Chinasky
Dirty old man
- Registriert
- 01.10.1999
- Beiträge
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„Doc?“, fragte ich, und versuchte, mit den Fingern zu schnipsen, „ich bräuchte Ihre Hilfe!“
„Ja, Mister Chinasky?!“
„Kann man in diesem Laden eventuell ein kühles Bier bekommen?“
Er verzog keine Miene, packte ein paar Instrumente und Schächtelchen in einen Koffer. Dabei informierte er mich:
„Sie hatten das, was man landläufig einen Sonnenstich nennt. Verbunden mit einem Hitzestau. Ich hab Ihnen mal ein Mittel gegeben, das den Kreislauf etwas stabilisiert. Wenn Sie Durst haben, trinken Sie Mineralwasser oder eine Bouillon. Sie können auch Bier trinken oder das Zeug, was wir Ihnen während der Bewußtlosigkeit aus dem Magen gepumpt haben. Ihre Erben wird’s freuen.“
Er hatte seinen Koffer zuende gepackt und ging zum Zeltausgang. „Falls es bei einem chronischen Alkoholiker noch irgendwas zu erben gibt.“
Dann war er draussen.
Ich lag allein auf dem mit Papierservietten abgedeckten Tisch. Der feuchte Lappen auf der Stirn war ganz angenehm, mein Hals allerdings steif wie ein gefrorener Gummilutscher. Einer der Security-Jungs hatte mir wohl ein paar Wirbel gebrochen. Es war still hier drinnen. Von draußen hörte man zwar den Lärm des Fantasy-Convents hereindringen, aber er war gedämpft und aus einer anderen Welt. Hier gab es nur den Lappen auf meiner Stirn und den Tisch, auf dem ich lag, und ein paar Klappstühle und eine zornige Hummel, die immer wieder Anlauf nahm, um neu gegen die leinene Zeltwand zu knallen. Schließlich kriegte sie davon Kopfschmerzen und setzte sich auf eine Stuhllehne.
Noch zwei Stunden. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Mittel mir der Doc gegeben hatte, aber es wirkte. Mein Schädel fühlte sich wie eine Zitrone in der Presse, aber der Rest des Körpers war schon wieder gänzlich fit. Ich versuchte, aufzustehen. Na, ging doch! Die papierene Tischdecke klebte mit am Rücken. Aber jetzt, als ich stand, fiel sie von mir ab. Ich war eine Art Zombie, dem das Grabtuch hinterherwehte. Irgendein Insekt, daß aus einem Kokon schlüpfte. Irgendein Irgendwas, ein Symbol für einen leeren Gedanken. Oder etwas in der Art. Ein Symbol mit Pudding in den Knien. Ich stakste und stolperte. Fast wäre ich gleich wieder umgefallen. Fast. Zwei Stunden noch. Ich wußte ja nicht mal, wo das Zelt war, in dem ich vorlesen sollte. Und meine Zettel mit den Gedichten lagen noch in Selvins Wagen. Na, denn mal los!
Draussen vor dem Zelt hatte die Welt ohne mich weitergemacht. Der Lärm der Fantasy-Begeisterten schlug mir entgegen, als ich den Zeltvorhang aus schwerer Plastikplane zur Seite schob. Meine Augen waren an das Dämmerlicht im Zelt gewöhnt. Die Sonne stach mit weißglühenden Stahldornen zu. Ein Schwindelgefühl hakte sich mit einem unsichtbaren Seil bei mir ein und versuchte, mich in eine ulkige Schräglage zu ziehen. Beinahe wäre ich über einen Knirps gefallen, der mit seiner Mutter gerade am Zelteingang vorbeiging. Ich versuchte, auszuweichen, torkelte, fing mich gerade noch so und schaffte es, mich an einem mannsgroßen Stahlfaß zu fangen. Dabei schlug ich mit dem Kopf gegen dieses Faß. Ein dumpfes Donk erklag, für meinen Geschmack etwas zu nah am Ohr. Immerhin ordneten sich meine Füße halbwegs unten an, ich war ja für jeden kleinen Fortschritt dankbar.
„Mami, was ist mit dem Mann da?“, fragte der Knirps. Seine Mutter versuchte, ihn fortzuziehen. Aber er drehte sich um und zeigte mit dem Finger auf mich. „Der da, Mami, den meine ich. Was ist mit dem?“
Mami sagte: „Man zeigt nicht mit dem Finger auf fremde Leute, wie oft hab ich dir das schon erzählt?! Los, komm jetzt!“
„Warum guckt der denn so komisch und macht so Geräusche, Mami?“
„Das weiß ich nicht, nun komm endlich!“
„Vielleicht stirbt der ja gerade.“
„Ja, vielleicht. Los komm, Papa wartet auf uns!“
„Sieht Papa auch so komisch aus, wenn er irgendwann mal stirbt?“
„So ganz bestimmt nicht...“ Mutter und Sohn verschwanden im Gewusel.
Ich versuchte, mich zu orientieren. Wo war ich auf dem Conventgelände? Wo waren die Parkplätze mit Selvins Wagen? Wo war Selvin? Wie sollte ich an meine Gedichte rankommen ohne Autoschlüssel? Vielleicht war der Wagen ja offen. Oder ich würde ihn öffnen können. Irgendwas in der Art. Ich stieß mich von der Blechtonne ab, und es ging. Meine Füße trugen mich. Der Erdboden versuchte sich nur an den Außenbereichen meines Blickfelds in den Himmel zu erheben. Wenn ich mich konzentrierte, war es möglich, geradeaus zu gehen. Schlangen machten es ähnlich. An einem Stand, der bunt bedruckte Schleier für Burgfräulein-Hüte verkaufte, stand einer der orangenen Hampelmänner. Bei ihm erkundigte ich mich nach dem Weg zu den Parkplätzen. Sie lagen natürlich auf der anderen Seite des Conventgeländes.
Während ich in die gewiesene Richtung wankte, hielt ich Ausschau nach Selvin. Aber ihn in den Menschenmassen zu finden wäre kaum so einfach gewesen, wie eine einzelne Fliege auf einem Misthaufen anhand ihrer individuellen Augenfarbe zu entdecken. Ausserdem brannte die Sonne immer noch gnadenlos herab. Ich hielt mich möglichst im Schatten irgendwelcher Buden, Stände und Zelte, ein Sonnenstich am Tag reichte. Die meisten dieser Schattenspender hatten etwas mit Nahrung zu tun. Würstchenbuden, Buden, die Honig von garantiert glücklichen Bienen oder Eselsmich verkauften, Buden, die nach gebackenen Äpfeln rochen oder nach Knoblauch, Buden, in denen Getränke ausgeschenkt wurden oder wo man Süßigkeiten, nein, Zuckerwerk kaufen konnte. Aber es gab auch ganz normale Hot-Dog-Stände und Verkaufswagen mit Hamburgern im Angebot. Fantasy schön und gut, aber ein Amerikaner brauchte schließlich Kraft, um den ganzen Hokuspokus durchzustehen. Der Geruch von heißem Fett waberte durch die Budengassen und ergab mit dem Schweiß der Leute und dem Staub des Feldes eine Art Nebel, der sich mir in alle Poren drängte.
Mir wurde plötzlich übel und ich wollte an der nächstbesten Ecke kotzen. Aber es kam nichts. Na gut, umso besser. Als wäre die Übelkeit nur ein unverbindlicher Vorschlag gewesen, verschwand sie wieder, dafür mußte ich plötzlich pissen. Fünfzig Yards weiter waren Toilettenwagen aufgestellt. Davor hatten ordnungsliebende orangene Hampelmänner Gatter aufgebaut, um die herum sich Warteschlangen reihten. Ich mußte jetzt pissen, nicht zwei Stunden später.
An den Warteschlangen und dem Toilettenwagen vorbei drückte ich mich, über ein paar Schläuche und Kisten steigend, hinter die Front der Stände und Zelte. Dahinter war als Begrenzung des Conventgeländes ein Plastikband gespannt und ansonsten – nichts. Nur der Acker, der sich über vielleicht 150 Yards bis zum Saum eines kleinen Wäldchens erstreckte. Ein paar Fetzen Verpackungsmaterial wurden von kraft- und sinnlosen Böen müde über das Feld geschoben. Die Stände, Zelte und Kirmeswagen waren wie eine Lärmschutzmauer, nur ein mittelstarkes Rauschen drang durch sie hindurch. Allerdings brannte hier die Sonne ungehemmt herab, bis zum Wald gab es kein Fitzelchen Schatten.
Ich kam gar nicht auf die Idee, hier meinen Schwanz auszupacken, stehen bleiben durfte man in einer solchen Sauna nicht. Die paar Schritte bis zum Wald würde ich noch schaffen, bevor mir die Blase platzte.
Unter dem ersten schattenspendenden Baum riß ich den Hosenverschluß auf und ließ es laufen. Oh Yeah! Eigentlich brauchte ein Mann nicht viel zum Glück. Etwas Schatten, ab und an ein Bier, eine Frau, die Rennbahn, den richtigen Favoritentipp, Beethoven-Sinfonien im Radio und eine funktionierende Prostata. Scheiß auf den ganzen Firlefanz, auf zwölf-Zylinder-Limousinen, Karriere, Bügelfaltenhosen, Parteiabzeichen, Kaviarhäppchen, Atombomben und Macht! Der Diktator, der auf einer Konferenz mit anderen Diktatoren plötzlich pissen mußte und nicht konnte – der war ein armes Würstchen.
Ich legte den Kopf in den Nacken und strullerte Arabesken in das trockene Unterholz. Der Geruch des sommerlichen Waldes verband sich mit dem meines Urins zu einer männlich-herben Note. Meine Nerven beruhigten sich hier in der Natur langsam. Ich war ein Stadtmensch. Ich kannte Natur eigentlich nur aus dem Fernsehen oder von den Marlboro-Plakaten. Aber das hier schien sie zu sein. Sie roch gut, sie spendete Schatten und sie war entspannend ruhig. Jetzt, als sich meine Ohren auf diese Stille langsam einstellten, konnte ich sogar das Zwitschern von ein paar Vögeln hören. Echte zwitschernde Vögel! Hörte sich gar nicht übel an. Ich konnte das trockene Gras und Laub unter meinen Füßen rascheln und knacken hören. Vielleicht sollte ich mal ein Gedicht darüber schreiben?
Das Rauschen meines Unterleibs,
Das Rascheln im Geäst...
Jetzt hörte ich es wieder rascheln. Das war nicht ich, das kam von etwas weiter drinnen im Wald. Ob es hier vielleicht wilde Tiere gab? Hirsche? Bisamratten? Weisse Nashörner? Die wohl eher nicht, soweit ich wußte, kamen die nur in Südamerika vor. Oder wo auch immer. Hier jedenfalls nicht. Aber ein Berglöwe. Oder ein Flachlandlöwe. Oder sonst ein Verwandter. Ich hörte etwas Grunzen. Da hinten im Gebüsch grunzte etwas. Ein animalischer Laut, keine Frage. Ich wurde neugierig. Ein Wildschwein vielleicht? Ein Warzenschwein? Ich kannte Warzenschweine aus dem Zoo. Mit einer meiner Ex-Frauen war ich ein paar Male im Zoo gewesen, sie hatte sowas angeblich gebraucht um zu entspannen. Ich hatte es gebraucht, daß sie mir danach immer die besten Blowjobs gab. So hatten wir uns beide entspannen können.
Die Warzenschweine hatten meine Ex und ich uns immer besonders gern angesehen.
„Oh, guck mal, wie süß!“, hatte meine Ex dann geflötet, „Och, die Ärmsten! Guck mal, das Mädchen schleift ja mit dem Bauch über die Erde!“
Meine Ex hatte sich immer am besten gefühlt, wenn es anderen dreckig ging und sich ihr die Gelegenheit bot, Mitleid zu haben. Ich war mir recht sicher gewesen, daß es der dicken Warzenschweinmama wenig ausmachte, wenn ihre Zitzen über den Boden schliffen. Wenn es sie gestört hätte, hätte sie ja weniger fressen und etwas abnehmen können. Die Warzenschwein-Eber hatten schwarz und griesgrämig ausgesehen, ihr Speck hatte immer den Eindruck gemacht, als handele es um getarnte Muskeln. Zwar schwabbelten sie auch beim Laufen, aber dieses Schwabbeln schien mir eher wie das Zucken der Brustmuskeln von Bodybuildern. Ich hatte immer großen Respekt für diese toughen Kerle empfunden, denen recht lange Zähne aus dem Maul ragten. Sie hatten es sicher nicht leicht mit ihren fetten Frauen.
Wieder grunzte etwas. Dann hörte ich ein Stöhnen und Quieken. Stöhnten Warzenschweine? Nicht in dieser Tonlage. Da stöhnte ein Mensch. Irgendjemand fickte da im Wald. Warum auch nicht? Hier war Schatten, hier zwitscherten Vögel und so, die Luft war gut und warum sollte man also nicht? Leise pirschte ich mich an das Stöhnen im Gebüsch heran. Ich hörte nur den Mann stöhnen. Die Frau war verdächtig still. Dabei stöhnte er um so lauter. Jetzt grunzte er.
„Ja, ja, oh Mann, das ist... Oh Mann. Yeah... Ah, so... Da, genau...“
Ich war eigentlich kein Spanner. Keiner von denen , die nachts mit dem Fernglas am Fenster stehen oder durch die Straßen schleichen und auf Zehnspitzen den Leuten ins Schlafzimmer linsen. Aber wenn mir rein zufällig was geboten wurde, sagte ich nicht nein. Es interessierte einen immer wieder. Ich meine: was für eine absurde Veranstaltung, was für ein Aufwand! Zweimeterkerle kamen ins Schwitzen und pumpten wie verrückt und legten sich ins Zeug, Frauen kreischten und zuckten und schlängelten und wanden sich und zappelten wie Frösche unter Elektroschocks. Morde wurden begangen, Imperien zerbrachen, eine Riesenindustrie machte Milliardenumsätze damit und ganze religiöse Weltsysteme gründeten sich auf diesbezüglichen Verboten.
Und wozu das alles? Letztlich wurde nur eine kleine 200-Gramm-Wurst etwas hin und hergeschoben. Es war vollkommen unsinnig. Es war vollkommen geil.
Ich achtete darauf, beim Näherschleichen keine Äste zu zertreten. Ah – jetzt konnte ich durch das Blättergeflirr und die Äste schon eine Bewegung ausmachen. Da lagen zwei auf der Lichtung und trieben es miteinander. Beziehungsweise - sie knieten hintereinander und trieben es doggystylemäßig. Sie reckte ihren Hintern hoch und er war ihr von hinten... Ich wagte mich noch zwei, drei Meter weiter vor. Und nun konnte ich es klar erkennen. Das waren zwei Männer. Sieh mal an, zwei kleine schwule Jungs... Bei dem, der ihn drinnen hatte, konnte ich das Gesicht sehen. Dunkle Haare, kurz und drahtig geschnitten. Ein Bronzeton in der braungebrannten Haut. Ich kannte das Gesicht irgendwoher.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich wußte, woher. Selvin! Das hier war Selvin. Selvin Kates, der Ehemann der unbeschreiblichen Linda Kates, fickte hier auf der Lichtung irgendeinen blondhaarigen Kerl. Selvin, der Mann mit den Autoschlüsseln, die ich brauchte, um an meine Gedichte zu kommen. Himmel Arsch und Zwirn! Er drückte hier, vollkommen auf seine Tätigkeit konzentriert, einem Unbekannten seinen bronzefarbenen Dengel in den Hintern, das konnte doch wohl nicht wahr sein! Es war...
In diesem Moment hob sein Gespiele den Kopf und wir schauten uns für einen Moment direkt an. Er hatte ein nichtssagendes Dutzendgesicht, jung, bartlos, ganz hübsch. Aber in diesem hübschen Gesicht verengten sich die Augen zu bedrohlichen Schlitzen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils erschien dort ein tödlicher Haß, der mich in dieser Intensität erschreckte. Ohne nachzudenken wandte ich mich um und trampelte durch das Unterholz zurück Richtung Conventgelände.
„Ja, Mister Chinasky?!“
„Kann man in diesem Laden eventuell ein kühles Bier bekommen?“
Er verzog keine Miene, packte ein paar Instrumente und Schächtelchen in einen Koffer. Dabei informierte er mich:
„Sie hatten das, was man landläufig einen Sonnenstich nennt. Verbunden mit einem Hitzestau. Ich hab Ihnen mal ein Mittel gegeben, das den Kreislauf etwas stabilisiert. Wenn Sie Durst haben, trinken Sie Mineralwasser oder eine Bouillon. Sie können auch Bier trinken oder das Zeug, was wir Ihnen während der Bewußtlosigkeit aus dem Magen gepumpt haben. Ihre Erben wird’s freuen.“
Er hatte seinen Koffer zuende gepackt und ging zum Zeltausgang. „Falls es bei einem chronischen Alkoholiker noch irgendwas zu erben gibt.“
Dann war er draussen.
Ich lag allein auf dem mit Papierservietten abgedeckten Tisch. Der feuchte Lappen auf der Stirn war ganz angenehm, mein Hals allerdings steif wie ein gefrorener Gummilutscher. Einer der Security-Jungs hatte mir wohl ein paar Wirbel gebrochen. Es war still hier drinnen. Von draußen hörte man zwar den Lärm des Fantasy-Convents hereindringen, aber er war gedämpft und aus einer anderen Welt. Hier gab es nur den Lappen auf meiner Stirn und den Tisch, auf dem ich lag, und ein paar Klappstühle und eine zornige Hummel, die immer wieder Anlauf nahm, um neu gegen die leinene Zeltwand zu knallen. Schließlich kriegte sie davon Kopfschmerzen und setzte sich auf eine Stuhllehne.
Noch zwei Stunden. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Mittel mir der Doc gegeben hatte, aber es wirkte. Mein Schädel fühlte sich wie eine Zitrone in der Presse, aber der Rest des Körpers war schon wieder gänzlich fit. Ich versuchte, aufzustehen. Na, ging doch! Die papierene Tischdecke klebte mit am Rücken. Aber jetzt, als ich stand, fiel sie von mir ab. Ich war eine Art Zombie, dem das Grabtuch hinterherwehte. Irgendein Insekt, daß aus einem Kokon schlüpfte. Irgendein Irgendwas, ein Symbol für einen leeren Gedanken. Oder etwas in der Art. Ein Symbol mit Pudding in den Knien. Ich stakste und stolperte. Fast wäre ich gleich wieder umgefallen. Fast. Zwei Stunden noch. Ich wußte ja nicht mal, wo das Zelt war, in dem ich vorlesen sollte. Und meine Zettel mit den Gedichten lagen noch in Selvins Wagen. Na, denn mal los!
Draussen vor dem Zelt hatte die Welt ohne mich weitergemacht. Der Lärm der Fantasy-Begeisterten schlug mir entgegen, als ich den Zeltvorhang aus schwerer Plastikplane zur Seite schob. Meine Augen waren an das Dämmerlicht im Zelt gewöhnt. Die Sonne stach mit weißglühenden Stahldornen zu. Ein Schwindelgefühl hakte sich mit einem unsichtbaren Seil bei mir ein und versuchte, mich in eine ulkige Schräglage zu ziehen. Beinahe wäre ich über einen Knirps gefallen, der mit seiner Mutter gerade am Zelteingang vorbeiging. Ich versuchte, auszuweichen, torkelte, fing mich gerade noch so und schaffte es, mich an einem mannsgroßen Stahlfaß zu fangen. Dabei schlug ich mit dem Kopf gegen dieses Faß. Ein dumpfes Donk erklag, für meinen Geschmack etwas zu nah am Ohr. Immerhin ordneten sich meine Füße halbwegs unten an, ich war ja für jeden kleinen Fortschritt dankbar.
„Mami, was ist mit dem Mann da?“, fragte der Knirps. Seine Mutter versuchte, ihn fortzuziehen. Aber er drehte sich um und zeigte mit dem Finger auf mich. „Der da, Mami, den meine ich. Was ist mit dem?“
Mami sagte: „Man zeigt nicht mit dem Finger auf fremde Leute, wie oft hab ich dir das schon erzählt?! Los, komm jetzt!“
„Warum guckt der denn so komisch und macht so Geräusche, Mami?“
„Das weiß ich nicht, nun komm endlich!“
„Vielleicht stirbt der ja gerade.“
„Ja, vielleicht. Los komm, Papa wartet auf uns!“
„Sieht Papa auch so komisch aus, wenn er irgendwann mal stirbt?“
„So ganz bestimmt nicht...“ Mutter und Sohn verschwanden im Gewusel.
Ich versuchte, mich zu orientieren. Wo war ich auf dem Conventgelände? Wo waren die Parkplätze mit Selvins Wagen? Wo war Selvin? Wie sollte ich an meine Gedichte rankommen ohne Autoschlüssel? Vielleicht war der Wagen ja offen. Oder ich würde ihn öffnen können. Irgendwas in der Art. Ich stieß mich von der Blechtonne ab, und es ging. Meine Füße trugen mich. Der Erdboden versuchte sich nur an den Außenbereichen meines Blickfelds in den Himmel zu erheben. Wenn ich mich konzentrierte, war es möglich, geradeaus zu gehen. Schlangen machten es ähnlich. An einem Stand, der bunt bedruckte Schleier für Burgfräulein-Hüte verkaufte, stand einer der orangenen Hampelmänner. Bei ihm erkundigte ich mich nach dem Weg zu den Parkplätzen. Sie lagen natürlich auf der anderen Seite des Conventgeländes.
Während ich in die gewiesene Richtung wankte, hielt ich Ausschau nach Selvin. Aber ihn in den Menschenmassen zu finden wäre kaum so einfach gewesen, wie eine einzelne Fliege auf einem Misthaufen anhand ihrer individuellen Augenfarbe zu entdecken. Ausserdem brannte die Sonne immer noch gnadenlos herab. Ich hielt mich möglichst im Schatten irgendwelcher Buden, Stände und Zelte, ein Sonnenstich am Tag reichte. Die meisten dieser Schattenspender hatten etwas mit Nahrung zu tun. Würstchenbuden, Buden, die Honig von garantiert glücklichen Bienen oder Eselsmich verkauften, Buden, die nach gebackenen Äpfeln rochen oder nach Knoblauch, Buden, in denen Getränke ausgeschenkt wurden oder wo man Süßigkeiten, nein, Zuckerwerk kaufen konnte. Aber es gab auch ganz normale Hot-Dog-Stände und Verkaufswagen mit Hamburgern im Angebot. Fantasy schön und gut, aber ein Amerikaner brauchte schließlich Kraft, um den ganzen Hokuspokus durchzustehen. Der Geruch von heißem Fett waberte durch die Budengassen und ergab mit dem Schweiß der Leute und dem Staub des Feldes eine Art Nebel, der sich mir in alle Poren drängte.
Mir wurde plötzlich übel und ich wollte an der nächstbesten Ecke kotzen. Aber es kam nichts. Na gut, umso besser. Als wäre die Übelkeit nur ein unverbindlicher Vorschlag gewesen, verschwand sie wieder, dafür mußte ich plötzlich pissen. Fünfzig Yards weiter waren Toilettenwagen aufgestellt. Davor hatten ordnungsliebende orangene Hampelmänner Gatter aufgebaut, um die herum sich Warteschlangen reihten. Ich mußte jetzt pissen, nicht zwei Stunden später.
An den Warteschlangen und dem Toilettenwagen vorbei drückte ich mich, über ein paar Schläuche und Kisten steigend, hinter die Front der Stände und Zelte. Dahinter war als Begrenzung des Conventgeländes ein Plastikband gespannt und ansonsten – nichts. Nur der Acker, der sich über vielleicht 150 Yards bis zum Saum eines kleinen Wäldchens erstreckte. Ein paar Fetzen Verpackungsmaterial wurden von kraft- und sinnlosen Böen müde über das Feld geschoben. Die Stände, Zelte und Kirmeswagen waren wie eine Lärmschutzmauer, nur ein mittelstarkes Rauschen drang durch sie hindurch. Allerdings brannte hier die Sonne ungehemmt herab, bis zum Wald gab es kein Fitzelchen Schatten.
Ich kam gar nicht auf die Idee, hier meinen Schwanz auszupacken, stehen bleiben durfte man in einer solchen Sauna nicht. Die paar Schritte bis zum Wald würde ich noch schaffen, bevor mir die Blase platzte.
Unter dem ersten schattenspendenden Baum riß ich den Hosenverschluß auf und ließ es laufen. Oh Yeah! Eigentlich brauchte ein Mann nicht viel zum Glück. Etwas Schatten, ab und an ein Bier, eine Frau, die Rennbahn, den richtigen Favoritentipp, Beethoven-Sinfonien im Radio und eine funktionierende Prostata. Scheiß auf den ganzen Firlefanz, auf zwölf-Zylinder-Limousinen, Karriere, Bügelfaltenhosen, Parteiabzeichen, Kaviarhäppchen, Atombomben und Macht! Der Diktator, der auf einer Konferenz mit anderen Diktatoren plötzlich pissen mußte und nicht konnte – der war ein armes Würstchen.
Ich legte den Kopf in den Nacken und strullerte Arabesken in das trockene Unterholz. Der Geruch des sommerlichen Waldes verband sich mit dem meines Urins zu einer männlich-herben Note. Meine Nerven beruhigten sich hier in der Natur langsam. Ich war ein Stadtmensch. Ich kannte Natur eigentlich nur aus dem Fernsehen oder von den Marlboro-Plakaten. Aber das hier schien sie zu sein. Sie roch gut, sie spendete Schatten und sie war entspannend ruhig. Jetzt, als sich meine Ohren auf diese Stille langsam einstellten, konnte ich sogar das Zwitschern von ein paar Vögeln hören. Echte zwitschernde Vögel! Hörte sich gar nicht übel an. Ich konnte das trockene Gras und Laub unter meinen Füßen rascheln und knacken hören. Vielleicht sollte ich mal ein Gedicht darüber schreiben?
Das Rauschen meines Unterleibs,
Das Rascheln im Geäst...
Jetzt hörte ich es wieder rascheln. Das war nicht ich, das kam von etwas weiter drinnen im Wald. Ob es hier vielleicht wilde Tiere gab? Hirsche? Bisamratten? Weisse Nashörner? Die wohl eher nicht, soweit ich wußte, kamen die nur in Südamerika vor. Oder wo auch immer. Hier jedenfalls nicht. Aber ein Berglöwe. Oder ein Flachlandlöwe. Oder sonst ein Verwandter. Ich hörte etwas Grunzen. Da hinten im Gebüsch grunzte etwas. Ein animalischer Laut, keine Frage. Ich wurde neugierig. Ein Wildschwein vielleicht? Ein Warzenschwein? Ich kannte Warzenschweine aus dem Zoo. Mit einer meiner Ex-Frauen war ich ein paar Male im Zoo gewesen, sie hatte sowas angeblich gebraucht um zu entspannen. Ich hatte es gebraucht, daß sie mir danach immer die besten Blowjobs gab. So hatten wir uns beide entspannen können.
Die Warzenschweine hatten meine Ex und ich uns immer besonders gern angesehen.
„Oh, guck mal, wie süß!“, hatte meine Ex dann geflötet, „Och, die Ärmsten! Guck mal, das Mädchen schleift ja mit dem Bauch über die Erde!“
Meine Ex hatte sich immer am besten gefühlt, wenn es anderen dreckig ging und sich ihr die Gelegenheit bot, Mitleid zu haben. Ich war mir recht sicher gewesen, daß es der dicken Warzenschweinmama wenig ausmachte, wenn ihre Zitzen über den Boden schliffen. Wenn es sie gestört hätte, hätte sie ja weniger fressen und etwas abnehmen können. Die Warzenschwein-Eber hatten schwarz und griesgrämig ausgesehen, ihr Speck hatte immer den Eindruck gemacht, als handele es um getarnte Muskeln. Zwar schwabbelten sie auch beim Laufen, aber dieses Schwabbeln schien mir eher wie das Zucken der Brustmuskeln von Bodybuildern. Ich hatte immer großen Respekt für diese toughen Kerle empfunden, denen recht lange Zähne aus dem Maul ragten. Sie hatten es sicher nicht leicht mit ihren fetten Frauen.
Wieder grunzte etwas. Dann hörte ich ein Stöhnen und Quieken. Stöhnten Warzenschweine? Nicht in dieser Tonlage. Da stöhnte ein Mensch. Irgendjemand fickte da im Wald. Warum auch nicht? Hier war Schatten, hier zwitscherten Vögel und so, die Luft war gut und warum sollte man also nicht? Leise pirschte ich mich an das Stöhnen im Gebüsch heran. Ich hörte nur den Mann stöhnen. Die Frau war verdächtig still. Dabei stöhnte er um so lauter. Jetzt grunzte er.
„Ja, ja, oh Mann, das ist... Oh Mann. Yeah... Ah, so... Da, genau...“
Ich war eigentlich kein Spanner. Keiner von denen , die nachts mit dem Fernglas am Fenster stehen oder durch die Straßen schleichen und auf Zehnspitzen den Leuten ins Schlafzimmer linsen. Aber wenn mir rein zufällig was geboten wurde, sagte ich nicht nein. Es interessierte einen immer wieder. Ich meine: was für eine absurde Veranstaltung, was für ein Aufwand! Zweimeterkerle kamen ins Schwitzen und pumpten wie verrückt und legten sich ins Zeug, Frauen kreischten und zuckten und schlängelten und wanden sich und zappelten wie Frösche unter Elektroschocks. Morde wurden begangen, Imperien zerbrachen, eine Riesenindustrie machte Milliardenumsätze damit und ganze religiöse Weltsysteme gründeten sich auf diesbezüglichen Verboten.
Und wozu das alles? Letztlich wurde nur eine kleine 200-Gramm-Wurst etwas hin und hergeschoben. Es war vollkommen unsinnig. Es war vollkommen geil.
Ich achtete darauf, beim Näherschleichen keine Äste zu zertreten. Ah – jetzt konnte ich durch das Blättergeflirr und die Äste schon eine Bewegung ausmachen. Da lagen zwei auf der Lichtung und trieben es miteinander. Beziehungsweise - sie knieten hintereinander und trieben es doggystylemäßig. Sie reckte ihren Hintern hoch und er war ihr von hinten... Ich wagte mich noch zwei, drei Meter weiter vor. Und nun konnte ich es klar erkennen. Das waren zwei Männer. Sieh mal an, zwei kleine schwule Jungs... Bei dem, der ihn drinnen hatte, konnte ich das Gesicht sehen. Dunkle Haare, kurz und drahtig geschnitten. Ein Bronzeton in der braungebrannten Haut. Ich kannte das Gesicht irgendwoher.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich wußte, woher. Selvin! Das hier war Selvin. Selvin Kates, der Ehemann der unbeschreiblichen Linda Kates, fickte hier auf der Lichtung irgendeinen blondhaarigen Kerl. Selvin, der Mann mit den Autoschlüsseln, die ich brauchte, um an meine Gedichte zu kommen. Himmel Arsch und Zwirn! Er drückte hier, vollkommen auf seine Tätigkeit konzentriert, einem Unbekannten seinen bronzefarbenen Dengel in den Hintern, das konnte doch wohl nicht wahr sein! Es war...
In diesem Moment hob sein Gespiele den Kopf und wir schauten uns für einen Moment direkt an. Er hatte ein nichtssagendes Dutzendgesicht, jung, bartlos, ganz hübsch. Aber in diesem hübschen Gesicht verengten sich die Augen zu bedrohlichen Schlitzen. Innerhalb eines Sekundenbruchteils erschien dort ein tödlicher Haß, der mich in dieser Intensität erschreckte. Ohne nachzudenken wandte ich mich um und trampelte durch das Unterholz zurück Richtung Conventgelände.
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