Kingdoms - About Honor and Traitors

Alyndur

Zwielichtiger
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Er fand Ulbrun, mehr hängend als sitzend, auf einem Heuballen, der eigentlich als Mammutfutter dienen sollte. Maron und sein Knappe hatten ihn dort positioniert, doch dem Blut, das aus seiner Nase strömte, schien er am wenigsten Beachtung zu schenken. Nichtsdestoweniger trat Alyndur entschlossen an den gebrochenen Seher heran. „Hier. Diese Wurzeln müsst Ihr zwischen den Händen zerreiben und durch die Nase einziehen.“ Etwas sanfter fügte er hinzu: „Dort werden sie die Blutung stillen, nicht aber in Eurem Herzen.“ Dem jungen Bisu, der noch immer fassungslos und erschüttert bei ihnen stand, winkte er freundlich.
„Hab Dank, guter Knappe. Ich löse dich ab.“ Ohne auf eine Einladung zu warten, zog auch er sich einen Strohballen zurecht und setzte sich Ulbrun gegenüber, die Arme auf den Oberschenkeln ruhend. Worte des Trostes und des Scheintrostes hatte er sicher schon zur Genüge vernommen, darum schwieg Alyndur und bot dem Alten seinen Blick an. „Ich werde Anora finden“, hörte er sich schließlich sagen und wagte es kaum, seinen eigenen Worten zu trauen. „Die Tücke, die hier haust... ich werde nicht warten, bis sie zu einem neuen Schlag ausholt. Ich werde die Elfe aufspüren. Sei es, um einen Freund zu retten oder um einen neuen Feind rechtzeitig zur Strecke zu bringen, ehe er Gelegenheit bekommt, es mit uns zu tun.“ Mochte Ulbrun selbst entscheiden, was ihm von beidem aus dem Mund des Waldläufers glaubwürdiger erschien, in seiner derzeitigen Verfassung schien nicht zu befürchten, dass er sich ihm entgegenstellte. „Zum Einen oder zum anderen“ Alyndur griff unter seinen Mantel brachte eine Klinge zum Vorschein, die im matten Licht eines entfernten Feuers wie pures Eis glitzerte. „Ihr werdet mir schwerlich widersprechen, dass diese Waffe schon zu viel Zeit in den falschen Händen verbracht hat.“ Rasch und, wie er inständig hoffte, unbemerkt hatte er das verhängnisvolle Schwert aufgelesen, ehe es ein anderer tun würde. „Um mit der Wahrheit zu sprechen, es gab vieles, was ich Anora zugetraut hätte, als ich ihr Verschwinden bemerkt hatte.“ Er unternahm den Versuch, die nackte Klinge des Eisschwertes in der hohlen Hand zu wiegen, brach ihn aber bald wieder ab, als Wärmeströme wie das Leben selbst seinem Fleisch entflohen. „Nicht alles davon war edel und weit weniger noch war vernünftig, aber glaubt Ihr, sie hätte sich von ihrer magischen Klinge getrennt, um sich schutzlos in die Ebenen zu flüchten, wenn sie eine Wahl gehabt hätte, hier zu bleiben?“ Alyndur wickelte den kalten Gegenstand wieder in ein dickes Leinentuch ein, bis es samt dem Griff darin verschwunden war. Er erhob sich leichtfüßig, doch sein Blick blieb an Ulbruns Gesicht haften, das dieser mehr noch als sonst bemüht schien, hinter einer bärtigen Mauer zu verbergen. „Ulbrun. Was soll aus Euch werden? Ist in den Reihen von Menschen, die den Weg des Zornes und der Verzweiflung über den seiner Geister stellen, noch Platz für einen Seher des Nordvolkes? Findet dort noch eine Frau Geleit, die man der Mordhilfe bezichtigen wird, und wäre dort noch Platz für ihre Gefährten? Zumindest für ein paar von ihnen, um ihr bei ihrer Flucht den Rücken zu decken?“ Obwohl sie selbst vor dem Tod Freyas nicht mit allzu großer Wärme in der Reisegesellschaft empfangen worden waren, hatten sich die übrigen Mitglieder von Anoras Gruppe aus der Sicht der meisten Nordleute sicher nichts zu schulden kommen lassen. Wenngleich sich die Begeisterung darüber auch in Grenzen halten mochte, war es möglich, dass sie sich, im Gegensatz zu ihrer ungünstig verschwundenen Anführerin, weiterhin auf das gegebene Wort der Nordmenschen berufen konnten, um mit ihnen die Reise zum östlichen Fuß der Adlerberge fortzusetzen. Auf diese Art wäre es denkbar, dass man Anoras Verschwinden unter dem Nordvolk schließlich doch als eine Art Unfall außer Acht lassen würde, zumal sie dem Anschein nach selbst ihre eigenen Gefährten aufgegeben hätten. Somit ließen sich mit etwas Glück auch die Rachsüchtigsten von möglichen Vergeltungsplänen gegen sie abbringen und, falls nicht, wären die bei der Karawane verbleibenden Gefährten vielleicht in der Lage, Anora zu warnen. Wenn hingegen die gesamte Gruppe der Elfe nachströmen sollte, gäbe es vermutlich viele, die darin den Abschluss einer vorbereiteten Mordverschwörung gegen die Karawanenführerin Freya wittern wollten.
Wenn dies der Preis wäre, den es bräuchte, um Anora zu schützen, so würden ihn die Treuesten unter ihren Gefährten einstweilen bezahlen müssen. Ein Teil der Gruppe würde der Karawane ins Weite Reich folgen müssen, von wo aus sie sich dann, die Absicht vorgebend, den Auftrag ihrer verlorenen Gruppenführerin zu Ende zu bringen, in Wahrheit zunächst auf die Suche nach ihr begeben würden. Die magischen Fähigkeiten, die einige von ihnen zu besitzen schienen, könnten sie zu einer solchen Aufgabe befähigen. Vielleicht würden auch ihnen die Tränen der Grünen Drachen, von denen Alyndur eine aus Anoras Inventar geborgen hatte, und deren Gegenstück sich in Marons Besitz befinden musste, bei der Wiederfindung der Gruppe in den Adlerbergen von Nutzen sein.
Zunächst aber, galt es zu hören, wie Ulbrun die Lage in der Karawane einschätzte. Sie mochte womöglich gar nicht so bedrohlich sein, wie sie der Waldläufer in seiner Vorsicht befürchtete. So oder so gab es jedoch noch in eine Begebenheit zu vertrauen, die alles andere als sicher war: dass Anora noch lebte.
 

Anora

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In einiger Entfernung erschien ein schwacher Lichtschimmer, der sich ihr langsam näherte. Er war nicht besonders hell sondern eher von einem milchig-trüben Glanz, doch so wenig Helligkeit er auch abstrahlte vermochte er doch die Dunkelheit um sie herum zu vertreiben. Während es näher kam, flackerte das Licht ein wenig, und sie musste ihren Blick kurz abwenden. Als sie wieder aufsah, hatte es die Gestalt eines humanoiden Körpers angenommen – Eines Körpers, der ihr nur allzu vertraut war, doch den aus dieser Position zu betrachten äußerst befremdlich war. Es war ihr eigenes Antlitz, in das sie nun blickte. Als sie an sich hinuntersah, stellte sie erstaunt fest, dass sie selbst körperlos war. Sie war nicht mehr als ein leichtes Flimmern, eine verlorene Seele auf der Suche nach ihrem Sein. Der weiß schimmernde Körper blieb erst kurz vor ihr stehen und blickte sie aus forschenden Augen an – Augen, die den ihren ähnlich waren, und doch fehlte in diesen etwas. In ihrer Tiefe wirkten sie leer.
„Wer bist du?“, fragte die Lichtgestalt nach einiger Zeit, und ihre Worte drangen zu ihr vor obwohl sich die Lippen ihres Gegenübers nicht bewegt hatten.
Sie überlegte eine Zeit lang, nicht so recht wissend, was sie darauf antworten sollte. Und überhaupt, was war das für eine Frage? Dennoch glaubte sie zu wissen, worauf sie abzielte.

„Ich… Ich bin Anora Alia, die Tochter von Elmay’rath Helegnen.“ Ihre Stimme hatte fest klingen sollen, doch in dieser körperlosen Leere, in der sie sich befand, erklang sie so unsicher, so dünn…
„Nun denn, Anora Alia, wer möchtest du sein?“
Hier gab es nichts zu überlegen.
„Die Tochter eines anderen!“ Sie spie diese Worte fast aus, so viel Hass und Wut steckte in ihnen.
Die Gesichtszüge der Lichtgestalt nahmen einen traurigen, bedauernden Ausdruck an. Doch es lang noch etwas in ihnen verborgen – War es Verachtung?

„So sei es denn.“
Der schimmernde Körper wandte sich von ihr ab – Und im nächsten Moment war er verschwunden.
„Halt, warte!“, rief sie, doch es war zu spät. Und irgendetwas in ihr sagte, dass etwas nicht richtig war. Sie hatte etwas verloren, das zu ihr gehörte. Verzweifelt sah sie sich um, darauf hoffend, die Lichtgestalt würde zurückkehren, doch sie blieb allein. Zurück blieb nur die Dunkelheit, und ein Gefühl, das sie Zeit ihres Lebens zu bekämpfen versucht hatte: Anora hatte Angst.
 

Anora

Wanderer
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Ein entferntes Wiehern gefolgt von eiligem Hufgetrappel riss sie aus ihren Träumen.
Das erste, das sie fühlte, war die Kälte. Ihr war so erbärmlich kalt, dass sie ihren Körper kaum noch spüren konnte. Und sie hatte entsetzlichen Durst.
Doch das war nicht alles. Irgendetwas in ihr war anders. Irgendetwas fehlte.
Sie wollte die Augen öffnen, um nach ihrem kleinen Feuer zu sehen, das zumindest den Schein der Wärme aufrecht erhalten konnte, doch irgendetwas hinderte sie daran. Verwirrt tastete sie mit den Händen nach ihrem Gesicht. Ihre Finger waren so leblos und taub, dass sie sie kaum noch bewegen konnte, geschweige denn ein Gespür in ihnen hatte. Es reichte jedoch noch aus um festzustellen, dass ihre Augenlider und Wimpern von einer dicken Kruste verklebt waren. Anscheinend war ihr im Schlaf Blut aus ihrer Stirnwunde in die Augen gesickert und dort getrocknet. Als sie vorsichtig nach der Platzwunde tastete, merkte sie, dass ihre Stirn von kaltem Schweiß überzogen war. Sie konnte sich an ihre Träume nicht mehr erinnern, doch sie schienen nicht besonders erfreulich gewesen zu sein. Zumindest aber die Wunde hatte sich offenbar geschlossen – Auf jeden Fall pochte ihre Stirn nur noch mit einem dumpfen Schmerz, als sie sie an der aufgeschlagenen Stelle berührte. Schnell nahm sie ihre Finger wieder weg und bemühte sich stattdessen, die störende Kruste von ihren Augen zu kratzen, die ihr das Sehen verwehrte. Ihre klammen Hände machten es ihr dabei nicht gerade einfach und mehr als ein ungeschicktes Rubbeln bekam sie kaum zu Stande.
Plötzlich hielt sie inne. Ihr war, als spüre sie eine fremde Präsenz, ganz in ihrer Nähe. Es war nur ein Gefühl, ähnlich dem, wie man spürt, wenn eine Wolke sich vor die Sonne schiebt, auch wenn man die Augen geschlossen hat: Man merkt es kaum, doch mit einem Mal wird es kälter. Mit Mühe konnte sie ihre Augen nun ein Stück weit öffnen, doch um sie herum war es stockfinster und sie konnte durch den schmalen Spalt, den ihre verklebten Lider ihr gewährten, kaum etwas erkennen. Aber da war etwas! Sie spürte es nun deutlich, irgendetwas…
Dann hörte sie das Rasseln. Es war ein widerliches Geräusch, ein Laut der ihren ganzen Körper mit einer Gänsehaut überzog. Es klang wie das mühevolle Atmen eines alten, todkranken Mannes, der auf dem Sterbebett lag. Sie konnte es nur hören, wenn sie sich nicht bewegte und den Atem anhielt, doch es kaum aus nächster Nähe.
Langsam ließ sie ihre Hände sinken. Zuerst dachte sie daran, nach ihrem Langschwert zu greifen, doch dann erinnerte sie sich daran was geschehen war, als sie eilig aus dem Lager ihrer Gefährten aufgebrochen war, besann sich um und tastete stattdessen nach ihren Dolchen – Doch sie kam nicht mehr dazu, diese zu ergreifen.
Ein seltsamer, kehliger Laut ertönte, begleitet von einem die Luft durchschneidenden Zischen, dann war da nur noch der Schmerz, als sich eine Art Klaue tief in das Fleisch ihrer rechten Schulter bohrte.
Anora schrie auf, die Hände sanken ihr kraftlos zu Boden. Sie hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, so stark waren die Schmerzen die von ihrer Schulter ausgingen und sich in ihrem Körper wie Wellen verbreiteten. Sie atmete heftig ein und aus, unfähig, irgendetwas zu unternehmen. Unklare Gedanken rasten durch ihren Kopf, ein wildes Wirrwarr aus Bildern und Stimmen. Panikartig versuchte sie, sich aufzurichten, zu flüchten, irgendetwas zu tun… Sie hatte Angst.
Als die Klaue mit einem schmatzenden Geräusch wieder aus ihrer Schulter gerissen wurde, sackte sie in sich zusammen. Der Schmerz betäubt sie fast, und wieder musste sie um Luft ringen, heftiger diesmal. Sie spürte, wie sie zitterte – Und diesmal war es nicht vor Kälte. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr, wollte nicht tun, was sie von ihm verlangte, wollte sie nicht mehr verteidigen…
Dann wurde sie auf einmal ganz ruhig. Ihr Atem ging wieder gleichmäßiger und das Zittern verschwand, ebenso wie die Kälte. Sie versuchte nicht mehr, die Augen frei zu bekommen, um zu sehen, was das für eine Kreatur war, die sie angriff, und sie bemühte sich auch erst gar nicht mehr, sich zu schützen. Sie regte sich auch dann nicht mehr, als der nächste Klauenstoß sie traf, diesmal näher am Hals.
Sie hatte keine Schmerzen mehr, keine Angst.
So also würde sie ihren Tod finden. Vielleicht war es besser so, denn es war ein dankbarerer Tod als zu verhungern oder zu erfrieren. Und sterben musste sie… Wollte sie…
Sie hatte alles in ihrem Leben verraten, Familie und Freunde waren ihr fremd und die wenigen, die sie doch zu haben geglaubt hatte, hatte sie letztendlich nur um ihrer selbst willen benutzt, um ihr Gewissen zu beruhigen und vor sich selbst gut dazustehen – Und zu vergessen wer sie war. Das alles hatte sie jetzt erst erkennen müssen. Wie gut sie sich doch ihr ganzes Leben lang selbst hatte belügen können! Und ihre Gefährten… Auch sie hatte sie in den Tod geführt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Keinen von ihnen hatte sie gezwungen, sich ihr anzuschließen, ein jeder war freiwillig mit ihr gezogen, und wie hatte sie es ihnen gedankt? Sie war eine Betrügerin, eine Verräterin und eine Mörderin. Ja, es war gut, dass sie nun endlich sterben sollte, zu lange schon hatte sie Unheil gebracht. Die Ebenen forderten ihr Leben, und nun war sie willig es zu geben, nachdem sie lange genug darum gerungen hatte. Sie war es leid, gegen ihre dunkelsten Schatten anzukämpfen, die dieses verfluchte Land in ihr zum Vorschein brachte um sie gegen sie einzusetzen. Es hatte sie zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst gezwungen, die sie nicht gewinnen konnte, hatte sie schier in den Wahnsinn getrieben. Mochten die Ebenen des Schweigens nun endlich haben wonach sie verlangten. Es war gut.
Erneut wurde die Klaue aus ihrem Körper gerissen, doch sie spürte es kaum noch.
Das einzige, das sie noch wahrnahm, war das Lachen ihres Vaters, das laut in ihrem Kopf widerhallte. Schlussendlich hatte er nun doch gewonnen, wenn auch auf eine andere Art.
Und so schloss Anora ihre Augen, die sowieso nicht mehr sehen konnten, und hieß den Tod willkommen.
 

Darghand

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“Was verstehst du schon, Südling?“ Ulbruns Stimme klang hart und unversöhnlich. Die Blutung war gestillt, nun fühlte er den Puls in der langsam anschwellenden Nase pochen. Noch immer schmerzte seine Stirn von Thorreids wuchtigem Schlag.
„Mein Volk“ Er deutete in einer fahrigen Geste auf das Lager. „Ist im Recht. Man nennt uns die Seher, Alyndur. Wir sehen die Dinge, für die die Augen der anderen blind sind, wir hören auf das Rauschen in den Baumkronen und die alten Überlieferungen, um zu wissen, was getan werden muss. Ich habe nicht genug gewusst, ich habe mein Volk auf den falschen Pfad geführt. Der Weg der Geister hat in den Tod geführt. Für einen Seher ist das unverzeihlich. Zorn und Verzweiflung mögen schlechte Ratgeber sein. Jetzt aber sind sie nicht schlechter als meine Ratschläge. Je größer das Vertrauen einst war, umso größer ist auch die Enttäuschung wenn es verspielt wird.“
Ulbrun spie ein wenig dickes Blut aus und zog fröstelnd den Federumhang enger um die Schultern.
„Und was die ivuli angeht... such sie, wenn dir der Sinn danach steht. Aber bring sie nicht zur Karawane zurück. Das gilt auch für dich selbst und jeden anderen, der sich dir anschließt. Ihre Waffe zu nehmen war ein Fehler, und sie mir zu zeigen ein noch größerer. Bete zu deinen Göttern, dass es niemand gesehen hat. Ich rate dir, bleib hier. Was auch immer in Anora vorgeht, ihr Schicksal muss sie selbst tragen. Sie zu finden ist schwierig, wenn nicht sogar aussichtslos. Nun, und die Gruppe...“
Der Alte dachte kurz nach.
„Wenn es nötig ist, werde ich für die Gefährten sprechen. Wir sind in den Ebenen, und hier lässt man niemanden zurück. Sie haben sich nichts zu schulden kommen lassen, und es ist eine Frage des Gastrechts und dem Recht der Reise, sie aus diesem verfluchten Landstrich hinaus zu begleiten. Und jetzt geh mir aus den Augen, Südmensch. Auf deine mitleidigen Blicke kann ich gut verzichten.“
 

Alyndur

Zwielichtiger
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Der Trotz des alten Mannes hatte ihn nicht unerwartet getroffen. Es hätte ihn eher überrascht, wenn er nicht erfolgt wäre. Doch diese Unterredung war notwendig gewesen. Ulbrun hatte ihm Worte zugespielt, die Anora überzeugen sollten, dass es keine Rückkehr für sie gab. „Es ist entschieden“, bekräftigte er sein Vorhaben. „Haltet Ihr mich für so einen Narren, dass ich mich fürderhin in der Obhut von Menschen wiegen würde, die über einen einzigen Mord, derer in den Reichen täglich hunderte geschehen, alles vergessen, was sie einst von wilden Bestien unterschieden hat?“ Alyndur lächelte höhnisch und zeigte drohend mit dem Leinenbündel auf Ulbrun, in das jenes schicksalsträchtige Schwert eingewickelt war. In seinem Herzen fühlte er Mitleid für den gefallenen Seher. Selbst dessen zorniger Ausbruch gegen ihn hatte es nicht zu mildern vermocht und doch tat es nichts zur Sache. Ulbrun hatte sich entschieden, seinem Mitgefühl zu misstrauen. Vielleicht war es glaubwürdiger, der Verachtung des Alten zu gefallen. „Ich lasse Euch eine Reihe verlogener Thoren zurück, an denen Eure Horde nach Belieben Vergeltung üben kann. Wenn ihnen das Leben ihrer Gefährtin so wichtig gewesen wäre, wie sie es vorgaben, dann wären sie mir längst auf dem Weg vorausgeeilt, den ich nun beschreite. Warum sollten sie mir von größerem Nutzen sein als Anora?“ Grausam, aber wahr genug. Keiner von Anoras Gefährten hatte seit ihrem Verschwinden einen Finger für sie gerührt. Nicht anders als Alyndur selbst, doch wann hatte er jemals behauptet, dass ihm das Wohl der Elfe am Herzen läge?
Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben, gab es da einen feinen, doch bedeutsamen Unterschied. Im Gegensatz zum Rest der Gruppe, die wohl ohne Ziel und Hoffnung durch die nebligen Weiten geirrt wäre, glaubte... hoffte Alyndur, einen Weg zu kennen, der ihn nordwärts zum Fuße der Adlerberge führen würde und sogar darüber hinaus. Bis hin zu... rasch wehrte er diesen Teil seiner Erinnerung ab. Es tat nichts zur Sache. Die anderen Möglichkeiten, die ihm zur Zeit offenstanden, schienen nicht gerade vielversprechender und sicher würden die Berge noch andere begehbare Pfade bereithalten als jenen einen. Jedenfalls behagte ihm die Aussicht, im weiteren Verlauf der Reise und bei dem, was er möglicherweise erfordern konnte, Anoras Speichellecker nicht mehr im Rücken zu haben, mehr als er sagen konnte. Er hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, dem Zwerg das Angebot zu unterbreiten, sich ihm anzuschließen. Einerseits war Nori noch nicht allzu lange mit der Gruppe gereist und seine mystischen Kräfte hätten in manchen Situationen von nahezu unschätzbarem Wert sein können, doch andererseits hatte er Anora bereits die Treue geschworen und er schien zu jener Art von Zwergen zu gehören, die einem gegebenen Wort höheren Wert zubilligten als ihrem eigenen Leben. Merkwürdig zwar, dass er sich dennoch seinen rundlichen Zwergenbauch an einem Feuer wärmte, während die Empfängerin seines Treueschwurs vielleicht gerade einsam in den Ebenen verdurstete, doch Nori hatte sich bei weitem zu zurückhaltend gezeigt, als dass Alyndur bei seiner Begleitung wohl gewesen wäre.
Er hatte sich schon zum Gehen gewandt, als er abrupt innehielt. Der Klang der letzten Worte, die er an Ulbrun richtete, war nicht wirklich von Sanftheit bestimmt, aber auch nicht von Hohn. Er hatte etwas von beidem.

„Denkt über mich und das, was ich zu Euch sagte, wie Ihr wollt. Eines aber könnt Ihr mir glauben - und nur diesem Einen verdankt Ihr all mein Mitgefühl: Ich weiß, was es bedeutet, eine Schwester zu verlieren.“
Angekommen an seinem Lager, legte er sich nieder und schloss die Augen. Er versuchte, den Traum zurückzurufen und das beharrliche Zerren, das ihm mit einer seltsamen Gewissheit den Weg nach Norden gewiesen hatte, erneut zu spüren. Dann war es dort. Am Rande seines Bewusstseins, als hätte es nur auf seinen Ruf gewartet. Er folgte ihm für eine Weile bis zu dem Platz, wo er Anora im Schlaf erblickt hatte. Als Alyndur seine Augen wieder öffnete, kannte er seinen Weg. Der Nebel schien sich noch stärker verdichtet zu haben, als er es schon an den Vortagen gewesen war, doch heute war der Waldläufer dafür dankbar. Er füllte ein paar Schläuche mit Wasser und stahl mehrere Portionen von dem zur Zeit günstigerweise unbewachten Essenssvorrat der aufgescheuchten Karawane. Nachdem er die üppigen Vorräte etwas abseits des Lagers an Calderion befestigt hatte, schwang er sich in den Sattel. Ein letztes Mal blickte er sich verstohlen um, doch sowohl von den Nordleuten als auch von den verbliebenen Mitgliedern der Gruppe sah man nicht mehr als ferne Schemen. Wie schon einmal vor vielen Tagen versuchte Alyndur, seinen Hengst von der Reisegesellschaft wegzuführen und hinein in die endlosen Weiten der Ebenen des Schweigens zu traben. Diesmal aber gehorchte das Tier.
 
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Morgan

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Die Worte des Alyndur schmerzte den Tyrhimianer, der auf der Rückseite der Mauer saß, an der die Heuballen lagen. Der Gefährte hatte zwar den Jungen weggeschickt, doch nicht darauf geachtet, dass Maron sich in Hörweite befand und still an der Mauser saß um über das Vorgefallene zu meditieren. Als würde er sich nicht dir größten Sorgen darüber machen wo seine gefährtin geblieben war, doch er wuste ebenso, dass Anora genau wollte, dass man ihr nicht folgte. Egal ob zum Guten oder zum Schlechten....ausserdem war da draussen noch immer Ghomer, er ritt sicherlich in der Nähe der Elbe, wenn auch ausser Hör- und Sichtweite....
Doch die barschen Worte Alyndurs erschütterten Maron, wenn auch er sich nichts anmerken ließ - diese Ebenen machten einen Jeden aggressiv und negativ.
 

Darghand

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~ Harmund ~

“Wa... verdammich!“ Auf Skattjys kurzen Fluch folgte das dumpfe, nasse Geräusch eines aufschlagenden Körpers. Harmund drehte instinktiv den Kopf, doch es war schon zu spät. Der Schütze hatte auf dem regendurchtränkten matschigen Abhang den Halt verloren. Halb fiel, halb rutschte er den lehmigen, von schmierigen Blättern bedeckten Boden herunter, prallte gegen Harmund und riss ihn ebenfalls von den Füßen. Schreiend und fluchend versuchten sie ihren Fall zu bremsen, indem sie sich in Bauchlage brachten und die Stiefel in den Boden rammten. Doch vergebens. Erst das rund neun Schritt weiter unten liegende Ende des Abhangs brachte sie zum halten.
Skattjy rappelte sich auf und stieß die längste Aneinanderreihung hässlicher Flüche aus, die Harmund bisher in seinem Leben gehört hatte. Er besah sich und dann Skattjy. Zwischen ihnen und dem Waldboden war kaum noch ein Unterschied zu erkennen: von Kopf bis Fuß von klebrigem Matsch und dunkelbraunen Blättern bedeckt und von dem ständigen Regen durchtränkt bis auf die Knochen. Harmund schabte die gröbsten Matschklumpen von der Kleidung, entfernte das Laub aus den Haaren und sah sich um. Er erkannte kaum etwas, der Regen fiel zu dicht. Wolken und die einsetzende Dämmerung raubten das Tageslicht. Kleine Rinnsäle hatten sich zu ihren Füßen gebildet, alles war nass, grau und undurchsichtig.
„Was für eine Scheiße!“ Skattjy kratzte wütend die Pampe von seinen durchweichten Stiefeln. „Man könnte meinen, der gesamte Regen für den nächsten Zyklus kommt an einem Tag runter! Und da müssen wir auch noch in diesem Matschloch herumsteigen, was, Umbar?!“
Wie auch immer es der Alte Wolf geschafft hatte, den Abhang herunterzukommen: er war dabei sauber geblieben. Er war genauso durchnässt wie die anderen beiden Grenzläufer, aber oberhalb der Hüfte war nicht ein einziger brauner Spritzer zu sehen. Umbar stand aufrecht, um nicht zu sagen würdig, etwas abseits unter den Ästen einer mächtigen Ulme und verzog angesichts Skattjys Flucherei keine Miene. Dieser dachte gar nicht daran sich abzuregen.
„In einen Sumpf hat er uns geführt, der Hundsfott! In einen Kessel, in den die flüssige Pampe von allen Seiten reinläuft! Stelzen oder Schneeschuhe bräuchte man, um hier durchzukommen! Hundert Unterschlüpfe hätt ich gekannt auf meinem Weg, aber nein, ich Trottel latsch ja lieber euch beiden hinterher!“
„Halt den Rand. Wir sind alle nass.“ Harmund wrung seine Haare aus und schüttelte sich wie ein Hund. Er fühlte sich elend. Seinem Verständnis nach war es viel zu kalt für Regen. Es hätte schneien müssen, schönen, sanft fallenden Schnee, den man aus den Haaren schütteln konnte. Stattdessen ergoss sich dieser eisige Sturzbach vom Himmel. Seine Finger und Füße waren schon seit Stunden völlig taub und gefühllos. Inzwischen zweifelte er selbst an dem Weg, auf den sie Umbar auf ihrem Marsch Richtung Süden geführt hatte.
Seit nunmehr drei Tagen liefen sie, soweit das Gelände dies zuließ, schnurgerade in Richtung Süden. Später würden sie sich trennen, sobald sie die dichter besiedelten Gebiete des Reiches erreicht hätten, um ihre Geburtsstämme aufzusuchen. Am Morgen dieses Tages hatte der Regen eingesetzt, und seitdem nicht merklich an Stärke nachgelassen, und ohne dass in der bleigrauen Wolkendecke auch nur ein einziger heller Fleck aufgetaucht wäre. Sie mussten einsehen, dass unter diesen Umständen das Weitermarschieren sinnlos war: an Feuer war nicht zu denken, sie alle froren und der aufgeweichte Boden zehrte darüberhinaus an den Kräften. Umbar, der die Route vorgab, hatte irgendwann und ohne erkennbaren Grund die Richtung gewechselt, um, wie er sagte, die Hütte eines Köhlers aufzusuchen. Und hier standen sie nun.
„Nicht mehr lang.“ knurrte der Alte Wolf. „Der Geruch von Rauch liegt schon in der Luft.“
Harmund roch angestrengt in die Waldluft hinein, konnte aber nichts erkennen. Es roch einfach nur modrig und nass. Skattjy murmelte etwas, was Harmund nicht verstand, und schob sich dann gleich drei Blätter Sängerfarn in den Mund. Das schien ihn zu beruhigen, jedenfalls fluchte er nicht mehr.

Umbar sollte Recht behalten. Unweit des Abhangs erreichten sie einen vom Regen angeschwollenen und braun gefärbten Bach, dessen Verlauf sie stromaufwärts folgten. Nach kurzer Zeit führte eine fachmännisch gezimmerte und ziemlich vermoderte Holzbrücke über den Strom, und bald darauf erkannten sie ein Häuschen, das sich unter ein paar Eichen duckte. Wie alle Häuser des freien Volkes bestand es im Grunde nur aus zwei steilen Giebeln aus Holzbalken, Wackersteinen und Lehm und einem ebenso steilen Dach. Das Dach war fast bis zum Boden heruntergezogen, dick mit Reet gedeckt und verbarg die niedrigen, oft nur einen Schritt hohen Seitenwände. An den hinteren Giebel war ein Kamin gemauert, aus dem dicker Rauch quoll.
Neben der Hütte war der Wald gerodet. Große, kreisrunde Rußflecken deuteten darauf hin, wo zuletzt die Kohlenmeiler abgebrannt worden waren. Auf der Lichtung stand außerdem eine windschiefe Kaschemme, in der Harmund Stroh und zwei Steinspringer entdeckte, die für den Köhler vermutlich die Baumstämme zogen. Die Tiere starrten sie aus dunklen Augen an und fraßen dann ungerührt weiter. Der nächste Bewohner blieb nicht so still. Von irgendwoher kam ein Hund geschossen, ein riesiges Etwas mit grauem Fell, mehr Wolf als Hund, und veranstaltete ein ungeheures Spektakel. Abwechselnd bellend und knurrend sprang der Hund um sie herum und hob drohend die Lefzen.
Im Inneren der Hütte rumorte etwas, die Tür sprang auf und vierschrötiger Kerl, eine Fackel in der einen und eine Glefe in der anderen Hand, kam heraus. Es war schwer zu erkennen, ob der Mann einen Buckel hatte oder einfach nur ungewöhnlich viele Muskeln.
„Wer da?!“ rief er und blinzelte ins Halbdunkle. „Eure Namen, ihr Saukerle, und sagt bloß die richtigen! Der Spieß hier trifft auf zwanzig Schritt ein Eichhörnchen, und den Rest erledigt dann Raunka.“
Raunka knurrte noch einmal besonders laut.
„Reg dich ab, Rugnar. Ich bin's, Umbar.“
„Aaach!“ Der Mann namens Rugnar spuckte geräuschvoll aus und stellte den Spieß aufrecht. „Der Wolf gibt sich die Ehre. Und die andern beiden? Auch solche Tannenzapfensammler wie du?“
„Ja.“ antwortete Umbar knapp, und bedeutete seinen Gefährten näher zu treten. „Skattjy, Harmund.“
Beide grüßten knapp.
„Hmh, jaja, dann kommt halt rein. Das Elend ist ja nicht mit anzusehen. Bah, Froschbeine kriegt man hier draußen, verflucht nochmal.“
Der Köhler duckte sich unter dem niedrigen Türbalken hindurch und verschwand in der Hütte. Als Harmund eintrat traf ihn fast der Schlag. In dem offenen Kamin brannte ein gewaltiges Feuer, das die Hütte über das Erträgliche hinaus aufheizte, in der Luft stand Rauch und es roch nach nasser Kleidung, Kohl, Angebranntem und feuchtem Hundefell.
„Ha!“ schrie Rugnar. „Kein Schritt weiter, ihr Hundsfötte! Hier liegt schon genug Dreck drin, da müsst ihr den halben Acker, der an euch dranklebt, nicht noch dazuschmeißen. Runter mit den Klamotten! Da, da rein in den Trog. Einfach alles reinschmeißen.“
In einem übergroßen Holzbottich schwamm bereits Kleidung des Köhlers. Das Wasser dampfte. Die drei Grenzläufer entledigten sich steifgliedrig ihrer Hemden, Hosen, Stiefel und Felle. Rugnar kam mit einem rußigen Kessel angeschleppt und kippte das kochend heiße Wasser in den Bottich.
„So.“ sagte er dann zufrieden. „So, jetzt hab ich euch also reingelassen. Und wie ich euch Schrate kenne, werdet ihr mir die Vorräte wegfressen, eure stinkenden Leiber in meine Felle wickeln und dann noch nach Bier verlangen, weil's ja die Tradition so will, dass unsereins euch Kerls unterstützt.“
„Wir sind schon zufrieden, wenn wir uns und unsere Kleidung trocknen können, und etwas Platz auf dem Boden bekommen.“ sagte Harmund vorsichtig, worauf Umbar und Rugnar in Gelächer ausbrachen.
„Er meint's nicht so.“ sagte Umbar. „Es ist nur...“
„Natürlich meint er's so! Verdammte Schmarotzerbande! Hol euch doch der... !“ brüllte der Köhler, verstummte dann und grinste breit mit seinen schiefen Zähnen aus dem verfilzten Bart hervor. „Na los doch, macht's euch bequem, setzt euch irgendwohin und steht nicht rum wie die Deppen. Ist ja nicht so, dass unsereins hier draußen viel Gesellschaft hätte, und da nimmt man halt, was grad zur Tür reinkommt.“
Wie sich bald herausstellte, gehörten Umbar und Rugnar einstmals zumselben Stamm, und auch wenn beide ihre Wurzeln schon lange hinter sich gelassen hatten war diese Verbindung über die Jahre hinweg bestehen geblieben. Niemand stellte die Frage, aber es war offensichtlich, dass der Köhler zu jenen gehörte, die aufgrund eines Vergehens von ihren Stämmen ausgeschlossen und so gewissermaßen heimatlos wurden. Ihnen war der regelmäßige Umgang mit Stammesangehörigen untersagt und sie durften nicht in der Nähe der Dörfer siedeln. Die meisten von ihnen gingen deshalb Tätigkeiten nach, die unbeliebt waren und nur einen sporadischen Kontakt mit anderen Menschen benötigten. Das Köhlerhandwerk gehörte unzweifelhaft dazu. Andere Ausgestoßene lebten autark als Jäger, andere schlossen sich, wie Harmund wusste, den Grenzläufern an, wo niemand nach der Vergangenheit fragte. Es war vermutlich diese Gemeinsamkeit, die die Gastfreundschaft und Großzügigkeit des Köhlers erklärte: er hatte nicht nur grobes Brot, sondern auch einen dunkelgrauen Schinken und eine bauchige Karaffe Met herbeigeschafft und ihnen allen ein Bad im Trog angeboten.
Hinterher saßen sie, rosig blankgeschrubbt und ermattet von der Hitze des Wassers und dem langen Marsch, auf dicken Holzklötzen, würfelten und leerten dabei den Metkrug.
„Ihr müsst den Empfang verstehen“ sagte der Köhler und kraulte dabei seine Hündin hinter den Ohren. „Ein lausiges Jahr ist das. Gesocks schleicht hier durch die Wälder... das gab's früher nicht. Ein Haufen Halbstarker kam hier an, ist kaum drei Zehntag her, und meinten sie könnten mir die Hütte ausnehmen. Mit unsereins kann man's ja machen. Mit Knüppeln haben sie mir gedroht, mit Knüppeln! Bier wollten sie haben, oder irgendwas Berauschendes. Ha! Dem einen hab ich 'ne Narbe quer übers Gesicht verpasst, und dem andern die Nase gebrochen, da sind sie schon gelaufen. Aber einen hab ich am Kragen erwischt, hier, damit...“
Rugnar fuhr mit dem Daumen über den Haken der Glefe, der zum Stürzen von Bäumen verwendet wurde.
„Rumgeheult hat er. Mit'm Spieß an 'nen Baum hab ich ihn genagelt, und hab ihm das Zerrgeschirr über den Rücken gezogen. Der kann bis heut nicht richtig liegen, könnt ihr sicher sein.“
„Und die Gute hier“ fuhr er fort. „Hab ich seit dem Frühjahr. Soll mir das Haus bewachen. Irgendein Bär hat mir damals meine beiden Springer umgebracht.“
„Ein Bär sagst du?“ Harmund wurde hellhörig, und auch die Aufmerksamkeit des Alten Wolfs war geweckt.
„Na, das nehm ich doch mal an. Was bringt denn sonst Steinspringer mit ein paar Hieben um, hm?“
Umbar setzte sich auf seinem Stuhl zurecht und kippte seinen Holzkrug Met herunter.
„Los, erzähl was vorgefallen ist.“
Rugnar wirkte etwas verwirrt ob des plötzlichen Interesses.
„Ist keine große Sache.“ Er zuckte schnaufend mit den Schultern. „Ich, na ich sitz hier am Abend halt rum, hab grad den ersten Haufen am brennen und bin mit 'ner Kanne Bier am gange. Also immer mit einem Ohr und der Nase nach draußen, muss ja sein, damit... Ach, jedenfalls hör ich mit einmal so'n lautes Gebrüll, und die Springer blöken wie, wie... wie wenn sie abgestochen werden. Ich also die Pieke geschnappt, und nichts wie raus. Aber war schon zu spät. Meine Springer gab's schon gar nicht mehr, die waren, ja, in Stücke gerissen, aber wie ich da hinkomm, da seh' ich halt den Bär mit Riesensätzen im Dickicht auf und davon. Und deshalb ist Raunka nu hier. Die wittert alles und jeden, der hier ankommt...“
„Bist du dir sicher, dass es ein Bär war?“ fiel ihm Umbar ins Wort.
„Seit fast zwanzig Wintern haus ich in der Wildnis, da werd ich doch wohl noch 'nen Bären erkennen!“ brauste Rugnar auf. „Brauner Pelz, hoher Rücken – und schnell war er, aber das weiß jeder, der mal 'nen Bären laufen gesehen hat!“
Harmund zerrte sein Marschgepäck zu sich heran und wühlte darin herum. Schließlich zog er einen der abgeschlagenen Vorderläufe heraus. Sie hatten die Beutestücke zwar geräuchert, aber die Pranke hinterließ trotzdem den süßlich-faulen Geruch von Aas in der Luft.
„Bah pfui, euch Kerls pfeift doch der Wind zum einen Ohr rein und zum andern raus, dass ihr so'n Zeug mit euch rumschleppt! Was soll denn das?“
„Sieh dir das Fell an.“ sagte Harmund. „Sah dein Bär auch so aus?“
„Wasweißich...“ grummelte der Köhler und hielt sich empört die Nase zu. „Der war schon fast am Rand der Lichtung... brauner Pelz halt.“
„Und die Fährten?“
Rugnar überlegte. Er überlegte ziemlich lange.
„Na, eine Sache war da. Also, wenn ein Bär schnell läuft, dann sind die Fährten ja so.“
Er hielt seine Hände so nebeneinander, dass die Finger der Rechten auf Höhe des linken Handgelenks waren. „So versetzt eben. Aber damals im Frühjahr, da waren sie nebeneinander. Direkt nebeneinander, ich hab's ja gesehen, weil ich noch ein Stück hinterher bin. Die Abdrücke hab ich mir nicht so genau angesehen, aber ich weiß, dass sie immer nebeneinander waren. Mehr wie bei 'nem Berglöwen.“
„So läuft kein Bär.“ stellte Harmund fest.
„Es war also auch hier unten.“ murmelte Skattjy, der sich wie üblich die ganze Zeit über in Schweigen geübt hatte.
„Oder es gibt mehr als einen.“ sagte Umbar finster.
„Von was denn?“ schrie Rugnar und schmiss seinen Krug zu Boden. „Von was redet ihr Hundsfötte, wenn unsereins das wissen darf!? Eure Denkerfressen müsstet ihr mal sehen!“
Die Grenzläufer schauten ihn. Sie sagten es ihm.
 
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Anora

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Es war so dunkel... Nicht die finsterste Nacht in ihrem Leben war von solch einem tiefen Schwarz gewesen, wie es sie jetzt umgab. Hier gab es nichts und niemanden, sie war vollkommen allein.
‚Das also ist das Ende.’, dachte sie. ‚So ist es, wenn man stirbt.’
Sie hatte es sich immer anders vorgestellt. Sie hatte geglaubt, im Tod würde sie endlich ihren Frieden finden, ihr Geist würde schließlich zur Ruhe kommen. Davon jedoch war hier keine Spur. Sie fühlte sich so rastlos, so unendlich verlassen… Es fühlte sich falsch an.
„Du willst noch nicht gehen.“ Es war ihre eigene Stimme, die leise, einem Flüstern gleich zu ihr sprach, doch sie kam aus weiter Ferne. „Tief in dir weißt du, dass es so ist, dass du noch nicht bereit bist, zu gehen. Nicht jetzt, nicht hier…“
„Aber ich muss!“, antwortete sie, und es klang wie aus Trotz. „Was will ich noch in dieser Welt, die mir nichts zu bieten hat und der ich nichts geben kann?“
„Ist das so? Glaubst du das wirklich?“
Bilder strömten in ihr Gedächtnis, so zahlreich, dass sie kaum eines klar erfassen konnte. Es waren Bilder von Personen, die ihr in ihrem Leben begegnet waren, Orte, die sie bereist hatte, Taten, die sie begangen hatte. Nicht alle waren gut, nicht alle waren schlecht, doch all das war es, was sie ausmachte.
„Glaubst du wirklich, dein Leben sollte an diesem Punkt enden? Du hast noch lange nicht alle deine Vorhaben umgesetzt, noch lange nicht alle deine Versprechen erfüllt. Wie also glaubst du kannst du jetzt schon deine Ruhe finden? Es ist noch nicht deine Zeit…“
Wahrhaftig, sie hatte noch so viel vor, so viel zu erledigen… Da waren ihre Freunde, ihre Gefährten, die sich auf sie verließen. Da war ihr Wort, das sie gegeben hatte. Und da war auch die Schuld. Das alles gehörte zu ihr. Aber sie…
„Man hat immer eine Wahl. Denke daran.“
Es war nicht so, dass sie ihre Freunde immer nur benutzt hatte, ihnen nur wegen ihres Gewissens geholfen hatte… Nein. Auf einen Teil von ihr mochte das sicher zutreffen, aber das war nicht ihr ganzes Selbst. Sie mochte manchmal arrogant erscheinen, egoistisch und kalt, doch genauso gab es die anderen Seiten an ihr: Die tiefe Freundschaft und Dankbarkeit, die sie mit Balan, dem ruppigen Halbork verband, war nur ein Beispiel dafür. Wahrlich, es gab so vieles, für das es sich zu leben lohnte…
Das Licht kehrte zurück. Anora spürte die Wärme, spürte die Geborgenheit die davon ausgingen, so schwach es auch sein mochte. Und mit dem Licht kam die Hoffnung.
Erneut nahm das Licht die Gestalt eines Körpers an – Ihres Körpers. So trat es erneut vor sie und blickte sie wiederum aus forschenden Augen an.

„Noch einmal frage ich dich also, wer du bist.“
„Anora Alia, die Tochter von Elmay’rath Helegnen.“ Die Antwort kam ohne Zögern und mit fester Stimme.
„Und wer möchtest du sein, Anora Alia?“
„Ich bin wer ich bin.“, antwortete sie. „Und ich will auch niemand anderes sein. Ich bin die Tochter meines Vaters, nicht mehr und nicht weniger. Aber ich bin nicht er. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen, führe mein eigenes Leben – So wie ich es für richtig erachte.“
Die Gestalt lächelte, und auf einmal wurde das Licht, das von ihr ausging, heller und strahlender als zuvor.
„Endlich nimmst du mich an!“, sagte sie leise.
Dann breitete sie die Arme aus und schloss sie fest um sie. Sie konnte ihr eigenes Lachen hören, glücklich, gelöst und voller Tatendrang. Dann verschmolz sie mit dem Licht. Und endlich fühlte es sich richtig an.
Ein letztes Mal noch sprach die Stimme zu ihr, bevor sie vollends eins wurden:

„Und nun… lebe!“
 

Anora

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Die Kreatur war nun ganz dicht vor ihr. Sie konnte bereits ihren fauligen Atem riechen. Auch das leise Klackern, das das Wesen bei jedem Atemzug von sich gab, war jetzt deutlich hörbar. Sie spürte, wie die Kreatur ihren Körper anspannte, ausholte, für den letzten, tödlichen Schlag…
Alles ging wie in Zeitlupe.
Zielsicher griff Anora mit ihrer Linken an die Stelle, an der sie ihr kleines Feuer entfacht hatte. Sie grub ihre Finger tief in die Asche – Und tatsächlich, wie sie gehofft hatte befand sich darunter noch Glut. Sie spürte kaum, wie die Haut ihrer Hand durch die Hitze verbrannte, als sie ihre Finger fest um einen Teil der glühenden Asche schloss.

„Du bist tot!“, knurrte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Dann ging alles auf einmal wahnsinnig schnell.
Was auch immer das für eine Kreatur sein mochte, mit der sie es hier zu tun hatte, Anora konnte nur darauf hoffen, dass sie den Kontakt mit glühender Asche ebenso wenig mochte wie ein Mensch, als sie den Inhalt ihrer Linken in die Richtung schleuderte, in der sie den Kopf des Wesens vermutete. Sie hörte ein Zischen, dann ließ ein lautes, schmerz- sowie zornerfülltes Klackern ihre Hoffnung wahr werden. Dies war die einzige Chance, die sie bekommen sollte. Blitzschnell warf sie sich zur Seite – Woher sie noch die Kraft für eine solche Aktion nahm war ihr nicht bekannt, aber es kümmerte sie auch nicht. Sie spürte, wie die Klauen der Kreatur sich nur wenig von ihr entfernt an der Stelle, an der sich eben noch ihr Hals befunden hatte, in den Boden bohrten. Voller Wut ließ die Kreatur erneut ihr lautes Klackern ertönen, bevor sie ihre Klauen wieder aus dem dörren Boden riss – Doch zu diesem Zeitpunkt hatte Anora bereits reagiert. Mit beiden Händen umklammerte sie fest den Griff ihres magischen Dolches und stürzte sich mit einem Schrei vorwärts. Die Klinge sauste herab und traf mit der Spitze voran auf eine Art dünnen Panzer, der dieser Kraft jedoch nicht standhielt und zerbrach. Bis zum Heft bohrte sich der gewellte Dolch in das Fleisch der Kreatur, deren wütendes Klackern auf einmal mehr wie ein Heulen klang. Mit aller Kraft riss Anora den Dolch wieder aus dem Fleisch heraus. Doch damit war es noch nicht genug. Wieder und wieder stach sie zu, und bei jedem Treffer schrie sie laut
„Tot! Tot! Tot!“. Bald schon war sie ganz besudelt von den Lebenssäften der Kreatur, doch ihr Zorn kannte kein Ende.
Irgendwann, als sich vor ihr nichts mehr rührte und das Klackern schon lange verstummt war, wurden ihre Bewegungen langsamer und erstarben schließlich ganz. Heftig keuchend kniete sie da und war sich noch immer nicht so ganz im Klaren darüber, was so eben geschehen war. Langsam öffneten sich ihre Sinne wieder für ihr weiteres Umfeld. Sie nahm die Wärme wahr, hörte das Knistern… Feuer! Die Glut, die sie gerettet hatte, musste das dörre Gras dieses Ortes entfacht haben und die Flammen konnten sich nun ungehindert ausbreiten. Mit der letzten Energie, die ihr Körper noch aufbringen konnte, kroch Anora auf Händen und Knien von dem toten Baum weg, der ihr als Rastort gedient hatte und beinahe zu ihrem Grab geworden wäre. Sie schleppte sich vorwärts, bis sie unter sich blanken Fels ertastete, und dann noch einige Meter weiter. Hier ließ sie sich endlich völlig entkräftet auf den Boden sinken und verharrte in dieser Position. Als ihre Atmung sich wieder einigermaßen normalisiert hatte, bemühte sie sich noch einmal darum, ihre Augen von der lästigen Blutkruste zu befreien, die ihr das Sehen verwehrte – Und diesmal hatte sich nach einiger Zeit Erfolg. Ächzend drehte sie sich auf den Rücken und sah sich blinzelnd um. Nicht allzu weit von ihr entfernt brannte ein prächtiges Feuer. Der tote Baum und der nun ebenfalls tote Körper der Kreatur schienen den Flammen eine gute Nahrung zu sein, denn sie schossen weit in die Höhe und eine meterhohe Rauchsäule ragte wie ein Mahnmal über ihnen empor. Für Anora war dies ein Freudenfeuer. Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, verzogen sich aber gleich darauf zu einer hässlichen Grimasse. Die Schmerzen meldeten sich zurück. Es war nun nicht mehr nur ihr Kopf, der pochte als wolle er zerspringen, nein nun lieferte er sich auch noch einen Wettstreit mit ihrer pulsierenden Schulter und ihrer brennenden Hand. Aber die Schmerzen waren Zeichen dafür, dass sie noch am Leben war. Sie lebte! Noch immer! Ein krächzender Laut drang aus ihrer Kehle, der sich bald in ein Lachen verwandelte.

„Seht her, ihr Götter!“, spottete sie laut. „So schnell bekommt ihr mich nicht! Ich lebe! Macht was ihr wollt, solange ich auf dieser Welt noch etwas zu erledigen habe werdet ihr mich nicht los!“ In ihrer Stimme schwang Triumph, aber auch ein Anflug von Wahnsinn mit. „Ich fordere euch zu diesem Spiel heraus! Und selbst wenn ich nicht gewinnen kann, so wird euch diese Partie doch lange im Gedächtnis bleiben!“
Wieder lachte sie, verlachte die Götter, verlachte die Welt, verlachte alles, solange bis ihre Stimme erstarb. Dann lag sie einfach nur noch da, Arme und Beine von sich gestreckt, über und über mit Blut befleckt und blinzelte in den wolkenlosen Morgenhimmel. Ein neuer Tag brach an.
Schließlich jedoch musste sie den Forderungen ihres ausgelaugten Körpers nachgeben, und so fiel sie in einen erschöpften, tiefen Schlaf. Und dieses Mal war es ein guter Schlaf.
 

Alyndur

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Das Feuer erwies sich als perfekter Führer. Wenn eines in dieser feuchtkalten Einöde sicher nicht von selbst zustande kam, so war es dies. Alyndur und Calderion hatten sich schon eine Stunde guten Ritts von der Karawane entfernt, als sie scheinbar gleichzeitig den Rauch in der Luft vernahmen. Von da an war es nicht mehr schwer gewesen, seine Herkunft auszumachen.
Dort angekommen, bot sich ihm nun ein sagenhafter Anblick: Eine gewaltige Flammenfront, die sich im langsamen Sieg über das feuchte Gras, das sie umgab, allmählich ausbreitete. Manch ein Narr aus den alten Schriften, die er einst gelesen hatte, hätte dies zum Anlass genommen, um ehrfürchtig auf die Knie zu fallen und ein Gebet zu irgendeiner selbstgefälligen Gottheit anzustimmen. Alyndur hingegen war eher danach zumute, nach einer irdischen Ursache des Feuers Ausschau zu halten und, da Calderion die Nähe der Flammen scheute, ließ er das Pferd zurück und machte sich zu Fuß auf die Suche. Bald begannen seine Augen ob des Qualmes teuflisch zu tränen und, als er schließlich fürchtete, seine Augen würden ihm in der Nähe des Feuers gar nichts mehr nützen, erhaschte er den Schemen einer am Boden liegenden Gestalt. Anora befand sich noch in sicherem Abstand vor den Flammen, doch es war möglich, dass der Qualm bereits sein Übriges getan hatte. Die Augen der Elfe waren geschlossen, ihr Gesicht blutverschmiert und wirkte entsetzlich ausgelaugt, doch um ihre Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Da sie sich nicht rührte, geschweige denn erwachte, setzte Alyndur dazu an, sie aufzuheben, doch dann bemerkte er ihre Hand und hielt abrupt inne. Ein Dolch ruhte noch in einem schläfrigen Griff und Alyndur war nicht so lebensmüde, die Intuition und Reflexe einer Meuchelmörderin zu unterschätzen, auch wenn sie noch so ausgelaugt und tief schlafend wirkte - gerade dann nicht. Mit einer raschen und dennoch sanften Bewegung, wie um sie nicht doch zu wecken, sicherte er mit der Rechten das Handgelenk und entwand ihr mit der Linken das Messer. Nachdem er es sich selbst an den Gürtel gesteckt hatte, wagte er es endlich, den Elfenkörper aufzuheben. Anora fühlte sich bemerkenswert leicht an, doch wann hatte er zum letzten Mal eine Elfe auf seinen Armen balanciert? Hoffentlich dachte Calderion ähnlich, denn von Anoras Stute war nichts zu sehen.
Weg vom Feuer, war sein erster Gedanke. Außerhalb der Reichweite von Qualm und Hitze war genug Muße, um zum feigen Pferd zurückzufinden. Wenn es denn noch an Ort und Stelle geblieben war. In der Eile hatte Alyndur sämtliche Vorräte an seinem Hengst verstaut gelassen - nicht auszudenken, was ihnen bevorstünde, wenn... doch bevor der Waldläufer dazu kommen sollte, sich um sein Pferd zu sorgen, fand es ihn wieder, allerdings nicht mehr allein. Neben ihm trabte eine Stute, die wohl niemandem sonst gehören konnte als Anora. Alyndur seufzte erleichtert. Er wickelte die Elfe in einen wärmeren Mantel, dabei bemerkte er eine starke Reißwunde an ihrer rechten Schulter und noch eine in Halsnähe, wie von der Klaue eines großes Raubtieres. Grübelnd kramte er in seinem mittlerweile beängstigend leeren Beutel mit Heilkräutern nach den Resten einer Pflanze, die sich für Wundsäuberung und -verschluss eignete, wenn man daran glauben wollte, und versorgte Anoras Wunden notdürftig mit Verbänden. Daraufhin setzte er sie in den Sattel ihrer Stute und befestigte sie so daran, dass sie im Schlaf nicht herunterfiel. Selbst aufgesessen, nahm er Aerlynns Zügel und setzte die beiden Pferde in Bewegung... nordwärts.

Nach einigen Stunden merkte er, dass sich Anora zu regen begann - nun, zumindest soweit, wie es ihr, an den Rücken ihres Pferdes gebunden, möglich war. Schließlich riss sie die Augen auf und blickte wie verblüfft um sich.

„Ich hoffe, Ihr hattet einen geruhsamen Schlaf?“, begrüßte Alyndur sie freundlich, mit nur einem Hauch überlegenen Spottes in der Stimme. „Glaubt Ihr, Ihr seid im Stande, auf diese kleine Hilfsapparatur zu verzichten?“
 
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Anora

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Schmerzen… Sie waren die ersten, die sie begrüßten, als sie allmählich wieder zu sich kam. Sie wurde in einem rhythmischen Viertakt hin- und hergeschaukelt, und bei jeder einzelnen Bewegung kam es ihr so vor, als würden zehn Dolche in ihrer Schulter beständig um ihre eigene Achse gedreht werden. Aber das war nicht das, was ihr am meisten zusetzte. In ihrem Kopf explodierte ein Feuerwerk, und ihr war unvorstellbar schlecht. Als Anora versuchte, sich irgendwo festzuhalten, um dem Schaukeln zu entgehen, spürte sie einen Widerstand, der sie daran hinderte, sich zu bewegen. Als sie erschrocken die Augen aufriss, stellte sie fest, dass das Schaukeln von der Bewegung eines Pferdes herrührte, auf dessen Rücken sie festgebunden war. Zaghaft versuchte sie, ihre Fesseln abzustreifen, doch es gelang ihr nicht.
Irgendjemand sagte etwas zu ihr, aber sie verstand nicht was, war sie im Moment doch mit ganz anderen Dingen beschäftigt.

„Los… Macht mich los!“, stammelte sie halblaut vor sich hin. Dann wurde sie aufgeregter, fast panisch, und ihre Worte klangen wie ein Befehl, der keinen Widerspruch duldete: „Macht mich los, zur Hölle! Verdammter… SOFORT!“
Nach einer scheinbar unerträglich langer Zeitspanne, die in Wahrheit nur wenige Sekunden lang dauerte, wurde ihrem Wunsch statt gegeben. Sie spürte, wie sich ihre Fesseln lösten. Anora verlor keine Zeit, sondern sah schleunigst zu, dass sie von diesem Pferd herunterkam. Als ihre Füße den Boden berührten, wäre sie fast gestürzt. Sie konnte sich gerade noch so auf den Beinen halten, indem sie sich an der Mähne des Tieres festklammerte. Ihr rechter, verstauchter Fuß machte sich wieder auf unangenehme Weise bemerkbar. Dessen ungeachtet stolperte sie ein paar Schritte weiter, bis sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können. Sie ging in die Knie und übergab sich. Viel war es nicht, was sie da zurück ans Tageslicht beförderte, immerhin hatte sie seit Tagen nichts mehr gegessen, aber dennoch verschaffte es ihr ein wenig Erleichterung.
Als es vorbei war, lehnte sie sich ein wenig zurück und ließ sich das fahle Sonnenlicht auf ihr Gesicht scheinen, das unter all dem Blut noch bleicher war als sonst. Alles drehte sich, die ganze Welt schien in Bewegung geraten zu sein. Selbst die Sonne tanzte vor ihren Augen munter auf und ab. Anora hatte sich in ihrem Leben selten so elend gefühlt.
Dann drängte sich der Gedanke in den Vordergrund, dass sie nicht mehr länger alleine war. Als sie sich umblickte, sah sie ein wenig abseits einen hoch gewachsenen Mann stehen, der sie ein wenig ratlos beobachtete. Zuerst dachte sie, es wäre ein Fremder, doch dann erkannte sie Calderion, den Hengst Alyndurs, der hinter dem Mann stand, und daneben… Aerlynn. Ihre Stute war gesattelt, wie sie feststellte, also musste jemand ihre Ausrüstung mitgebracht haben. Als sie den vermeidlich Fremden noch einmal genauer musterte, erkannte sie Alyndur. Er sah anders aus als sie ihn in Erinnerung hatte. Seine Haare waren kurz geschoren und fielen ihm nicht mehr lang ums Gesicht. Das machte seine Züge härter und vielleicht auch ein wenig arroganter als zuvor.

„Ihr…“, krächzte sie heiser hervor. „Ich hätte nicht geglaubt, Euch noch einmal wieder zu sehen!“
Beinahe hätte sie niemanden jemals wieder gesehen, so knapp war sie dem Tod entronnen.
Als sie sich bewusst wurde, in was für einer peinlichen Lage der Waldläufer sie hier sah, senkte sie rasch den Blick, um dem Seinen zu entgehen. Die Situation war ihr unangenehm, wollte sie doch keine Schwäche vor anderen zeigen.
Mit fest zusammengebissenen Zähnen rappelte sie sich mühsam auf und humpelte langsam zu Alyndur zurück. Kurz vor ihm blieb sie auf wackeligen Beinen stehen.

„Habt Ihr vielleicht etwas Wasser bei Euch? Ich bin am Verdursten…“
„Hier…“ Er hatte bereits eine Feldflasche in der Hand und streckte sie ihr auffordernd entgegen. Dankbar griff sie danach und begann gierig zu trinken, doch gleich darauf beugte sie sich vornüber und hustete und spuckte, um das Wasser wieder aus ihrem Hals zu bekommen. Die nächsten Schlucke nahm sie ruhiger. Köstlicher als das schale Wasser hätte in diesem Moment selbst der beste Honigwein nicht sein können, und die Flüssigkeit in ihrem Mund tat gut. Als sie die Flasche absetzte, lächelte sie Alyndur zaghaft an.
„Habt Ihr mein Feuer gesehen? Es war wunderschön, nicht wahr? Ihr habt einiges verpasst, da draußen! Es war…“ Ihre Worte kamen wie ein Säuseln hervor. Tatsächlich fühlte sie sich ein wenig so, als wäre sie betrunken. Sie wusste selbst nicht mehr so richtig, was sie gerade sagte. Nun ja, immerhin krächzte sie nun nicht mehr so wie ein altes Weib!
Und Alyndur… Er hatte nach ihr gesucht, obwohl sie keinen besonders guten… Start… miteinander hatten. Und er hatte sie gefunden…
Anora merkte, wie ihre Lider langsam wieder schwerer wurden. Eine ungeheure Woge der Müdigkeit überkam sie.

„Ich war noch nie so froh, Euch zu sehen, Alyndur.“, murmelte sie leise. Und das entsprach vollends der Wahrheit, hatte sie doch bisher kaum einen Anlass gehabt, über den Anblick des störrischen Waldläufers erfreut zu sein.
„Ich… Wir können gleich weiter reiten, wir müssen zurück zu den anderen. Lasst mich nur einen Augenblick… Nur kurz…“
Sie hatte den Satz noch nicht ganz beendet, da knickte sie langsam in sich zusammen. Die Feldflasche fiel neben ihr zu Boden, und das bisschen Wasser, das sich noch darin befunden hatte, bahnte sich in einem schmalen Rinnsal seinen Weg über den Fels.
 

Alyndur

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Als Anoras Kraft nachließ, eilte Alyndur herbei, um ihren Sturz abzufangen. Zu seiner Überraschung verspürte er ein leichtes Schuldbewusstsein. Gern hätte er sie ihrem lächelnden Schlaf überlassen, den sie nach all den Strapazen, die ihr Äußeres gezeichnet hatten, sicher nötig hatte, doch als er sie gefunden hatte, war es ihm weiser erschienen, erst genügend Abstand zwischen sie und Feuer und die nunmehr unberechenbaren Nordleute zu bringen, so es davon überhaupt genügend geben konnte. Nun aber schien es ratsamer, ihr ein wenig Erholung zu gönnen, wenigstens soviel, wie es guten Gewissens möglich war. Darum machte sich Alyndur daran, mit einer Decke eine kleine provisorische Liegestätte für sie herzurichten. Vorsichtig platzierte er sie so darauf, dass sie auf der Seite lag, um nicht an einer weiteren Erbrechung zu ersticken. Daraufhin band er Aerlynns und Calderions Zügel aneinander fest, da es sonst keinen Gegenstand gab, der dafür geeignet schien, und setzte sich auf einen Stein neben die Elfe. Als er das Gesicht in den Händen stützte, wurde er rasch seiner eigenen Erschöpfung gewahr und eh er sich versah, ward er selbst in einen dämmerigen Halbschlaf gesunken, der jeder klugen Vorsicht höhnte.

Irgendwann rissen ihn seine Sinne zurück. Er konnte nicht sagen, ob er gemeinsam mit Anora erwacht war oder ob sie schon länger nicht mehr in der Welt des Schlafes weilte, jedenfalls schien auch sie wieder bei Bewusstsein zu sein.

„Auch ich bin erfreut, Euch wiederzusehen“, bemerkte er wahrheitsgemäß. Und ohne die Gefährten, denen Euer Wort Befehl war. „Und ja, Euer kleines Lagerfeuer war schwerlich zu übersehen. Im Angesicht seiner machtvollen Erscheinung war ich zunächst versucht, in eine mehrstündige Demutshaltung zu verfallen. Zu unser beider Wohl habe ich mich dennoch anders entschieden.“ Er warf der Elfe einen ernsteren Blick zu und hoffte, dass sie indes genug Kraft gesammelt hatte, um sich der erschreckenden Wahrheit zu stellen: „Es gibt kein Zurück mehr.“ Er entblößte ihre Eisklinge wie ein Beweisstück für seine Worte und legte ihr dessen schicksalsträchtige Rolle dar.
„Selbst Ulbrun hat sich aufs Strengste gegen Eure Rückkehr verwahrt. Ihr wisst es selbst, sein Zuspruch und das Einverständnis seiner Schwester erwarben uns das Gastrecht der Nordleute und nun ist beides dahin und das Gastrecht haben wir in ihren Augen gespielt. Ihr wegen Eurer scheinbaren Verbindung zum Mord und ich dafür, dass ich mich Euch dieser zum Trotz erneut zugewandt habe.“ Er lächelte bitter. „Das stellt mich vor ihnen vermutlich wie Euren letzten und treuesten Lakai dar. Anders verhält es sich daher mit denen, die zurückblieben, als wären sie durch die Offenbarung Eurer wahren Natur ehrlich brüskiert. Sie stehen weiterhin unter dem Schutz des Gastrechtes und werden unbeschadet mit der Karawane weiterreisen dürfen. Danach liegt es an ihnen selbst, über ihren Weg zu entscheiden.“ Anora wirkte nun wahrlich ratlos und unruhig. Ehe sie einen vorschnellen Beschluss fassen konnte, setzte der Waldläufer rasch hinzu: „Wenn ich Euch nur um eines bitten darf: Nehmt die Wahrheit an, so wie ich sie Euch darlegte, und versucht nicht umzukehren. Dafür ist es längst zu spät. Des Schicksals Würfel sind gefallen. Die Spielregeln zu missachten, würde Euch hier das Leben kosten... und mich.“ Er sah die Elfe unverwandt an. Jede Spur von Heiterkeit oder Belustigung war aus seinen Zügen und aus seiner Stimme gewichen und alles, was blieb, war eine eindringliche, todernste Beharrlichkeit. „Denn vor uns liegt eine Aufgabe, die einer allein nicht bewältigen kann.“
 

Anora

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„Selbst Ulbrun…?“ Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber dass selbst Ulbrun sich gegen sie ausgesprochen hatte erschütterte sie mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Der alte Seher hatte sich in der Zeit, in der sie nun schon gemeinsam unterwegs waren, mehr als nur ihre Anerkennung verdient.
„Gerade er sollte doch wissen, dass es nicht die Klinge ist, die tötet, sondern die Hand, die sie führt.“ Doch bei all seiner Weisheit schein er dies im Angesicht der Tatsachen vergessen zu haben. Aber es war ja auch seine Schwester gewesen, die er verloren hatte…
Die Nachricht über den Tod der Karawanenführerin war ein harter Schlag gewesen, nicht so hart jedoch wie die Umstände, unter denen Freya gestorben war. Anora bedauerte dies zutiefst, hatte sie die Nordfrau doch als eine vernünftige und fähige Anführerin kennen gelernt, und sie hatte ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, dass es das von ihr zurückgelassene Schwert gewesen war, mit dem ihr der Todesstoß versetzt worden war, doch sie gab sich selbst keine Schuld an den Vorkommnissen – Und sie würde sich dafür auch nicht als Sündenbock benutzen lassen. Selbst wenn sie ihr Schwert mitgenommen hätte, hätte der von den Ebenen in den Wahnsinn getriebene Mörder sicherlich einen anderen Weg gefunden, seine Tat zu vollenden. Doch so war es für die Nordleute natürlich viel einfacher: Sie hatten in ihr jemanden gefunden, dem sie die Schuld zuweisen und gegen den sie ihren Hass richten konnten.

‚Und was meinst du wäre wohl passiert, wenn es die Waffe von einem der Ihren gewesen wäre, die ihre Anführerin tötete?’ Dass die Stimme ihres Vaters noch immer zu ihr sprach, hatte sie kaum überrascht. Sie hatte nun keine Angst mehr davor, denn sie wusste, dass es nicht der Wahnsinn war, der sie kontrollierte – Es war genau andersherum. Und es war anders als zuvor, denn von dem Stimmenchaos in ihrem Kopf war nur die ihres Vaters geblieben, und auch er meldete sich nur noch selten zu Wort. Und was er zu sagen hatte, war meist nicht mehr als ein Ausdruck ihres Unterbewusstseins, eines Teiles von ihr. Das hatte sie jetzt erkannt, und sie wusste, sie konnte damit umgehen.
‚Vermutlich hätten sie dir trotzdem die Schuld dafür gegeben, einfach nur weil du keine von ihnen bist.’
Vielleicht entsprach das der Wahrheit, ja, aber das würde sie wahrscheinlich niemals herausfinden und es änderte auch nichts. So oder so, Freya war durch die Ebenen gestorben, während sie selbst ihnen entkommen war. Das war es wohl, was so manch einer Schicksal nannte.
Seufzend wandte sie ihren Kopf ein wenig zur Seite und musterte nachdenklich Alyndur, wie sie es schon zuvor getan hatte. Die wenigen Stunden, sie sie in Ruhe hatte schlafen können, hatten ihr etwas Kraft zurückgegeben. Auch das Schwindelgefühl hatte sich gebessert – Zumindest war es zu ertragen, solange sie sich nicht bewegte. Als sie zum wiederholten Male wieder zu sich gekommen war, hatte sie Alyndur schlafend vorgefunden. Sie hatte ihn eine ganze Zeit lang dabei zugesehen, wie er so friedlich dasaß, und sich dabei immer wieder die Frage gestellt, weshalb gerade er aufgebrochen war, um nach ihr zu suchen, und dabei so viel riskiert hatte. Er hatte die Sicherheit der Zweckgemeinschaft mit der Karawane und auch die Reisegefährten verlassen, hatte ihren Zorn auf sich gezogen, und zu welchem Zweck? Bei Maron hätte sie es vielleicht noch verstanden, möglicherweise sogar bei Ulbrun, aber bei Alyndur… Sie hatte keine Antwort auf diese Frage gefunden. Irgendwann würde sie ihn vielleicht danach fragen, aber jetzt war nicht der richtige Moment dafür.
Alyndur verlangte von ihr, dass sie die übrigen Gefährten bei der Karawane zurück ließ, um ihrer aller Sicherheit willen. Dieser Gedanke behagte ihr nicht sonderlich. Das lag nicht so sehr an der Aussicht, von nun an alleine mit Alyndur unterwegs zu sein, als vielmehr an der Angst um ihre Gefährten. Selbst um Ulbrun fürchtete sie, hatte Alyndur doch berichtet, dass ein Teil der Schuld auch auf den Schultern des Sehers abgeladen wurde.

„Ulbrun gehört zu uns!“, sagte sie leise, doch Zweifel klang in ihrer Stimme mit. War es etwa nicht so? Immerhin war er nun wieder unter Seinesgleichen, in seinem Volk. Und er hatte sich gegen ihre Rückkehr ausgesprochen. Wer waren sie schon für ihn?
Wahrscheinlich war es tatsächlich besser so. Auch die anderen würden schon zurecht kommen, bildeten sie doch auch ohne sie einen recht schlagfertigen Trupp. Gerade für den jungen Bisu war es in der Karawane eindeutig sicherer als hier bei ihnen. Hoffentlich war Maron so vernünftig nach Alyndurs Fortgang nicht ebenfalls die Karawane zu verlassen, sondern in deren Schutz weiter zu ziehen. Das war für sie alle das Beste.
Dennoch, es gab noch einen anderen Grund als die Sorge um die Sicherheit ihrer zurückgelassenen Gefährten, der sie nur schwer den Gedanken annehmen ließ, von nun an ohne sie zu reisen. Alyndur hatte schon Recht, vor ihnen lag eine Aufgabe – Ihre Aufgabe! Und für sie hatte sie allerhöchste Priorität! – die einer alleine nicht schaffen konnte – Doch ob sie ihnen zu zweit gelingen würde, stand ebenfalls in den Sternen. Keiner von ihnen wusste, was sie in dem Gebirge erwartete.
Und dann kam noch ein Punkt hinzu: Wie lange würde es wohl dauern, bis sie wieder so weit bei Gesundheit war, dass sie keine Last mehr darstellte? Wie viel Zeit würde sie verlieren, in der sie kaum fähig war, selbst auf einem Pferd zu sitzen, geschweige denn die schwierigen Pässe der Adlerberge zu erklimmen oder zu kämpfen, so es denn nötig sein sollte?
Sie war ratlos, ihr Kopf begann wieder zu schmerzen und am liebsten hätte sie geschrieen ob all der Hindernisse, die ihr in den Weg gelegt wurden. Dabei wusste sie doch, dass es ihr eigenes Spiel war, in dem es keine Regeln gab und nichts für sie zu gewinnen.
Sie bemühte sich, sich ihre Gefühle und ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen, als sie Alyndur ansah.
„Zurück können wir also nicht, nicht jetzt, und vor uns liegt nur die Ungewissheit und eine Aufgabe, die eigentlich nur die Meine ist. Aber ich… Seht mich an, alleine werde ich es nicht schaffen, wie Ihr schon sagtet, nicht so… Doch selbst zusammen… Was sollen wir tun?“
Ihre Gefährten, die Nordleute, der Magier in den Bergen und die Ritter – Alles drehte sich im Kreis. Doch egal, aus welcher Sicht man es betrachtete, eines stand fest: Sie befand sich beim besten Willen nicht gerade in dem besten Zustand um alleine zu reisen und irgendeinen Auftrag zu erfüllen, und so schwer es ihr auch fiel, sich das einzugestehen – Sie war auf Alyndur angewiesen.
 

Alyndur

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„Was sollen wir tun?“
Es fehlte nicht viel und Alyndur hätte unwillkürlich lachen müssen. Was sollten sie tun? Die Antwort war so simpel wie kompliziert:
„Nun“, erklärte er. „Die Frage müsste vielleicht eher lauten: ,Was können wir tun?’ Umkehren können wir auf jeden Fall nicht.“ Darüber waren sie sich glücklicherweise einig. „So, wie ich die Lage verstehe, bleibt uns nichts anderes übrig, als unser Glück zu zweit mit den Bergen und jenem Magus zu versuchen. Sollte er tatsächlich existieren, so wird sich dort im Laufe der Zeitalter vielleicht der ein oder andere Hinweis darauf manifestiert haben, wie man ihm begegnen kann.“ Und, da Anora daraufhin die Stirn runzelte: „Zugegeben, das erfordert sicherlich ein Höchstmaß an Schicksalsgunst, doch haben wir uns nicht schon endgültig dafür entschieden, diese Unsicherheit in Kauf zu nehmen, als wir die Ebenen des Schweigens betraten? Ob dieser Weg klug war oder nicht, tut jetzt nichts mehr zur Sache, da es keine Alternative gibt.“ Das wenigstens war wahr genug.
„Was den Verlust der Gruppe anbelangt, so schätze ich, dass er nicht unbedingt von Nachteil für unser Vorrankommen sein muss. Gefährten, deren Begleitung in den Ebenen Schutz bedeutete, könnten uns in den Adlerbergen rasch zur Behinderung werden. Spätestens in größeren Höhen müssen wir damit rechnen, uns vor allem auf schmalen Gebirgspfaden oder in engen Höhlgängen fortzubewegen. Dort würde uns ein Zug von Kriegern und Pferden nur schwerfälliger machen und leichter angreifbar, ohne dass wir in der Lage wären, seine Fähigkeiten auf einen Feind oder ein anderes Hindernis zu konzentrieren. Im Gegenteil - stellt Euch vor, die Gruppe würde jäh durch die Laune der Berge getrennt - wir hätten wenig Chancen, einander über die unberechenbaren Gebirgswege wiederzufinden, jedoch würde uns das von unserer eigentlichen Aufgabe ablenken und womöglich liefe es dennoch darauf hinaus, dass wir zu zweit unseren Weg finden müssten.
Auch an Nahrung wird uns die verschneite Berglandschaft wenig genug bieten. Wir könnten unser Leben der Gegebenheit verdanken, dass wir jene spärlichen Vorkommnisse nur durch zwei teilen müssen, sobald unsere derzeitigen Vorräte aufgebraucht sind.
Und zu guter letzt - der Magier: Sollte seine Macht tatsächlich so unermesslich sein, wie es heißt, ist es gut möglich, dass uns auch die Fähigkeiten der anderen nicht gegen ihn verhelfen könnten. Zwei erfahrene Pirscher hingegen könnten ihm mit etwas Glück näher kommen als eine Gruppe mit dem Segen der Unauffälligkeit, wie ihn der ein oder andere unserer alten Weggefährten beireits bei der ersten Gelegenheit zweifelsohne an den Tag gelegt hat.“
In der Tat - der Fall war so simpel wie kompliziert.
 

Anora

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„Ha, eine andere Wahl haben wir wohl so oder so nicht, nicht wahr?“ Diese Worte hätten belustigt, vielleicht sogar ein bisschen herausfordernd klingen sollen, doch sie hörten sich so elend an wie Anora sich fühlte. Ihr war nicht wohl bei dieser Sache. Dennoch, Alyndur hatte wahrscheinlich Recht. Kehrten sie zur Karawane zurück, würden sie nach allem, was geschehen war, nicht gerade mit offenen Armen empfangen werden. Vielleicht würden die Nordleute tatsächlich versuchen, sie zu töten – Und in diesem Fall machte Anora sich nichts vor: Gegen eine solche Übermacht hatten sie beide nicht die geringste Chance. Selbst dann nicht, wenn der Rest der Gruppe geschlossen hinter ihr stände. Vermutlich würden sie mit ihrer Rückkehr nur auch die zurückgebliebenen Gefährten unnötig in Gefahr bringen. Das war es einfach nicht wert!
„So sei es denn.“, seufzte sie und legte sich in dem provisorischen Lager, das Alyndur ihr errichtet hatte, so zurecht, dass sie direkt in den Himmel sehen konnte. Der Tag neigte sich bereits wieder dem Ende zu.
‚Du wirst doch nicht etwa jetzt schon wieder genug von diesem Leben haben, das du dir so hart erkämpft hast?’ Der Spott in der Stimme ihres Vaters sprang ihr geradezu entgegen.
‚Nein, das ist es nicht. Es ist nur so… schwierig. Alles verändert sich, und nichts ist so, wie ich es mir gedacht hatte.’
‚Seit wann hast du Angst vor Veränderungen? Das ganze Leben ist eine Veränderung, und es ist nie so, wie man es sich wünscht.’
Darauf sagte Anora nichts. Es war wahr, sie mochte Veränderungen nicht sonderlich – Und daran war ihr Vater nicht gerade unschuldig. Ihre Aufträge, ihre Reisen durch das Reich und dann die Rückkehr in Balans Gilde – So hätte ihr Leben für immer verlaufen sollen und sie wäre glücklich gewesen. Doch all das war nun vorbei und es würde nie wieder so sein. Nun aber trieb das Leben sie vor sich her, immer direkt ins Unbekannte hinein. Sie mochte die Gefahr, mochte das Ungewisse, doch bisher hatte sie immer gewusst, wohin sie nach all dem zurückkehren konnte. Nach der Zerschlagung der Gilde hatte ihre kleine Reisegemeinschaft die Rolle der Heimat übernommen. Sie hatte sich für die Gruppe verantwortlich gefühlt, wusste, dass sie dort ihren Platz hatte. Jetzt hatte sie nichts mehr.
Ein lautes Grummeln riss sie aus ihren trüben Gedanken. Ihr Magen meldete sich zu Wort, protestierte ob der wenigen Beachtung, die sie ihm zuteil kommen ließ.

„Ihr… habt nicht zufällig auch an etwas Proviant gedacht?“
Natürlich hatte er das, war er doch nicht so kopflos aufgebrochen wie sie selbst. Ihre Frage entstand eher aus ihrer Unsicherheit. Auch das war etwas völlig Neues für sie: Wenn sie bisher zu zweit unterwegs gewesen war, so war sie immer in Begleitung von jemandem gewesen, den sie schon seit langer Zeit kannte und dem sie bedingungslos vertraute. Jetzt jedoch…
Nachdenklich sah sie Alyndur an. Was wusste sie schon von diesem Waldläufer? Nicht besonders viel, wenn man einmal davon absah, dass sie sich den Hass gegen die Ritter teilten. Hinzu kam noch, dass sie sich bisher immer zu gleichen Teilen an der Versorgung und der Sicherheit einer solchen Reisegemeinschaft beteiligt hatte. Nun aber lag sie hier unnütz herum, war kaum fähig, aufzustehen oder gar zu laufen. Sie hasste es, derart hilflos zu sein. Als sie ihre Hände fest zu Fäusten ballte, schmerzte ihre Linke so sehr, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste. Die Haut dort würde noch einige Zeit brauchen, bis sie sich von der schweren Verbrennung erholt hatte, doch die Brandnarben würden bleiben. Sie würden sie immer an diese Schmerzen erinnern, doch auch an ihren Sieg über die Ebenen und über sich selbst, und daran, warum sie noch hier war.
Deutlich fröhlicher als zuvor fügte sie noch hinzu:
„Ich denke es wird Zeit für das Abendessen.“
 

Anora

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~ Ira ~

Einige Tage zuvor...

Echil kehrte zurück. Die Krähen hatten ihn schon lange vor seiner Ankunft lauthals angekündigt und Ira war bereits zur Tür geeilt, um ihren Bruder zu begrüßen.
Schon kurze Zeit nachdem ihre Schwester Anora und deren ungewöhnliche Reisegefährten sie nach ihrem überraschenden Besuch hier wieder verlassen hatten, hatte auch Echil eine längere Reise angetreten.

„Ich möchte wissen, was hier wirklich vor sich geht. Du nicht auch?“, hatte er sie damals gefragt. Wie immer hatte er als Antwort nur ihr Schweigen erhalten. Er war jedoch daran gewöhnt und ignorierte es gekonnt. „Hier ist irgendetwas Großes im Gange, das kann ich fühlen, und unsere Schwester ist sich dessen wahrscheinlich nicht mal bewusst.“
Er wollte nach Elyndorr reisen, der Stadt, von wo aus Anora aufgebrochen war, um dort Nachforschungen anzustellen. Der ebenso ungewöhnliche wie geheimnisvolle Auftrag ihrer Schwester hatte ihn neugierig gemacht. Da er selbst lange Zeit in Elyndorr gelebt und als Meisterschüler ihres Vaters auch für die Ritter der Grünen Drachen gearbeitet hatte, hatte er noch recht gute Kontakte zu dem Hauptsitz dieses Ordens. Arthal, der jetzige Erzmagier des Ordens war nach ihm der Schüler Elmay’raths geworden und die beiden waren damals gute Freunde gewesen. Und so hatte Echil seine Sachen gepackt, hatte die beiden Gefährten, die Anora bei ihnen zurückgelassen hatte – Einen seltsamen Bären und eine Art Kobold, die beide bei der Durchquerung des Nebelmoores einer Schlafkrankheit zum Opfer gefallen waren – auf seinen Karren geladen um sie auf seinem Weg zu einem Heiler zu bringen und war so nach Elyndorr aufgebrochen.
Zwischen seinem Abschied bis zum jetzigen Tag war viel Zeit vergangen, Zeit, die Ira genutzt hatte um das Haus in Ordnung zu halten, in den vielen Büchern ihres Bruders zu lesen und ihre Fertigkeiten im Bogenschießen weiter zu verfeinern. Gerade zuletzt genanntes bereitete ihr viel Freude, war dies doch eine Tätigkeit, die ihre gesamte Konzentration erforderte, bei der sie an nichts anderes dachte und bei der es nur sie gab, sie, den Bogen, den Pfeil und das Ziel, mehr nicht. Sie ahnte jedoch bereits, dass diese Zeit nun vorbei war, da sie Echil in der Ferne auf sie zukommen sah. Ira hatte die außergewöhnliche Fähigkeit, die Gedanken und Absichten anderer zu durchschauen, ohne dass sie auch nur ein Wort sprachen. Sie konnte regelrecht in ihrem Gegenüber lesen wie in einem offenen Buch. Und die forsche Art, mit der Echil den alten Klepper, der den Karren zog, vorwärts trieb, erweckte in ihr nicht gerade den Eindruck, als würde ihr Bruder sich auf eine wohlverdiente Ruhepause in seinem Heim freuen. Und tatsächlich, kaum war er angekommen, da sprang er schon vom Kutschbock und kam auf sie zugeeilt.

„Ah, meine kleine Ira, wie schön es ist dich wieder zu sehen! So wie es scheint geht es dir bestens und du bist während meiner Abwesenheit gut alleine zu Recht gekommen. Gut, gut…“
Er machte sich sogleich daran, den Karren abzuladen – Viel hatte er eh nicht bei sich. Ira ging ihm zur Hand, indem sie den Klepper ausspannte.
„Ich war länger weg, als ich eigentlich vorhatte, doch es hat sich als recht schwierig erwiesen, an die Informationen zu gelangen, die ich benötigte. Arthal, dieser treulose Mistkerl, ist den meisten meiner Fragen ausgewichen. Wahrscheinlich hat er die Anweisung darüber nicht zu reden. Doch was er gesagt hat, das hat mir genügt, um mir aus anderen Quellen und mit Hilfe der Bibliothek einen Reim daraus zu machen.“
Plötzlich ließ er alles stehen und liegen, eilte mit großen Schritten auf sie zu und packte sie fest an den Schultern.
„Und ich hatte Recht mit meiner Vermutung! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für eine Sache ist, die hier ihren Lauf nimmt! Das Schicksal des gesamten Reiches, ja vielleicht sogar der gesamten Welt steht auf dem Spiel! Anora hat vermutlich keine Ahnung, in was sie da hineingeraten ist – Das, oder es interessiert sie einfach nicht. Unsere liebe Schwester denkt nur an das Heute und an sich selbst. Was um sie herum geschieht, ist ihr egal, solange sie selbst davon nicht betroffen ist. Mich jedoch interessiert auch das, was in der Zukunft liegt, denn ich erkenne, dass auch wir mit dem Schicksal des Reiches stehen und fallen. Und ich habe nicht vor, vorzeitig aus diesem Leben zu scheiden, oh nein!“
Echil lachte, ließ sie los und begann unruhig vor ihr auf und ab zu gehen.
„Aus diesem Grund habe ich beschlossen, nach Arxana zu reisen. In der Hauptstadt kann ich mehr herausfinden und vielleicht sogar etwas bewirken. Bei einer so großen und schicksalsträchtigen Sache wie dieser sollte ich dabei sein! Und glaube mir, das wird wahrhaft interessant!“
Er blieb nun wieder stehen, den Blick fest auf sie gerichtet.
„Aber da ich dich für eine so lange Zeit nicht alleine lassen kann, wirst du mich begleiten. Was meinst du dazu?“
Ihr Schweigen war die einzige Antwort, die er jemals von ihr bekommen sollte.
 

Alyndur

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Wahrlich. Das Wort ,Abendessen’ genügte, damit Alyndur seiner eigenen Entkräftung gewahr wurde. Für ein Feuer befanden sich nicht genügend Hölzer in der Gegend, doch angesichts des gewaltigen Infernos, zu dem sich Anoras letztes Lagerfeuer ausgeweitet hatte, war er darüber nicht allzu betrübt. Der Proviant, den er aus den Beständen der Nordleute entwendet hatte, bestand überwiegend aus Pökelfleisch und Brot und war daher ebenso gut kalt genießbar.
„Fragt besser nicht, wo das herkommt“, empfahl er Anora und reichte ihr eine Portion. Für die Wärme sorgten ein paar Schlucke Wein aus einem eigens damit gefüllten Schlauch. „Der ist aus Elyndorr“, erklärte er mit einem stolzen Lächeln. „Bedenkt aber, er muss noch mindestens bis zur Zuflucht des Magiers reichen!“
Etwas, das ihm seit Anoras erstem Erwachen aufgefallen war, drängte sich wieder in sein Bewusstsein: Die Elfe hatte sich verändert. Seit ihrer ersten Begegnung im Gasthaus jenes kleinen Weilers war ein großer Teil von ihr stets gereizt und unnahbar gewesen. Dieser Teil hatte nie geschlafen und sich auf der Reise bis in die Ebenen des Schweigens zuerst um Alyndurs Ablehnung, dann um seinen Spott und schließlich sogar um eine Art Feindseligkeit verdient gemacht.
Nun aber schien dieser Teil gänzlich entwichen und der Waldläufer erhaschte sich dabei, wie er seine Begleiterin unwillkürlich von einer anderen Seite aus und mit einer völlig neuen Neugier betrachtete.
„Euer kleiner Ausritt scheint Euch gut getan zu haben“, sprach er seine Gedanken unverhohlen aus, lächelte aber kurz darauf verlegen. „Ich meine, wenn man von Euren ebenso bemerkenswerten Verletzungen absieht“, setzte er rasch hinzu und heftete einen fragenden Blick auf sein Gegenüber.
 

Anora

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„Gut getan…?“ Anora lachte laut auf, bereute dies jedoch sofort wieder, als ihr Kopf sie mit weiteren Schmerzen bestrafte. Etwas vorsichtiger geworden rieb sie sich über die Schläfen, während sie weiter sprach: „Oh ja, eine schönere Erholungsreise kann man sich kaum vorstellen! Vielleicht solltet Ihr es auch einmal damit versuchen!“ Sie grinste Alyndur schelmisch an, dann nahm sie einen großen Bissen von dem Pökelfleisch, welches zu zerkauen ihr genügend Zeit gab über ihre nächsten Worte nachzudenken.
Möglicherweise hatte Alyndur bis zu einem gewissen Grad Recht – Auf eine spezielle Art hatte ihr kleiner Alleingang ihr tatsächlich gut getan. Sie fühlte sich ungewöhnlich ruhig, fast als hätte ihre zornige Seele endlich ihren Frieden mit ihr geschlossen. Das jedoch war nur die eine Seite der Medaille. Zugleich fühlte sie sich so lebenshungrig wie nie zuvor, verbunden mit einem unbestreitbaren Drang ihr Schicksal weiter herauszufordern. Eine explosive Mischung! Die Wut in ihr hatte nur eine andere Form angenommen…

„Nun, und was die Mitbringsel meiner kleinen Reise angeht…“, setzte sie schließlich zur Antwort auf Alyndurs unausgesprochene Frage nach den Geschehnissen an, als sie endlich das letzte Stück Pökelfleisch mit etwas Wein hinuntergespült hatte. Sie berichtete von ihrem ziellosen Ritt, von ihrem Sturz und der anschließenden ungeplanten Rast an dem toten Baum sowie von dem Angriff und ihrer Abwehr der Kreatur, die sie nie ganz zu Gesicht bekommen hatte. Wichtiger als das war jedoch, was sie nicht erzählte. Kein Wort verlor sie über die Gründe, weshalb sie die Gruppe verlassen hatte. Sie wollte nicht, dass irgendjemand über die Stimmen in ihrem Kopf erfuhr, würde man sie doch vermutlich für verrückt erklären. Und das vielleicht sogar zu Recht. Alyndur war klug genug um zu bemerken, dass sie ihm einen Großteil ihrer Geschichte verschwieg, doch sollte er noch einmal gezielter danach fragen würde ihr schon irgendeine Antwort darauf einfallen – Anora war erfinderisch, was das anging.
„Und überhaupt, wie viel Zeit ist eigentlich vergangen?“, schloss sie schließlich ihren Bericht. „Ich habe irgendwie die Orientierung verloren.“
 

Alyndur

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„Einige Tage... vielleicht eine Woche.“ Alyndur zuckte unsicher mit den Achseln. „Auch ich habe die Tage nicht gezählt. Es dürfte wohl ein weiterer vergangen sein, seit ich die Karawane verließ. Und was Euren Ratschlag angeht“, lenkte er zu dem vorherigen Thema zurück. „Ich hatte in der Tat schon einmal mit dem Gedanken geliebäugelt, mich diesen reizenden Gefilden eingehender zu widmen. Leider wurde mein Reittier dafür im falschen Moment von seiner Abenteuerlust im Stich gelassen“, klagte er mit einem gespielt vorwurfsvollen Ton und warf Calderion, der gerade zusammen mit Aerlynn die wenigen Grashalme aus der Erde zu zupfte, einen ebensolchen Blick zu. „Wie dem auch sei, glücklicherweise hat er dennoch eingewilligt, Euch zu suchen...“ Zu Eurem Glück wie zu dem meinen.
 

Alyndur

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~ Baldur ~

Adonor strafte die Reste der morschen Holzbrücke, die nun geradewegs in den reißenden Fluss führte, mit einem Blick unverhohlenen, beispiellosen Zornes. Wortlos riss er seinen Hengst herum und zwang ihn zu einem wütenden Galopp, dem die anderen zu folgen hatten.
Der Spätherbst hatte auch diesen Teil des Landes bereits fest im Griff. Das Laub war aus den Bäumen gewichen und tanzte schon mit eisigen Winden über die weiten Felder. In der Ferne machte Baldur die Gestalten einiger Bauern aus, die die Saat für den nächsten Frühling ausstreuten. Der nächste Frühling... nichts schien ferner in dieser kalten und dunklen Zeit. Selbst Fürst Adonor hatte sich keine Mühe gegeben, seine Sorge über das wahrscheinlich gewaltige Ausmaß des kommenden Winters zu verhehlen.
Baldurs Stute begann jäh zu lahmen, was ihn abrupt in die Gegenwart zurückriss. Ärgerlich gab er ihr einen heftigen Schlag mit den Zügeln, sodass sie schmerzvoll aufwieherte. Dass unter allen ausgerechnet er allein zurückfallen sollte, war das letzte, was er dieser Tage gebrauchen konnte. Er schlug erneut zu, doch weitere Gewalt erwies sich als nutzlos. Das Pferd war seit Tagen mit nur wenigen Pausen gelaufen und konnte seine Ausgezehrtheit nicht länger verhehlen. Kein Ansporn und kein Schmerz vermochten daran etwas zu ändern. Es ließ ihm keine Wahl.

„Mein Fürst“
Keine Antwort. Sir Adonor saß stumm im Sattel und trieb seinen Hengst unermüdlich voran. Nichts deutete darauf hin, dass er Baldur gehört hatte.
„Vergebt mir, mein Fürst“, rief er etwas lauter, da sein eigenes Reittier immer weiter zurückfiel.
„Aber meine Stute ist müde und...“
„Ihr auch Baldur?“, fragte Adonor trocken.
Xanthis hat Recht, fuhr es ihm wütend durch den Kopf. Zu seiner Rettung begannen jedoch auch die Pferde der anderen, dem Beispiel des seinen zu folgen.
„Euer Gnaden!“, kam ihm der grobschlächtige Sir Konrad zu Hilfe. „Es ist wahr, wir haben kaum einen Halt gemacht. Unsere Pferde sind am Rande der totalen Erschöpfung.“
Wahrlich. Sollte sich das Szenario der Zwergenjagd wiederholen, da ein Dutzend Reittiere nur am Starrsinn eines unfähigen Anführers zusammenbrach? Augenscheinlich, denn Adonor wollte nichts davon hören.

„Ich habe nicht vor, dem Orden nach dem Verlust des Zwergenartefaktes und der Demütigung in Kahlar'tha noch mehr Grund zu geben, mich zu belächeln, indem ich den Rat der Vier auf mich warten lasse. Über die nächste Brücke würden wir Nordend mit diesem Tempo bestenfalls am übernächsten Abend erreichen, einen Tag später, als ich es beabsichtigte.“
„Dort hinten, seht!“ Der junge Sir Wengart, der die anderen Ritter des Zuges für gewöhnlich noch an Hoffart übertraf, hatte ein Gehöft ausgemacht, das in der Ferne neben der Straße am Fluss ruhte. Dass ausgerechnet Wengart sich dazu herabließ, auf solch eine Entdeckung aufmerksam zu machen, sprach Bände.
„Ich bin stolz auf Euch, Wengart“, verkündete Adonor sofort. „Dank Euch wissen wir nun auch, wie ein Bauernhof aussieht. Mir schwant nichts Gutes bei dem Gedanken, was uns auf der letzten Reise alles entgangen sein muss, ohne Euch.“
Er schafft sich mehr Feinde als Freunde, ging es Baldur durch den Kopf. Selbst in den eigenen Reihen. Und mehr, als er sich leisten kann. Nicht, dass er selbst viel Sympathie für Wengart übrig gehabt hätte, doch der Pfad, den Adonor zu beschreiten pflegte, war eng und wankelmütig.
„Ich würde mich sogar bereit erklären, Euch über die Vorteile von dergleichen aufzuklären, mein edler Fürst“, stach der junge Ritter zurück. „Dort gibt es frische Pferde, die wir gegen unsere lahmen eintauschen könnten, Nahrung, um unsere eigenen Bestände zu schonen und ein Dach für ...“
„Tut Euch keinen Zwang an“, unterbrach ihn sein edler Fürst. „Wir werden uns auf dem Rückweg daran erinnern und Euch wieder von dort abholen, mein Wort darAAAAAAA...“
Unter einem ohrenbetäubenden Geschrei stürzten Ross und Reiter zu Boden. Sir Konrad, der hinter seinem Fürst geritten war, riss sein eigenes Tier so heftig zurück, dass es sich zu seiner ganzen Höhe aufbäumte, sonst wäre er in vollem Galopp in seinen Vordermann hineingeritten. Der Rest des Zuges tat es ihm bestmöglich gleich oder ließ seine Pferde seitwärts ausbrechen, um die Wucht ihres Ritts ausklingen zu lassen. Fluchend richtete sich der zähe Krieger langsam wieder auf. Sein linkes Bein war unter der Last des Hengstes gegen den Boden gequetscht worden und nur mit schmerzvoller Mühe hatte er es befreien können. Ansonsten schien er jedoch unbeschadet zu sein, im Gegensatz zu seinem Pferd, das mit einem Fuß in ein Schlagloch gestürzt war und sich das Bein gebrochen hatte. Baldur und einige andere der Ritter stiegen ab und baten sich an, ihren Herrn zu stützen, doch der lehnte mit einer trotzigen Geste ab. Stattdessen zog er sein Schwert und beendete die Pein seines Reittieres mit einem einzigen blutigen Hieb.
„Zum Gehöft“, bellte er geschlagen. Sir Konrad überließ Adonor sein Pferd und folgte dem Zug zu Fuß nach.
Der Hof bestand aus einem Haus und einer kleinen Scheune, hinter der sich ein Mühlrad am Fluss drehte. Ein paar Knechte, die dabei waren, Feuerholz zu hacken, hielten inne und gafften ihnen unsicher entgegen. Ein Schäferhund lief kläffend über den Hof, als er die Eindringlinge gewahrte. Die Ritter stiegen ab und bald darauf trat ein gedrungener Mann mit einem grauen Ziegenbart und einem Kranz weißer Haare über den Ohren aus dem Haus.

„Ihr?“ Er klang fassungslos, ungläubig.
„Sind wir uns schon einmal begegnet?“, erwiderte Adonor. Es lag ein seltsamer Tadel in seiner Stimme.
Leicht, aber merkbar zuckte der andere zusammen.
„Ich weiß nicht, Herr“, stammelte er. „Euer Gesicht kommt mir bekannt vor, aber es könnte an der starken Ähnlichkeit in Eurer Familie liegen.“
„Das ist gut möglich“, stimmte Adonor deutlich gelassener zu. „Mag sein, dass mein Bruder einst auf einer Reise bei Euch rastete.“
„In jedem Fall ist es mir eine unschätzbare Ehre, die Streiter des Herrn San’Guis auf meinem bescheidenen Hof willkommen heißen zu dürfen“, setzte der Alte rasch hinzu. „Igmor Berenson ist mein Name und Ihr werdet an mir einen frommen Gastgeber finden. Darf ich annehmen, dass Ihr Euch auf dem Weg nach Nordend befindet?“
„Das dürft Ihr, ehrfürchtiger Diener des Herrn. Wir verloren ein Pferd an die Straße und brauchen dringend ein neues, ehe der Morgen graut.“
Hinter Igmor im Haus hatte Baldur eine Frau mit schwarzem Haar entdeckt, das in der nördlichen Bauerntracht zu drei gleichen Zöpfen geflochten war. So viel wusste er noch aus seiner Zeit vor seinem Knappensein. Dem Alter nach mochte es sich bei ihr wohl um eine Tochter ihres Gastgebers handeln.
Die Jugend war schon zu einem Teil aus ihren einladenden gleichmäßigen Zügen gewichen, doch das ließ sie selbst in Baldurs Augen lediglich reifer und selbstbewusster erscheinen.
„Meine eigenen Pferde sind nur lahme Ackergäule, doch der Hof des Bauers Orlas liegt nicht fern. Orlas züchtet die besten Tiere der Gegend. Ich werde einen Knecht zu ihm schicken, das edelste zu besorgen.“
Für einen Augenblick fühlte er sich unwillkürlich an Suyne erinnert, wie sie vielleicht in einigen Jahren und mit langem Haar aussehen mochte. Mit leisen Schritten näherte sie sich der Tür in einer zaghaften und doch geschmeidigen Weise, den Blick forschend und anmutig erhoben.
Adonor hatte ihr Erscheinen ebenfalls bemerkt. Auch Igmor musste das aufgefallen sein. Er drehte sich auf der Stelle um und vollführte eine energische Geste zum Gang hinter der Tür hin und die Frau verschwand.
„Das Haus ist eng und zugeräumt“, erklärte er prompt. „Aber in der Scheune ist genug Platz und dort ist es ebenso warm und derzeit wohl noch komfortabler. Ich werde den Knechten anordnen, auf dem Hof zu nächtigen.“
Unterdessen war die Dämmerung eingetreten und mit ihr der Frost. Während sich die anderen Ritter schon in der Scheune einrichteten, brachte Baldur seiner Stute einen Krog Hafer und Wasser. Ihm tat es leid, dass er sie am Tag so geschunden hatte und er wollte sich entschuldigen. Vielleicht war es auch das Gefühl von Einsamkeit und Niedergeschlagenheit, das ihn dazu trieb. Wie im Einverständnis ließ sie es zu, dass er sie beim Fressen sanft am Kopf und über die Mähne streichelte.

„Baldur.“ Ein Stück abseits von ihm saß Fürst Adonor allein auf dem Boden. Er hatte sein Schwert gezogen und schlug in kurzen schrägen Zügen mit einem Stein daran, um ein Lagerfeuer zu entzünden. Das verwundete Bein hatte er leicht angewinkelt zur Seite abgespreizt. „Wenn Ihr damit fertig seid, Eure Prinzessin dort zu liebkosen, dann setzt Euch zu mir und leistet mir ein bisschen Gesellschaft.“
Verblüfft ließ Baldur seine Stute mit ihrem Futter allein und näherte sich Adonor mit verlegenen Schritten.
„Die anderen sind alle samt in der Scheune, mein Fürst. Falls Ihr Ihre Gesellschaft doch der meinen vorzieht...“
„Dann säße ich bereits dort in der Wärme, von Narren und Spießern umgeben, statt hier draußen in der Umarmung der kalten Nacht und der Wahrheit, die ihr innewohnt. Euch steht natürlich die gleiche Wahl offen.“
Baldur verstand zwar nicht das Geringste von Adonors Worten, doch in ihnen lag eine neue Ruhe, die einen krassen Gegensatz zu seiner Haltung während des Ritts bildete. Auch ihm lag in der Tat nicht viel an der Gesellschaft Wengarts und der anderen, also setzte er sich Adonor gegenüber an das werdende Feuer. Anstatt das Schwert wieder in die Scheide zu stecken, legte es dieser nun mit der Klinge ins Feuer wie ein Kind einen Stock zum Kokeln und beobachtete, wie die Flammen um den edlen Stahl tanzten.
„Ich wurde für ein anderes Leben geschaffen.“ Die Worte waren nicht mehr als ein leises Murmeln.
„Mein Fürst?“
„Ich bin nicht Wotredh. Auch, wenn die Alten stets zu sagen pflegten, Amar und ich seien perfekte Abbilder unseres edlen, wohlgestalteten Oheims von einst. Wir sähen ihm sogar noch ähnlicher als unserem Vater, so sagten sie. Unser Gastgeber hier war kein Narr zu sagen, dass die Ähnlichkeit in meiner Familie äußerst stark sei. Wo das Blut der Adonor fließt, da tritt es auch in Erscheinung. Mag sein, dass es sich bei Amar um eine Reinkarnation Wotredhs handelte, aber gewiss nicht bei mir.“ Er schüttelte ablehnend den Kopf, um das Gesagte zu bekräftigen. „Nicht bei mir.“
Baldur nickte... Verständnis heuchelnd, abwartend.

„Wotredh war unumstritten, versteht Ihr? Charismatisch, charmant, gewitzt, diplomatisch, fromm, schon in seiner Jugend als Heerführer geliebt und anerkannt, als Feldherr siegreich, von seinen Feinden gefürchtet und respektiert, tödlich im Umgang mit Geist und Schwert... die Perfektion in Fleisch und Blut, versteht Ihr? Hätte er seinen Vater überlebt, so wäre er zweifelsohne einer der größten Regenten geworden, von denen die Geschichte Sin’Arcus’ zu erzählen wüsste... wenn nicht gar der größte.“
Wieder nickte Baldur. Auch er hatte schon Sagen und Berichte über den einstigen Herrn von Graufels vernommen.

„Und, wenn er weitergelebt hätte, so wäre es seine Linie, die heute über Graufels herrschte, nicht die seines Bruder, meines Vaters.“ Leise und verbittert setzte er hinzu: „Und ich wäre frei gewesen. Frei von dieser Würde, die ich zum Stolze meiner Familie und zu Ehren meines Gottes trage - und zum Hass meiner selbst.“
„Seine Linie?“, lenkte Baldur zurück. „Die Erzählungen, die mich erreichten, besagen, er hätte lebenslange Keuschheit gelobt und nie eine Frau genommen.“
„Wer kann das schon noch mit Bestimmtheit sagen?“, grübelte Adonor vor sich hin. „Acht Dekaden sind seit seinem Tod vergangen, seit jenem Gelöbnis vielleicht schon ein Jahrhundert! Heute ist Wotredh, wie Ihr richtig bemerkt habt, bereits eine sagenumwobene Gestalt in der Geschichte unseres Ordens. Nur wenige von denen, die ihn eigens zu Gesicht bekamen, sind noch am Leben und ein Bruchteil derer ist noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte - vom Erinnerungsvermögen ganz zu schweigen. Dass er sich nie vermählte, steht fest, aber vielleicht hätte er es noch getan. Es ist gut möglich, dass ihm jenes angebliche Keuschheitsgelöbnis nachträglich zugeschrieben wurde, um seine Makellosigkeit herauszuheben, die für ihn als Heldengestalt der Roten Drachen unabdingbar ist.“ Und mit einem schelmischen Lächeln: „Wie vielleicht auch noch das ein oder andere bisschen mehr. Das Schicksal bestimmt die Geschichte, doch die Menschen sind es, die sie für die Nachwelt festhalten - und sie halten sie so fest, wie es ihnen gefällt. Als derjenige aber, der unsere Blutlinie zu Grabe tragen wird, ist mir die Wahrheit über ihn ein größeres Anliegen als maßlose Heldenverehrung. Außer Zweifel steht jedoch, dass er sich um seinen Nachruhm verdient gemacht hat.“
„Wisst Ihr, woher Wotredh seine Stärke nahm?“, hörte sich Baldur unvermittelt fragen.
Adonor starrte ein wenig unsicher vor sich hin, ehe er antwortete.
„Auch darüber gibt es indes verschiedene... Ansichten. Xanthis will meinen Oheim gekannt haben. Er gehört zu denjenigen, die behaupten, er sei nicht mit seiner Größe geboren worden. Wotredh sei zunächst zu einem zwar nicht untalentierten, doch aber schüchternen und unscheinbaren Jüngling herangewachsen, wohl ob der unerbittlichen Strenge seines Vaters. Eines Tages soll er sich aufs Tiefste verliebt haben, doch die Empfängerin seiner Liebe wies ihn ob seiner Schwäche ab, die ihn in ihren Augen als Mann unvollkommen ließ. Von jenem Moment an hatte sein eigentliches Leben begonnen, so heißt es. Aus tiefstem Trotz wider die Verschmähung seiner Liebe, der sich nunmehr mit dem Trotz wider die väterliche Faust vereinigte, soll seine Stärke erwachsen sein, die ihn fortan unverwundbar machte. Mit großem Erfolg habe er sich in die ihm zugedachte Rolle im Orden der Roten Drachen bei der Nachfolge seines Vaters gefügt, woraufhin ihm auch dieser nun tiefe Wertschätzung entgegenbrachte und ihn auf seinem weiteren Weg bestärkte.“ Der Neffe Wotredhs nahm sein Schwert aus den Flammen und studierte die nunmehr rötlich glühende Klinge in der Nacht. „Mag sein, dass Wotredh einen strengen Vater hatte, ich aber hatte gar keinen, geschweige denn eine Mutter. Nur diesen alten Narren Xanthis, um mir meine Welt mit seinen blinden Augen zeigen zu lassen. Ihn hatte ich... und Amar. Und Amar hatte mich. Wir waren alles, was wir je haben sollten.“ Er schien einen Moment zu zögern und blickte verstohlen um sich, als gäbe es noch etwas hinzusetzen, entschied sich dann aber anders. „Nichtsdestotrotz war er stets der heiterere und ausgelassenere von uns beiden. Noch heute grolle ich ihm dafür, dass er mir den Vortritt aus dem Bauch unserer Mutter gelassen hat. Er wäre ein geeigneterer Herr von Graufels gewesen und vielleicht wäre diese Zusammenkunft des Rates der Vier, die in wenigen Tagen in Nordend stattfinden wird, seine große Stunde gewesen. Ich hätte es sein sollen, der in Kahlar'tha den Pfeil fing. Doch Amar hatte vehement auf diesem Täuschungsmanöver bestanden, dass er auf dem Pferd des Anführers durch die Straßen zog, während ich seinen Platz unter den Fußsoldaten einnahm. ,Um den wahren Erben zu schützen’, hatte er gesagt. Nun, der wahre Erbe verlor kurz darauf bei einem Attentat das Leben.“
Nie hatte Baldur so etwas wie Mitgefühl für Fürst Adonor empfunden. Nur den Respekt, den er gegenüber jedem Vorgesetzten empfand; Groll, wenn er vergebens mit Verdiensten um Anerkennung geworben hatte, und Furcht vor dem Zorn und der Unberechenbarkeit des Fürsten. Auch jetzt schien er nicht um sein Mitgefühl zu werben. Es war die Wahrheit über sein Leben, die er ihm mit solch einer kalten Gelassenheit offenbarte, als gehe es um das Wetter. Sie war es, die ihn dazu zwang, den unnahbaren und verhassten Herrn von Graufels zum ersten Mal von einer menschlichen Seite aus zu betrachten. Baldur tat es und spürte, wie ihm leichte Tränen in die Augen liefen. Nicht nur wegen dem allein, was er gehört hatte, sondern wegen dem, was es aus dem machte, was er geschworen hatte zu tun... was er tun musste.
Adonors Blick haftete weiterhin an seiner Klinge. Er stieß die heiße Spitze in die gefrierende Erde zu seiner Seite, bis sie leicht zu rauchen begann, zog sie heraus und stach wiederum hinein.

„Oft hatte ich das Gefühl, als wären es nur Amars Scharfsinn und seine Diplomatie, die mich vor feindseligen Übergriffen aus meinen eigenen Reihen schützten. Er hatte ein perfektes Gespür für Intrigen.“ Plötzlich fanden seine Augen Baldurs Augen, so jäh, dass es Baldur schauderte und die Flammen zwischen ihnen zu ersticken schienen. Adonor verzog seinen Mund zu einem leichten höhnischen Lächeln. „Glaubt nicht, ich ahnte nichts von den Intrigen, die vermutlich hier und jetzt gegen mich gesponnen werden; von Anschlägen, die man schon bald auf mich verüben wird. Das ist noch ein Unterschied zwischen mir und Wotredh: Er lebte umgeben von Freunden und Anerkennung. Ich hingegen atme die Luft einer Welt, die nur Feindschaft und Hass für mich übrig hat. So war es immer schon und so wird es immer sein, auch, nachdem ich aus ihr geschieden sein werde. Sie hasst mich wegen dem, was ich tue, wegen dem was ich bin... oder vielleicht sogar vielmehr wegen dem, was ich nicht tue und was ich nicht bin.“ Das Lächeln weitete sich zu einem furchtbaren Grinsen. „Ich versuche nicht einmal, Wotredh zu sein, und bin gewiss kein würdiger Anwärter auf den Rang des Hochmeisters unseres Ordens, noch bin ich ein geeigneter Herrscher von Graufels.“ Blinde Angst. Sie war stärker als jeder Groll, den Baldur jemals gegen seinen Herrn oder irgendetwas anderes gehegt hatte und verdrängte jedes andere Gefühl aus seinem Bewusstsein. Konnte er es tatsächlich wissen? Hatte er seine Lauscher an Xanthis’ Kammer gehabt? Hatte der Seher sie nicht einmal mit seinem Dritten Auge, dem, das noch lebte, gewahrt? Und, wenn er es nun tatsächlich wusste?
„Ist es das, was mich in Euren Augen verachtenswert macht, Baldur?“ Baldur konnte sich nicht mehr helfen - ihm brach heftiger Schweiß aus und er begann zu zittern.
Adonor zeigte sich davon gänzlich unbeeindruckt und musterte seinen Untergebenen nun vollends mit jener kalten Gelassenheit, auf die er sich so gut verstand. Zwei eisgraue Augen hielten ihn fest. Jene, die auch Wotredh gehört haben mussten.
„Ist es das, was mich in Euren Augen hassenswert... gar tötenswert macht?“
„Nein!“ Baldur stieß es so entschlossen aus, wie es der Wahrheit entsprach. Das Zittern war vorbei.
Adonor ließ seinen Blick frei.
„Nun, ich würde es Euch in keiner Weise verdenken, wenn es so wäre. Ihr habt Großes geleistet - auf der Suche nach dem Zwerg wie bei der Flucht aus Kahlar'tha. Dass jenes Unterfangen nicht erfolgreich war, ist nicht Eure Schuld, wohl aber ist Euch zu verdanken, dass wir noch am Leben sind. Wann habe ich Euch jemals auch nur ansatzweise dafür gedankt? Nein, schweigt lieber, nur in der Wahrheit liegt Ehre. Nie habe ich, geschweige denn hat irgendwer, Euch die Anerkennung oder gar den Lohn zukommen lassen, die Ihr verdient. Und bin ich auch jetzt nicht im Stande, sie aufzubringen, so sage Euch aber - nein, so befehle ich Euch bei der mir verliehenen Würde, die mir so verhasst ist wie nichts anderes: Opfert Euer Leben für die Sache unseres Ordens und für die Ehre unseres Gottes - wenn nötig, auch Eure Seele. Eines aber tut niemals wieder: Niemals wieder stellt Euren eigenen Wert in Frage. Weder als Streiter San’Guis’, noch als der Mann, der Ihr seid. Das ist der Befehl, den ich Euch hiermit bis in den Tod und darüber hinaus erteile.“
Baldur wollte etwas erwidern, doch das kam ihm töricht vor.
„Befehl empfangen. Ich danke Euch“, sagte er stattdessen einfach. „Mein Für...“
„Arnur“, unterbrach ihn der andere und streckte ihm die Linke hin.
„Ich danke Euch, Arnur.“ Ihre Hände fanden sich über dem Feuer.
 
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