehen, den Baum im Schlepptau. Aber jetzt, da ich zwischen den Vogelhäuschen und den Weihnachtsternen stehe und meinen Blick über das nicht mehr so üppige Angebot an Zimmerbäumen schweifen lasse, stehe ich vor einem mittelgroßen Dilemma. Nehme ich die leicht schiefe Tanne mit dem dichteren Geäst, oder lieber das gerade dünne Ding? Wie hoch soll das eigentlich sein, und brauche ich nicht noch einen Baumständer?

Inmitten all dieser essentiellen Fragen muss ich mein Zeitgefühl verloren haben. Dunkel war es ja vorher schon, und vielleicht waren im Außenbereich die Lautsprecher kaputt. Erklären kann ich es mir noch immer nicht. Doch als ich mit meiner Wahl – einer kleinen, widerspenstigen Tanne (passt irgendwie, dachte ich) – unterm Arm wieder rein gehen will, zur Kasse, nach Hause, stehe ich vor verschlossenen Türen.
Ich versuche mehrmals mein Glück, schiebe, drücke, ziehe, wedele mit den Armen vor dem toten Lasersensor herum, doch nichts passiert. Ich rufe, erst verhalten, dann energischer, panischer.
Niemand reagiert, und jetzt fällt mir auf, dass auch im Innern des Baumarkts kein Licht mehr brennt.
Ich beschließe, dass mir unter diesen Umständen die Weihnachtsstimmung herzlich egal ist, lasse den Baum, der nun doch nicht meiner werden soll, bei der Tür stehen und laufe den Außenbereich ab, erst langsam, dann mit zunehmender Hast und Wut, die dann schließlich, als ich auch keinen Not- oder anderen Ausgang finden kann, in Panik umschlägt.
Panik, denke ich, während ich einen nicht ganz so schweren Zierbrunnen zur Tür schleppe. Das werde ich auch meinem Anwalt erzählen. Wenn ich hier jemals rauskomme, und falls die vom Baumarkt tatsächlich den Nerv haben sollten, mich wegen Sachbeschädigung drankriegen zu wollen.
Ich versuche tatsächlich, die Glastür so diskret wie möglich einzuschlagen, auch wenn das Resultat nicht unbedingt mit meinen Absichten übereinstimmt. Das zerspringende Glas zerreißt die Stille wie ein Schrei.
Ich lausche in die wiedereingekehrte Stille. Nichts. Keine herannahenden Schritte, keine Sirenen, keine Alarmanlage. Sonderbar.
Wenigstens lässt die Tür sich von innen leicht öffnen. Drinnen empfängt mich abgestandene Baumarktluft (neue Elektronik, Holz, Gummi, Staub) und das spärliche Leuchten der Notausgangschilder, die nutzloserweise auf die Tür hinter mir zeigen.
Zum Glück ist mein Orientierungssinn nicht so schlecht, zumindest in geschlossenen Räumen. Ich mache mich auf den Weg zum Haupteingang, laufe durch den Bereich für Inneneinrichtung zur Sanitärabteilung, komme an Duschen und Badewannen vorbei und bleibe wie angewurzelt stehen.
Ein paar Meter vor mir steht eine große Gestalt, der Körperform nach zu schließen ein Mann, ganz in schwarz gekleidet und mit einer Sturmmaske über dem Kopf.
Er sieht mich nicht, denn er hat sich und seine Aufmerksamkeit völlig auf die Frau vor sich gerichtet, die vor ihm liegt, vielleicht bei einem missglückten Fluchtversuch gestürzt ist und gerade ebenso verzweifelt wie erfolglos versucht aufzustehen. Sie rutscht immer wieder weg, ihre Schuhe finden keinen Halt auf dem Boden. Eine dunkle Flüssigkeit hat sich unter ihrem Körper gesammelt und bedeckt ihr linkes Bein, und in ihrem Gesicht steht flehende Panik geschrieben.
Erst dann sehe ich das Messer in seiner Hand.
In solchen Momenten siegt der Überlebenswille über Solidarität und Zivilcourage. Ich drehe mich um und renne.
Ich glaube, die Frau hat mich nicht gesehen. Ich hoffe es.

Ich renne so weit ich kann, verliere zwischendurch doch die Orientierung und komme in der Bodenbelag-Abteilung zum Stehen. Ich kann nicht mehr weiterlaufen, kriege kaum noch Luft.
Was soll ich tun, wo kann ich hin?
Die Teppichrollen scheinen mir ein guter Ort, um wieder zu Atem zu kommen. Meine rasenden Gedanken zu ordnen und mir einen Fluchtplan zu überlegen.
Wenn... sobald ich hier raus komme, hole ich Hilfe. Natürlich habe ich mein Handy nicht dabei. Wollte doch nur mal kurz zum Baumarkt, einen Weihnachtsbaum kaufen.
Während ich mich tiefer hinter die Teppichrollen drücke, frage ich mich, ob anderen Leuten eigentlich auch solche Sachen passieren, und ob die dann nur einfach nicht davon erzählen.
Langsam beruhigt mein Atem sich, und ich nehme mehr von meiner Umgebung wahr. Das hässliche blau-graue Teppichmuster neben mir. REM’s shiny happy people, das gedämpft aus den Lautsprechern schallt. Vermutlich nicht. Vermutlich sind die bescheuerten Zufälle, die sich in dieser Welt ereignen, verdammt ungerecht verteilt, und immer zu Ungunsten derer, die am wenigsten damit umgehen können.

ich versuche, zwischen den aufgerollten Scheußlichkeiten den Ausgang zu erkennen, sehe aber nur die grünweißen Schilder, die mir den Weg in die Freiheit weisen. Der Ausgang kann nicht weiter als 200 Meter entfernt sein, aber er könnte sich genauso gut am anderen Ende der Welt befinden. Selbst wenn ich es schaffe, vor ihm zur Tür zu kommen, wie geht es dann weiter?
Wenn ich ein Psychopath wäre, der nachts Leuten im Baumarkt auflauert, wäre das erste, was ich tun würde, alle Fluchtwege zu blockieren.

Ich brauche eine Axt.
Der Gedanke, erschreckend gewalttätig, ergibt sich als vollkommen logische Folge aus meiner Situation. Keine Ahnung, wo die Werkezugabteilung ist, aber weit kann es nicht sein.
Hoffentlich nicht zu weit.

Ich warte, horche, das Herz schlägt irgendwo in meiner Kehle, viel zu schnell.
Ich suche nach seinem Schatten, doch ich erkenne nichts.
Ist das gut oder schlecht?
Vielleicht ist es ihm zu blöd geworden. Oder vielleicht steht er schon in der Werkzeugabteilung und wartet auf mich. Ich schüttel den Gedanken ab, mühsam, und etwas davon bleibt an mir hängen, klebt an mir wie die Überreste eines Spinnennetzes, in das man ahnungslos hineingelaufen ist. So wie ich in diesen Laden.
Ich lausche in die gespenstige Leere, doch ich höre keine Schritte, keine Schreie. Warum schreit sie nicht?

Jetzt sind bestimmt schon fünf Minuten vergangen. Inzwischen läuft last christmas im Radio – wer hat das eigentlich angelassen, und warum?
Ich habe es immer noch nicht geschafft, mich aus meinem Versteck zu wagen und zur Werkezugabteilung zu rennen.
Ich brauche ein paar Sekunden, um die plötzlich eintretende Stille zu bemerken. Nie hätte ich mich mehr über Wham! gefreut als in diesem Augenblick, in dem das typische Läuten erklingt, das eine Durchsage vom Personal ankündigt.
Sekundenlange Stille, ein Knacken, Rauschen.
Dann diese Stimme, wie Schmirgelpapier über Glas.
„Du kannst dich nicht für immer verstecken. Ich werde dich finden.“
Danach Rauschen.
This year
to save me from tears
I’ll give it to someone special


Das ist zu viel. Etwas in mir zerbricht, und aus den Scherben ziehe ich irgendwie den Mut, die Energie, mich aus dem Versteck hervorzurollen und loszurennen.
Adrenalin schärft meine Sicht, ich nehme meine Umgebung deutlicher wahr als sonst, renne schneller, als ich es jemals für möglich gehalten hatte.
Ich habe nur noch mein Ziel im Kopf – die Axt, eine Axt, irgendeine.
Alle anderen Gedanken verschwinden, werden unwichtig.
Dann habe ich die Werkezugabteilung erreicht, ziehe an Spaten, Rechen, Sägen vorbei. Komme schlitternd vor den Äxten zum Stehen, höre lautes, hektisches Atmen, das ich erst nach einer Weile als mein eigenes erkenne. Reiße ein Beil aus der Halterung, es ist eigentlich viel zu schwer für mich, doch meine Panik überstimmt meine protestierenden Muskeln.
Ich reiße die lächerliche Pappabdeckung von der Klinge und schon renne ich wieder.
Stoppe dann abrupt, als meine Vernunft meine davongaloppierenden Panik einholt. Falls ich diesem Wahnsinnigen auf dem Weg nach draußen begegne, will ich nicht außer Atem sein. Egal, wie kleine meine Chancen sind – ich muss sie nicht noch zusätzlich minimieren.

Also schleiche ich weiter, leicht geduckt, und zwinge mich dazu, so ruhig wie möglich durch die Nase zu atmen.
Nur noch an einer Regalreihe vorbei, dann bin ich an den Kassen. Dahinter ist der Ausgang.
Bis jetzt keine Spur von dem Psychopathen in Schwarz. Wenn ich mich nur durch die Tür und nicht auch noch durch ihn hacken muss, umso besser. Fast entflieht mir ein hysterisches Lachen, als mir meine blutrünstigen Gedanken bewusst werden. Meine Gedanken.
Was macht dieser Ort mit mir?

Dann stehe ich endlich vor der Glastür, und für einen Moment schafft es mein bürgerliches Gewissen, mich zögern zu lassen. Doch der Moment vergeht.
Was ist schon Sachbeschädigung?

Das splitternde Glas klingt wie Triumph in meinen Ohren – Freiheit! Sicherheit, in Reichweite!

Ich zwinge mich, langsam durch die zertrümmerte Tür zu steigen, in gemessenen Schritten an den Kachelöfen und Gartenzwergen und Fliesenmustern vorüber zu gehen.
Die winterlich kalte Nachtluft umarmt mich wie ein lang vermisster Freund als ich auf den Parkplatz trete.
Ich atme tief durch, die Luft ist kaltes Feuer in meinen Lungen. Nur noch ein paar Meter bis zum Zaun, dann bin ich aus dieser Hölle entkommen.
Moment.
Zaun?
Beim Reinkommen war er mir gar nicht aufgefallen, jetzt ragt er vor mir auf, mindestens drei Meter hoch, ein unüberwindbares Hindernis für jemanden meiner Statur und mit meinen (nichtvorhandenen) Kletterfähigkeiten. Nicht einmal das Beil hilft mir hier weiter.
Frustriert trete ich gegen das Gittertor, das – natürlich – nicht nachgibt.
Gefangen.
Es muss doch mehr als einen Ausgang geben?
Ich drehe mich um. Vor mir steht der Kerl in schwarz. Kalte Augen funkeln mich unheilverkünden aus der Sturmmaske an. Mein Blick überfliegt ihn. Breite Schultern, ein dunkler Pullover, der über der Brust spannt und locker über der Bauchgegend liegt. Behandschuhte Hände, zu Fäusten geballt, kein Messer, das ich sehen könnte, aber das heißt ja nichts.
Springerstiefel, schwarze Cargohosen. Die Statur und Haltung eines Kämpfers, denke ich, erstaunt über die Ruhe in meinen Gedanken und meinen Händen, die das Beil ohne die Spur eines Zitterns halten.

Ich weiß nicht, wie lange wir da stehen und uns anstarren, es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Meine Muskeln verkrampfen sich, doch ein Positionswechsel ist keine Option.
Nach einiger Zeit nehme ich eine subtile Veränderung wahr. Zuerst kann ich sie nicht einordnen, doch dann, nach weiteren schmerzerfüllten, angespannten Sekunden wird mir klar, was es ist.
Mein Gegenüber lächelt.
Ich kann zwar seinen Mund nicht sehen, doch in seinen Augenwinkeln formen sich Krähenfüße, Lachfalten, deren Vielzahl und Tiefe dafür sprechen, dass er oft und gerne lacht.
Klar, denke ich mir, das sagen die ahnungslosen Nachbarn hinterher doch immer über die Amokläufer und Kindesentführer. War doch so ein netter Kerl... hätte nie gedacht, dass ausgerechnet er... hat doch immer so freundlich gegrüßt im Treppenhaus...

„Du hast dich gut geschlagen. Mein Kompliment – auf die Idee mit dem Beil ist bis jetzt noch niemand gekommen.“
Der kranke Bastard macht so was also öfter? Und hat auch noch Spaß daran... natürlich hat er das.
„Lass mich gehen.“ Meine Stimme klingt heiser, fremd. Nicht wie meine eigene.
Ich hebe die Axt ein wenig, wie um einer Entschlossenheit Ausdruck zu verleihen, von der ich nicht sicher bin, ob sich sie verspüre.
Die Lachfalten werden tiefer.
„Sonst?“
Satzfetzen blitzen durch meinen Kopf, einer lächerlicher als der andere.
... schlag ich mich durch dich durch... wirst du es bereuen... mache ich dich fertig...
Ich sage nichts, mache nur einen Schritt auf ihn zu. Er rührt sich nicht, zuckt nicht einmal mit der Wimper.

„Ich glaube, das reicht jetzt.“
Eine Frauenstimme, irgendwo links neben mir. Ich drehe den Kopf, behalte den Kerl in schwarz im Blick. Lasse fast meine Axt fallen, als ich sie da stehen sehe, lässig an den Zaun gelehnt.
Die Frau von vorhin.
Die Angst ist völlig aus ihren Augen verschwunden, fast hätte ich sie nicht wiedererkannt. Ihre Haltung hat nichts unterwürfiges, nichts wehrloses mehr, und das, was ich vorhin für Blut gehalten habe ist inzwischen getrocknet und sieht gar nicht mehr lebensbedrohlich aus.
„Was...?“ Mehr bringe ich nicht heraus.
„Beruhige Dich und nimm erst mal das Beil runter, bevor Du Dich noch verletzt“, sagt der Mann.
„Was?“
„Extreme Zeiten erfordern extreme Maßnahmen. Du wurdest soeben einem Stresstest unterzogen, und ich denke, ich spreche für das gesamte Team, wenn ich dir zu einer ausgesprochen guten Performance gratuliere. Beeindruckend, wirklich.“
„Darauf falle ich nicht rein. Ich weiß nicht, was für ein krankes Spiel ihr hier treibt, aber mich kriegt ihr nicht!“
Ich fasse die Axt fester, trete einen Schritt zurück, um beide gleichzeitig im Blick behalten zu können.
„Oh, aber wir haben dich schon längst“, sagt die Frau mit einem warmen Lächeln, das mir kalte Schauer über den Rücken jagt. „Wir begleiten dich schon so lange, auch wenn du uns noch nie getroffen hast. Wir kennen dich besser, als du glaubst. Denkst du, dein Leben wäre nur zufällig so verlaufen? All die Schicksalsschläge, die Entbehrungen, die harten Zeiten? Es gibt keine Zufälle...“
Ich weiche weiter zurück, diesmal nicht mehr aus taktischen Gründen.
„Wir nehmen nur die, die überleben. Wir suchen die, die mehr einstecken als sie aushalten, und dann aufstehen und austeilen. Leute wie Dich.“
„Ihr werdet mich niemals kriegen!“
„Du hast keine Wahl.“, sagt sie.

Ich spüre einen Stich im Nacken, spüre, wie meine Beine unter mir nachgeben. Das letzte, was ich sehe, ist das Lächeln dieser Frau, gleichsam warm und grausam, wie die Lachfalten ihres Kollegen.
Dann umschließt mich gnädige Dunkelheit.
 
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Lisra

Schmusekater
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Ein weiteres Stück Text für den "das war ziemlich gut" Stapel. ;) :)
 

Mantis

Heilende Hände
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... wer kennt das nicht?

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Nebel zieht in dichten Schwaden durch den Raum, trübt das ohnehin schon dämmrige Licht, das sich nur mühsam von der draußen herrschenden Dunkelheit abzusetzen vermag.
Es ist kalt in diesem Raum, der sich im abgelegensten Teil des Hauses befindet, und eigentlich möchte ich ihn nicht betreten, schon gar nicht zu dieser Stunde. Es ist die Zeit zwischen Mitternacht und Morgengrauen, in der die Schatten am tiefsten sind, und jeder Versuch der Beleuchtung ein vergeblicher bleibt. Doch mir bleibt keine Wahl – manche Dinge müssen getan werden, ob man will oder nicht.
Ich taste mich langsam vor, bin noch nie jemand von denen gewesen, die unangenehme Situationen schnell hinter sich bringen können. Trotz aller gegenteiliger Erfahrungen ist ein Teil von mir noch immer davon überzeugt, dass die schrittweise Annäherung solche Dinge weniger schrecklich machen würde.
Bevor ich die Tür hinter mir schließe, werfe ich einen Blick in alle Ecken, hinter die Tür, unter die Schränke. Man kann nie vorsichtig genug sein, man weiß nie, was passieren könnte. Doch dieses Mal scheine ich Glück zu haben. Ich finde nichts, kein Zeichen von Leben oder anderen Dingen. Gut. So habe ich mehr Zeit und Ruhe, mich um meine Aufgabe zu kümmern.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, doch ich muss in Gedanken verloren gewesen sein. Etwas lässt mich aufschrecken. Vielleicht ein Geräusch in den unteren Stockwerken? Ich verfluche meine Unachtsamkeit und halte inne, lausche.
Ein eisiger Luftzug geht durch den Raum, die durch das Öffnen einer Tür. Dieser Tür? Doch die Tür ist verschlossen. Noch immer, oder schon wieder?
Mein Blick springt von Ecke zu Ecke, aber da ist nichts. Ich scheine allein zu sein.
Eine düstere Vorahnung überkommt mich, und langsam, ganz langsam drehe ich mich um.
Du bist hier, bei mir. Warst vielleicht schon die ganze Zeit hinter mir.

Ich dränge mich in eine Ecke, versuche, vor dem Unausweichlichen zu fliehen. Doch es gibt keinen Ausweg – du hast mir den Fluchtweg abgeschnitten.
Du breitest dich aus, bis du den ganzen Raum auszufüllen scheinst, kommst immer näher.
Ich öffne den Mund um um Hilfe oder Gnade zu rufen, doch die Panik erstickt den Schrei in meiner Kehle, als du mich in deine eisige Umarmung schließt.

Deine Nähe, mein Untergang
du verdammter Duschvorhang.
 
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