Kingdoms - About Honor and Traitors

Anora

Wanderer
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„Und so einer will ein Waldläufer sein!“, murmelte sie gerade so laut, dass Alyndur es vermutlich noch hören konnte. Ihr Tonfall war jedoch freundlich und sie zwinkerte, während sie dies sagte. „Vielleicht solltet Ihr Euch nach einem mutigeren Pferd umsehen!“, fuhr sie laut fort. Dann, ernster: „Oder eher nach einem dümmeren. Euer Hengst hat Euch wahrscheinlich das Leben gerettet.“ Und Alyndur das Ihre. „Diese Ebenen sind von Grund auf verdorben. Könnt Ihr das nicht auch spüren? Sie dringen unbemerkt in den Geist ein, manipulieren ihn, versklaven ihn… Zerschlagen ihn!“ Fast wäre ihr ‚Treiben ihn in den Wahnsinn!’ herausgerutscht, doch sie hatte ihre Gedanken schnell genug korrigieren können, bevor sie diese aussprach. „Die Nordleute mussten diese bittere Erfahrung an einem der Ihren machen, und Frejas Leben war der Preis, den sie dafür zahlten.“ Und zum Teil auch der Preis, den sie nun zahlen musste. „Und was dennoch hier lebt, kann nicht viel besser sein!“
Gedankenverloren zerkaute sie das letzte Stück ihres Brotkantens. Sie sollte besser vorsichtig sein, dass sie nach der langen, entbehrungsreichen Zeit nicht zu viel auf einmal aß. Und auch die wenigen Schlucke Wein, die sie bisher genommen hatte, benebelten ihr schon auf eine angenehme Weise die Sinne.
Als sie fertig war, raffte sie sich leise seufzend ein wenig auf, nahm einen alten Stofffetzen zur Hand, tränkte diesen mit Wasser aus einer Feldflasche, wobei sie möglichst sparsam vorging, und wickelte ihn sich als kühlenden Verband um ihre verbrannte Hand – Eine Maßnahme, die schon viel früher hätte getroffen werden müssen, um wirklich effektiv zu sein, doch sie hoffte dadurch die Schmerzen dennoch etwas zu lindern und die Heilung zu beschleunigen. Gerne hätte sie sich auch gewaschen, um die Reste des getrockneten Blutes loszuwerden – Sie wusste nicht, ob sie sich das nur einbildete, aber sie glaubte den fauligen Gestank der Lebenssäfte der Kreatur noch immer an ihr riechen zu können… – aber sie mussten sorgsam mit ihren Wasservorräten umgehen, denn sie wussten nicht, wann sie diese das nächste Mal würden auffrischen können. Folglich musste sie sich diesbezüglich gedulden.
Eine Weile herrschte Schweigen in dem kleinen Lager. Nur zu gerne hätte Anora die eine Frage gestellt, die ihr schon die ganze Zeit über keine Ruhe lassen wollte, doch die aktuelle Stimmung schien ihr dafür nicht geeignet. Noch nicht. Die Stille begann, erdrückend zu werden, wie sie es manchmal tat, wenn etwas Unausgesprochenes zwischen den Anwesenden lag, und schließlich war es doch sie, die sie mit einer etwas weniger verfänglichen Frage brach, während sie den letzten Knoten in ihren behelfsmäßigen Verband machte:
„Ihr habt mir noch nicht verraten, wie Ihr an diesen Wein aus Elyndorr gelangt seid. Oder wart Ihr etwa dort und habt ihn die ganze Zeit bis hierher mit Euch herumgetragen?“
 

Alyndur

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„Ihr solltet mir für meine Berufung als Waldläufer ein wenig mehr Hochachtung entgegenbringen, werte Anora!“, verkündete Alyndur, dessen Geist indes auch ein wenig vom Wein gelockert war.
„Diesen Tropfen habe ich selbst vor einiger Zeit in Elyndorr erstanden und ohne mein Wissen über wertvolle Pflanzen, die der Wald hervorbringt, wäre mir das kaum möglich gewesen und Ihr hättet Euch nun mit reinem Wasser begnügen vergnügen dürfen.“ Nun war es nicht mehr der Hengst, sondern die Elfe, die einen gespielt vorwurfsvollen Blick erhielt. „Es gibt dort einen gar hervorragenden Händler, ein Halbelf namens Emyon Than, falls er Euch ein Begriff ist. Seine erlesene Ware ist indes so gefragt, dass er sie in einem der mittleren Stadtviertel verkaufen kann, doch nicht mehr allzu lange, wie ich fürchte. Er verfügt über eine sehr resolute Vorstellung von dem, was ein gerechter Preis sei, und wie Ihr sicher wisst, halten es die Ritter San’Guis’ äußerst streng mit ihren Bestimmungen.“ Diesmal schickte sich Alyndur an, ein schelmisches, wenn nicht gar wissendes Lächeln aufzusetzen. Vielleicht hatte ihn der Wein unvorsichtiger gemacht, doch er war gespannt, was Anora daraus machen würde. Sein Lächeln wurde breiter und gewann seinerseits etwas Herausforderndes, als er hinzusetzte: „Macht Euch aber keine Sorgen über den Zustand des Weines. Es war nicht lange, dass ich ihn besorgte, bevor ich in jenem Weiler zu Euch stieß.“
Plötzlich, vielleicht im letzten Moment noch, glaubte er, Anoras Blick zu erhaschen, wie er auf den kurzen Haaren ruhte, die der Schnitt des Waidmessers seines Vaters übrig gelassen hatte. Er überlegte, etwas Neckisches darauf zu erwidern, aber vielleicht war es doch nur Einbildung gewesen. Deshalb schwieg er zunächst lieber davon.
 

Anora

Wanderer
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Schlagartig erlosch das Lächeln auf den Zügen der Elfe. Vergessen waren all die fröhlichen, neckischen Worte, die sie noch kurz zuvor ausgetauscht hatten und die ihr auch gerade wieder auf der Zunge gelegen hatten. Ihre Stimme klang ernst, als sie fragte:
„Ihr wart in Elyndorr, kurz bevor Ihr zu uns gestoßen seid?“
Aber das musste bedeuten, dass er etwa zu dem Zeitpunkt, als die Gilde zerstört wurde und ihre erbitterte Mission gerade ihren Anfang nahm, in der Stadt der Grünen Drachen gewesen sein musste. Auf jeden Fall nicht viel früher oder später…
„Was wolltet Ihr dort?“, fragte sie schneidend. Ihre Augen fixierten Alyndur mit einem durchbohrenden Blick.
„Ihr habt nie etwas davon erzählt!“
Eine vertraute, misstrauische Stimme in ihrem Kopf schlug Alarm. Konnte das tatsächlich nur Zufall sein? Oder steckte mehr dahinter?
 

Morgan

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Maron hatte keine andere Wahl - wenn er Bisu und die anderen Gefärten sicher durch die Ebenen bringen wollte, mussten sie bei der Karawane bleiben. Einzig die Hoffnung, dass der schrullige Ghomer auf seiner sechsbeinigen, grünen Reitspinne dort draussen war und Anora folgte beruhigte ihn etwas. Was würde sie nun denken, würde Alyndur sie überhaupt finden?
Beide Gruppen hielten sich voneinander getrennt, wärend Maron und Bisu sich mit dem Zwergen das Lager teilten.

Das Vetrauen des Tyrhimianers wurde nicht enttäuscht. Seit Tagen streunte der kleine Reiter durch die Ebenen, die ihm kaum etwas auszumachen schienen. Hatte ein Gnumpp doch eine eher seichte Gefühlswelt, so konnte auch dieses karge, kranke Land ihm nichts anhaben. Das große Feuer sah Ghomer schon aus mehreren Meilen Entfernung und gerne wäre er direkt dort hingeritten um flüchtende Insektenlarven zu fangen, doch sah er auch gegen den schein des Flammenmeers eine dunkle Schattengestalt reiten. So hielt sich der kleine Kerl auf dem größtmöglichen Abstand zu Anora und dem Mensch. Es war ja auch nicht schwer ihrer Spur zu folgen. Zwar sah man kaum Hufspuren, doch die Rastplätze der Beiden wiesen immer genug Merkmale auf um sie nicht zu übersehen. Und nochetwas war hier in der Ebene parktisch: Pfärdeäpfel zierten den Weg in regelmäßigen Abständen, so dass sie die Steinspinne, auf der Ghomer ritt, auf mehrere hundert Fuß Entfernung riechen konnte... Mögen die Beiden auch Waldläufer und Schleicher sein, gegen einen Gnumpp, der im Wald und in der Steppe aufgewachsen war, waren die Beiden ware Mamuts. Versonnen kaute er, im Schneidersitz auf der Spinne hockend, auf einem alten Stück einer gerockneten Baumharzperle herum...vermochte er auch niemanden zu beeindrucken oder etwas auszurichten, so konnte er den Beiden zumindest bis zur Vereinigung mit der Restgruppe folgen.
 

Alyndur

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„Nun, warum habt Ihr mich nie einfach danach gefragt, wo ich mich aufgehalten hatte, bevor sich unsere Wege kreuzten? Wir sind schon seit einiger Zeit miteinander gereist und Ihr hättet reichlich Gelgenheit zu dieser naheliegenden Frage gehabt.“
Alyndurs neckisches Lächeln war derweil zu einem unglücklichen Schmunzeln geschrumpft, als bedaure er die Umstände, die ihn vor den Augen der Elfe als Geheimniskrämer darstellt hatten, jedoch ohne sich selbst dafür verantwortlich zu fühlen. Tatsächlich hätte die Elfe mit Sicherheit für das ein oder andere an seinem Aufenthalt in Elyndorr Interesse gezeigt, doch die Phrase verschaffte ihm etwas Zeit, um seine eigentlichen Worte mit Bedacht zu wählen.

„Erinnert Ihr Euch an die Worte, die wir wechselten, als ich darum bat, in Eurer Gruppe reisen zu dürfen? Ihr warntet mich, ich sollte mir kein Gold davon erhoffen. Ich versicherte Euch, das sei nicht der Fall.“
In der maßlosen Unbedachtheit jenes Augenblickes hatte er versucht, Anoras Argwohn zu besänftigen. Hätte er sich der Gruppenführerin als bloßer Söldner gezeigt, so hätte sie ihn abgewiesen. Mit jenen Worten aber hätte er ein noch viel größeres Misstrauen auf sich ziehen müssen... und Fragen, Fragen, die ihn gezwungen hätten, alles zu offenbaren, wenn er weiterhin darauf beharrt hätte, sich der Gruppe anzuschließen. Nun gut, er hatte sich rasch bemüht, den Verdacht durch die Andeutung zu zerstreuen, es sei die Abenteuerlust, die ihn treibe, doch er selbst hatte nicht ernsthaft erwartet, dass sich irgendjemand damit zufrieden geben würde. Durch Marons schicksalhaftes Eingreifen ward Anora die Gelegenheit genommen worden, den Waldläufer zu verhören, doch auch danach noch hatte er stets mit Sorge erwartet, dass sich jemand dazu berufen fühlen könnte, das aufzudecken, was bei seiner Aufnahme im Dunkeln geblieben war. Niemand aber hatte es je getan.

„Damit hattet Ihr eine faire Chance, meinen tieferen Absichten auf die Spur zu kommen“, erklärte er, nunmehr ein wenig höhnisch. „So Euch nicht die Überzeugung blendete, es wäre nichts anderes als Euer Charme, der mich mit dem bedingungslosen Wunsch erfüllte, mit Euch zu reisen.“ Wie von selbst kehrte das schelmische Grinsen auf sein Gesicht zurück. „Zugegeben, das wäre vielleicht nicht die abwegigste aller Möglichkeiten gewesen, doch dafür ohne Weiteres mein Leben auf einer völlig ungewissen Reise zu riskieren?“ Der Waldläufer zuckte entschuldigend mit den Achseln. „Ich habe Euch nie belogen, Anora. Ihr habt lediglich Wissen verschmäht, an das Ihr allzu leicht hättet gelangen können. Alles, was Ihr mir vorwerfen könnt, ist, dass ich es Euch nicht nachgetragen habe - aus Unsicherheit darüber, wie Ihr und Eure damaligen Gefährten es aufnehmen würdet. Zu Eurer Frage: Es war nichts besonderes, das mich nach Elyndorr verschlug. Ich besuchte oft einige Dörfer und Städte des Landes, um meinen Proviant und meine Ausrüstung mit Dingen aufzustocken, die mir die Wildnis nicht bieten kann. Dennoch verließ ich die Stadt der Grünen Drachen bald wieder und begab mich nach norden, wo wir uns denn schließlich begegnen sollten.“
Es folgte eine Weile stillen Schweigens und scharfer Blicke.
„Könnt Ihr nun erraten, warum es mir ein Anliegen war, mit Euch zu reisen?“
 
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Nebressyl

Knuddeliger Incubus
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Die Tage vergingen und düstere Gedanken beschäftigten den Hünen. In dieser Zeit redete er nur das Nötigste mit Rhaynin. Sie begleiteten still und auf gesunder Distanz die Karawane.
Ihm war das Gespräch nach dem Mord zwischen Alyndur und dem Seher nicht entgangen. War er sich des Inhalts zwar nicht sicher doch konnte er es sich denken. Es ging mit Gewissheit um die Rolle Anoras in diesem blutigen Zwischenfall. Auch versuchte er immer noch die Präsenz des Gefallenen einzuordnen, die er nur zu deutlich gespürt hatte. Danach hatte er den Waldläufer im Augenwinkel behalten und musste ihm einfach eine gewisse Geschicklichkeit zusprechen. Nahezu unbemerkt hatte er es geschafft Vorräte zu horten und recht unbemerkt von den Nordleuten aufzubrechen. Nun war es ihm recht klar, was sein Vorhaben war. Auch Rhaynin war es nicht entgangen.

"Wohin reitet er? In diesen Ebenen herrscht doch nur der Tod?"
"Und der Wahnsinn" entgegnete er ihr "aber er muss das tun! Er sucht Anora - und ich hoffe bei Eledhwen er hilft ihr! Seine Hilfe würde sie eher zulassen als die meine."

Seitdem reisten sie mit gedrückter Stimmung mit den verbliebenen Gefährten im Schatten der Karawane der Nordleute. Gesprochen wurde nicht viel untereinander. Keiner fühlte sich wohl aufgrund der vergangenen Geschehnisse. Der Elbenhüne rätselte immer noch über die altbekannte Präsenz und woher sie ihm so bekannt vorkam. Alle aussergewöhnlichen Begegnungen lies er wider Willen vor seinem inneren Auge abspielen - bis es klick machte. 'Das hätte ich mir ja gleich denken können' dachte er bei sich. Diese Aura und das Auftreten passte nur zu gut zu dem Wahnsinn, der sich eines jeden Geistes bemächtigen möchte. Ganz zu schweigen die Aura und das gespenstische und widernatürliche Wesen der Ebenen an sich...nun wunderte ihn nichts mehr.
Diese Entdeckung wollte er nicht für sich behalten. Ohne zu zögern lenkte er seinen Hengst neber Rhaynins versetzt gehende Stute. Sein Blick traf ihre besorgten Augen. Das was er ihr zu sagen hatte würde ihre Stimmung garantiert nicht aufhellen - aber er musste sie einweisen. Alleine weil er den erneut zwischen ihnen wachsenden graben der distanz spürte an dem er sicherlich nicht unbeteiligt war. Ohne Umschweife fing er an ihr mit gedämpfter Stimme alles zu erzählen - von der Nacht des Geschehens, von der Präsenz und ihrer vermutlichen Herkunft und allem weiteren. Bis hin zu der Gefahr, in der sie alle schweben konnten, wenn sie dieser Präsenz unwissentlich den Geist öffneten. Wie er vermutet hatte hellte es ihre Mine nicht gerade auf. Aber ein zögerndes Lächeln auf ihren Lippen lies ihm erkennen, dass sie ihm für die Mitteilung seiner Gedanken dankbar war. Vorerst beschlossen beide diese Informationen für sich zu behalten und ritten wieder schweigend nebeneinander weiter bis zum nächsten Lager.
 

Darghand

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~ Harmund ~

Der nächste Morgen begrüßte Harmund mit stechenden Kopfschmerzen. Zuviel süßer Met und die stickige Luft der beengten Hütte rächten sich nun an einem, der es seit Jahr und Tag gewohnt war, im Freien zu nächtigen. Keuchend erhob er sich von dem hölzernen Podest, auf dem Umbar und Skattjy noch schnarchten, und riss die Tür auf. Die hereinströmende frische Luft wirkte so belebend wie ein Bad in einem Gebirgsbach – doch die Kopfschmerzen blieben. Als Harmund den Kopf hinausschob, stellte er fest, dass es nicht mehr regnete. Der Boden war so aufgeweicht wie eh und je, und der Bach schien über Nacht noch mehr angeschwollen zu sein. Die braunen Wassermassen schwappten, gurgelten und rauschten im flachen Bachbett. Zweige und Blätter trieben vorüber.
'Ein Wunder, dass die Hütte im Frühjahr nicht fortgeschwemmt wird.' dachte er bei sich, und hörte, wie sich etwas in der Hütte regte.
„Verdammich noch eins!“ Es war Rugnars Stimme. „Die Tür zu, du Hundsfott! Die Kälte zieht rein!“
Harmund reagierte nicht. Die Hütte roch noch immer, als hätte man große Mengen Kohl in einem feuchten Stall voll altem Stroh verbrannt. Etwas Frischluft war mehr als nötig. Er griff nach dem inzwischen getrockneten Bärenfell, zwängte sich in die frisch eingewachsten Stiefel und trat hinaus in den nassen Wald. Die Tür ließ er offen. Der Köhler grunzte etwas Unverständliches und verkroch sich tiefer in seinen Schichten aus fleckigen Wolldecken und löchrigen Fellen.

Da er nicht wusste, wohin er überhaupt wollte, lief Harmund auf die Rodung hinaus. Sie war viel größer, als er am Abend davor in der Dämmerung hatte erahnen können. Gelbliches, vertrocknetes Gras und eine Vielzahl an verwelktem Blattwerk bedeckte die Lichtung. Hier und dort reckten junge Bäume ihre kahlen dünnen Zweige empor. Immer wieder stieß er auf die Kohlekreise der Meiler, oder braune, matschige Flächen, wo der Köhler offenbar Grassoden ausgerissen hatte. Harmund verstand nicht viel vom Köhlerhandwerk. Er wusste aber, dass die Holzhaufen oft mit Grassoden abgedeckt wurden, um die Hitze zu halten und möglichst wenig Luft an die Glut zu lassen. Als er weiterlief, schreckte er ein paar Kaninchen auf, und weiter entfernt sah er am Waldrand ein kleines Rudel Rotwild. Sofort bereute er, den Bogen in der Köhlerhütte gelassen zu haben. Abgehangenes Pökelfleisch und Brot aus Buchweizen hingen ihm schon zum Halse heraus.
Harmund lief einen weiten Halbkreis, und erreichte wieder den Bach, aber oberhalb der Hütte. Da er keinen Drang verspürte, schon zurückzukehren, folgte er dem Verlauf des Stroms und kam bald zu einer zweiten Hütte. Sie lag an einem schmalen, mit Holzbalken befestigten Stichkanal, der vom Bach abzweigte und sich nach ein paar Schritt weiter wieder mit ihm vereinigte. Ein grob gezimmertes Wasserrad drehte sich in dem schnell fließenden Wasser des Kanals. Das Holz des Rades war dunkel, fast schwarz vor Feuchtigkeit. Moose und sogar Pilze wucherten in den Fugen. Der Balken, auf dem es saß, verschwand in einem dunklen Loch in der Hütte. Neugierig ging Harmund um die Hütte herum. Sie war schmal und länglich, die Seitenwände aus grob behauenen Balken und Brettern. Das Dach war mit dicken runden Ästen gedeckt, die ihrerseits mit Grassoden belegt waren. Es gab keine Fenster. Aus zwei Stämmen und ein paar halbierten Ästen war eine Art Trittleiter gefertigt worden, die zu einer schmalen Luke führte. Ein großer Riegel versperrte sie.
Harmund hob ihn heraus und drückte die Tür nach innen.
Abrupt blieb er stehen. Die Hütte stank noch erbärmlicher als die des Köhlers. Der scharfe Geruch von alter Pisse biss in seiner Nase. Harmund zog sich den Kragen über die Nase und trat ein. Dort drinnen war es finster, Licht sickerte nur durch Spalte in den Wänden hinein. Er fand einen Holzscheit, den er unter die Tür klemmte. Als sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, erkannte er mehr der Einrichtung. Es war ein Sägewerk. Er sah hölzerne Räder, Stricke, eine massive Holzpritsche und ein langes, rostiges Sägeblatt, das aufrecht in die Apparatur eingespannt war. Sie war kaputt, oder einfach nur ausgestellt, denn sie bewegte sich nicht, obwohl sich draußen das Rad drehte.
Dann entdeckte Harmund eine menschliche Gestalt, direkt vor sich auf dem Boden. Sie lag unter ein er Decke bäuchlings auf einem Lager aus Heu. Seltsamerweise schien sie einen der Balken zu umarmen, die den Dachfirst stützten. Dann sah Harmund, dass die Hände der Gestalt mit Stricken gefesselt waren. Er erkannte, dass es sich um einen Jungen handelte, etwa vierzehn Winter alt, mit blondem Haar und einem kaum nennenswerten Flaum im Gesicht.
Der Junge erwachte, als Harmund näher trat und das Holz unter seinen Füßen knarrte. Unbeholfen versuchte er, sich aufzurichten und vergaß dabei die Fesseln. Die Decke rutschte herunter. Der Junge war nackt. Ein Knebel aus einem alten Lumpen hinderte ihn am Sprechen. Harmund sah ihn an, sein Blick wanderte von dem angsterfüllten Gesicht über den mit blutigen Striemen übersäten Rücken hinunter zu den Beinen des Jungen. Als er das Blut sah, das an der Innenseite der Schenkel des Jungen heruntergelaufen und dort zu einer braunen Kruste erstarrt war, wurde Harmund schlagartig bewusst, was hier geschehen war. Es drehte ihm den Magen um. Sätze des Köhlers dröhnten in seinem Kopf.
'... hab ihm das Zerrgeschirr über den Rücken gezogen. Der kann bis heut nicht richtig liegen, könnt ihr sicher sein.' - '... und da nimmt man halt, was grad zur Tür reinkommt.'
Harmund stürzte zur Tür hinaus, fiel den Tritt hinunter und fluchte, weil er sich erneut besudelt hatte. Nun wusste er alles, und es waren Dinge, von denen er nichts mehr wissen wollte, damals, als in die Wälder gegangen war. Er wusste nun, weshalb Rugnar hier draußen lebte. Weshalb er verstoßen worden war. Was andere Männer zu den Grenzläufern trieb. Ihm wurde klar, weshalb es besser war, das keiner seiner Brüder nach der Vergangenheit der Anderen fragte, dass dieses Nicht-Wissen ein Segen sein konnte und zugleich eine Lüge war. Zum ersten Mal verstand er sogar die Abscheu seines Vaters, und das Misstrauen des Freien Volkes gegenüber den Grenzläufern. Eine unbestimmte Wut überfiel ihn. Wut auf Rugnar, der sie so herzlich aufgenommen hatte, als seien sie Brüder. Auf sich selbst, weil ihn seine Neugier in diese Hütte geführt hatte. Und auf Umbar, weil er sie hierher geführt hatte, und von dem Harmund nicht wusste, was er über den Köhler wusste. Wut, weil etwas zerschlagen worden war.
'Nein' dachte er dann. 'Nein, so ist es nicht. Es ist ein Versprechen. Die Grenzläufer sind das Versprechen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Etwas Neues zu beginnen, etwas Besseres, nach dem Willen der Geister und der Wildnis. Das verdient niemals Verachtung. Niemals.'
Er sah zu der schmalen Tür hinauf und in das dahinterliegende Dunkel hinein.
'Das geht mich alles nichts mehr an. Das liegt hinter mir, schon so lange Zeit. Ich stehe außerhalb der Stammesgemeinschaft. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig.' Diese Gewissheit beruhigte ihn, sie gab ihm Sicherheit. Harmund wusste, wie er handeln würde. Er stieg die Tritte hinauf, fand den Jungen im Dunkeln und hockte sich neben ihn.
„Ich schneide dich los.“ sagte er. „Ich tue dir nichts. Du musst still sein. Kein Schreien, sag einfach nichts.“
Der Junge nickte, ohne dass die Angst aus seinen Augen wich. Harmund zog sein Jagdmesser hervor und zerschnitt mit einer schnellen Bewegung die Hanfseile. Die Fesseln waren zu eng gelegt worden, die Haut darunter war blutig und wundgescheuert. Den Knebel zu lösen überließ er dem Jungen selbst, er wollte ihn nicht berühren. Er hielt sich an Harmunds Anweisungen und blieb still. Mit den Händen bedeckte er seine Scham. Harmund löste die Fibel, die seinen Umhang hielt, und streckte beides dem Jungen entgegen. Zögernd nahm er das schwere Fell und hängte es sich um die schmalen Schultern. Der Umhang reichte bis zum Boden.
„Wie weit ist es bis zu deinem Dorf?“ fragte Harmund.
„Ein Tag.“ Die Stimme des Jungen war dünn, er war noch nicht im Stimmbruch.
„Gut. Geh stromaufwärts, sonst wittert dich der Hund des Köhlers. Wickel dir die Decke um die Hüfte. Ja, so. Und nun verschwinde. Schnell.“

Harmund lief zurück zu Rugnars Hütte. Die anderen schliefen noch immer. Wortlos schlich er sich ins Innere der Hütte, griff sich Marschgepäck und Waffen, zog ein großes Fell von einem der Balken und packte schließlich noch etwas von dem harten Dauerbrot ein. Als er sich umsah, bemerkte er, dass Rugnar ihn ansah. Harmund erwiderte den Blick und legte soviel Verachtung hinein, wie ihm möglich war. Dann trat er aus der Hütte hinaus ins Freie. Hinter der Wolkendecke war der Stand der Sonne zu erkennen, so dass es Harmund nicht schwer fiel, die Himmelsrichtungen zu bestimmen. Er trottete los, über die morsche Brücke hinweg und in den dichtstehenden Wald hinein. Es ging ihn nichts an, ob der Stamm des Jungen Rugnar in seiner Hütte verbrennen würde. Oder ob der Vater, oder ein Bruder des Jungen Rache forderten. Wie die Freunde des Jungen bestraft würden, weil sie geschwiegen hatten. Ob Rugnar es noch schaffte, der Rache zu entgehen und nach Norden zu fliehen. Ob der Junge es bis zu seinem Dorf schaffte. Er war in die Wildnis gegangen, um sich alldem zu entziehen, um Freiheit zu finden. Es war nicht an ihm, zu urteilen oder zu strafen. Seine Aufgabe begann auf den Pässen, wo ihn die Geister leiteten, in der Wildnis, die er zu schützen geschworen hatte.
'Nur die Wildnis?'
Harmund fluchte und blieb stehen. Dann wandte er sich um und lief er in eine andere Richtung weiter. Die Fährte des Jungen zu finden war nicht schwer, und ihr zu folgen noch viel weniger.
 
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Anora

Wanderer
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‚Du misstraust ihm, obwohl er dir gerade erst das Leben gerettet hat? Ha, das hast du definitiv von mir! Und du tust gut daran, so zu verfahren. All diese schmeichlerische Vertrauensseeligkeit bringt einen schneller ins Grab als einem lieb ist!’
So ungern Anora es auch zugab, sie konnte den wahren Kern, der in den Worten ihres Vaters lag, nicht verleugnen.
‚Du müsstest das ja besonders gut wissen.’, entgegnete sie gelassen. ‚Als jemand, der sich ahnungslos von seiner eigenen Tochter hat ermorden lassen…’
Während sie Alyndur betrachtete, merkte sie, wie sich ihr Zorn auf ihn bereits überraschend schnell wieder legte. Es machte tatsächlich keinen Sinn, ihm aufgrund von möglicherweise belanglosen Vorkommnissen, von denen er bisher einfach noch nichts erzählt hatte, zu misstrauen, obwohl er für sie so viel auf sich genommen hatte. Und sie hätte ihn wirklich eher danach fragen können. Warum eigentlich hatte sie das nie getan? Sie hatte bisher generell nur allzu wenig Interesse an der Vergangenheit ihrer Gefährten gezeigt, musste sie sich eingestehen. Aber ganz abgesehen davon befand sie sich derzeit auch nicht wirklich in einer geeigneten Lage, um jenem Menschen, von dem sie abhängig war, solch bittere Vorwürfe zu machen.
„Vielleicht wäre es Euch lieber gewesen, wenn ich bei unserem ersten Zusammentreffen ein Verhör nach allen Regeln der Kunst durchgeführt hätte.“ In ihrer Stimme klang nur noch ein Bruchteil jenes anschuldigenden Tonfalls mit, der sie kurz zuvor noch dominiert hatte. „Dann jedoch könnte ich jetzt mit Sicherheit ausschließen, dass es mein… Charme… war, der Euch dazu motivierte Euch uns anzuschließen.“ Sie warf ihm einen gespielt einschüchternden Blick zu, dann lächelte sie leicht, fast entschuldigend.
„Verzeiht, aber was den Rest betrifft kann ich Euch noch nicht ganz folgen. Ihr dürft nicht vergessen…“ Mit ihrer bandagierten Hand tippte sie sich leicht gegen die Stirn. „…ich bin erst kürzlich auf den Kopf gefallen.“
 

Alyndur

Zwielichtiger
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Er blickte Anora lange und gedankenvoll an. Am Ende lachte er ihr freundlich zu. „In der Tat, die Ebenen haben Euren Geist verändert... doch nicht zum Schlechten, wie ich betonen möchte! Zunächst glaubte ich...“ Dass Ihr beim ersten Anzeichen von Hohn zu Eurer alten Feindseligkeit zurückfinden würdet. „Nun gut, ich will Euch erzählen, was mir an jenem Abend in Elyndorr widerfuhr, und danach wird zumindest einer der Gründe, die mich damals dazu bewogen, mich Euch anzuschließen, kein Rätsel mehr für Euch sein. Ich kann nur hoffen, dass Ihr mir meine Offenheit im Nachhinein nicht verdenken werdet.“
Und so rief er die Erinnerung und begann zu erzählen...

~

„Der Schatten holt Eure harten Zeiten, Emyon. Es bleibt bei drei Beutelchen. Das ist mein letztes Wort.“ Alyndur lächelte siegessicher in sich hinein. In den Augen des Weinhändlers rangen Missfallen und Verlangen um die Vorherrschaft. Emyon Than war niemand, der zu kaltblütigem Abwägen im Stande war, hatte er erst die Fährte von etwas gewittert, das sein Körper begehrte. Unten in den Slums von Elyndorr mochte es eine Vielzahl an Hehlern geben, die ihm für einen günstigeren Preis mit einem der verbotenen Rauschmitteln hätten dienen können, die er so sehr schätzte, doch sie ausfindig zu machen, wäre zweifelsohne ein langwieriger und sicher auch nicht ganz unriskantes Unterfangen gewesen. Schließlich obsiegte die Gier.
„Und eine Empfehlung meiner Ware an jeden, mit dem Ihr ins Gespräch kommt - Euer Wort darauf, verdammter Schubjack!“ Emyon Than prustete, die Wangen vor Zorn gerötet.
„Wie immer!“, lachte der Waldläufer zurück, um einiges vergnügter als sein Gegenüber.
„Wartet nur, bis ich selbst mal wieder aus der Stadt raus komme“, drohte er und stieß den rothaarigen Knaben, der ihm bei den Fässern zur Hand ging, mit einem wütenden Schubs aus dem Weg. „Ich pflück den ganzen verdammten Schwarzen Wald leer, so wahr mir Sors helfe! Ihr könnt dann sehen, wo Ihr mit Eurer Hehlerware abbleibt, und für Euren Wein mit Geld bezahlen wie jeder anständige Bürger.“
„Und mit der Güte Eurer Preise Bekanntschaft schließen?“, stichelte Alyndur und reichte dem Halbelf seine Feldflasche zum Auffüllen. Im Gegenzug kramte er drei kleine Stoffbeutel mit getrockneten Fliegenpilzstücken aus seinem Gepäck hervor. „Besser nicht.“ Er vollführte eine sarkastische Verneigung und wandte sich zum Gehen, als seine Aufmerksamkeit von nahendem Hufgetrappel erregt wurde.
„Guten Abend, Emyon!“, schallte es boshaft über die Straße. „Nehmt Ihr immer noch zehn Silber pro Fass oder seid Ihr inzwischen ganz auf den Tausch mit Hehlerware umgestiegen?“
„Zwanzig Kupfer“, quiekte der Halbelf, als er erkannte, wer sich ihm näherte. „Ist ein verdammter Schleuderpreis für eine erlesene Ware wie die meine - wer sollte das wissen, wenn nicht Ihr, Grimhold?“ Der kräftige Mann ließ sich gemächlich von seinem Ross sinken, sodass Alyndur einen Blick auf seinen Umhang erhaschen konnte, der unter dem schulterlangen braungräulichen Haar herabfiel. Im Zentrum des weißen Gewandstücks prangte ein grüner Drache mit erhobener Klaue, der seinen Träger als einen Soldat ohne Rittertitel im Dienste seines Ordens auswies. Darunter trug er die smaragdgrüne Tunika mit den Abzeichen eines Offiziers der Stadtwache von Elyndorr. Der Hüter des Gesetzes näherte sich dem Stand des Weinhändlers mit dem selbstzufriedenen Gang eines Raubtieres, das sich seiner Beute sicher sein konnte. Die linke Hand ruhte herausfordernd auf dem Knauf seines Schwertes. Da außer Emyon Than sonst niemand zugegen war, erbarmte er sich dazu, Alyndur ins Visier zu nehmen. „Leutnant Grimhold von der Stadtwache Elyndorrs. Ihr müsst ein kühner Mann sein, mit diesem Schurken zu handeln, Fremder.“
„Mein Name ist...“, beeilte sich der Waldläufer zu antworten, um möglichst schnell von dem hiesigen Geschäft abzulenken, doch der aufgebrachte Halbelf fiel ihm ins Wort.
„Ein Landstreicher von der übelsten Sorte! Glaubt kein Wort von dem, was er spricht. Er nimmt mich aus, und erfindet seinen Namen von Mal zu Mal neu, um seinem Gericht durch edle Recken wie Euch, Grimhold, zu entgehen. Es ist ein wahres Glück, dass Ihr ihn hier auf frischer Tat aufgegriffen habt! “
„Ist das so?“ Die Augen des Hauptmanns verengten sich zu zwei skeptischen Spalten, als er Alyndur mit einem Ausdruck musterte, der nichts über seine Absichten verriet.
„Ich nehme es nur den Räubern und gebe es den Armen“, unternahm Alyndur einen halbherzigen Versuch, sich zu verteidigen. Die beiden Männer begannen ihn schon zu langweilen.
„Nur, dass Ihr stets der Arme seid und ich -“
„Der Räuber“, endete Leutnant Grimhold mit ernster Miene. „In den Worten dieses Mannes liegt Wahrheit, Händler. Seit Monden schon missachtet Ihr die Höchstpreise für Wein in diesem Viertel. Ich denke nicht, dass der Ruf der Stadt einen solchen Tunichtgut wie Euch noch länger ertragen kann. Ihrem Wohlwollen habt Ihr es zu verdanken, dass Ihr Eure schamlosen Geschäfte in diesem Teil machen dürft und zwar zu einem gerechten Preis, der um einiges höher ist als unten in den Slums, wo Ihr von Rechts wegen hingehört. Wenigstens der höhere Teil Elyndorrs ist noch ein Bollwerk des Herrn San’Guis und Ihr seid ein Schandfleck in seinem Angesicht - und zwar nicht nur Eurer Rasse wegen.“
„Zum Glück bin ich ein frommer Mann und weiß, meine Sühne zu tun“, lenkte der Weinhändler ein und führte den Wachmann zu seinen Fässern herum.
„Das wird nicht mehr lange so gehen, Emyon“, gab dieser zu bedenken, hing sich kopfüber unter eines der Weinfässer und drehte den Hahn voll auf. „Hauptmann Waynard wird in Kürze den Ritterschlag empfangen und dann wird er keinen Makel mehr an seinen untergebenen Offizieren dulden.“ Irgendwie brachte er es zu Stande, in dieser verdrehten Haltung den Zeigefinger emporzuheben. „Dann werdet Ihr Eure Sühne entweder im Kerker leisten müssen oder als Söldner im Dienste Sir Cerriks.“
„Als Söldner?“, brach es aus Alyndur heraus, ehe er sich versah. Der absurde Gedanke rief seine Neugier zurück. „Was könnte der ehrenwerte Sir Cerrik an einem Scharlatan wie diesem finden, der noch nicht einmal ein Schwert stemmen könnte, wenn es aus Holz wäre?“
„Nicht allzu viel, vermutlich“, pflichtete Grimhold ihm zwischen zwei gierigen Zügen bei. Roter Wein floss in kleinen Rinnsalen von dem bärtigen Kinn herab und tropfte ihm stetig auf die Kleidung.
„Eure Frau Gemahlin wird es nicht mehr schätzen als ich, dass Ihr Eure Gewandung mit der Hälfte meiner Ware durchtränkt“, bemerkte Emyon Than, so trocken wie der andere nass war.
„Also wohl doch eher ein Kandidat für den Kerker.“ Alyndur mühte sich, das Gespräch aufrechtzuerhalten. Es drängte ihn herauszufinden, ob sich hinter den Worten des Leutnants doch mehr verbarg, als eine neckische Drohung. Sollte es wahr sein, dass der Hochmeister der Grünen Drachen, ein Orden, dessen Macht seines Hochmuts von alt her ebenbürtig war, dazu übergegangen war, gewöhnliche Söldner anzuheuern? Und falls ja, zu welchem Zweck? „Doch angenommen, er wäre kräftiger... kühner und wüsste, ein Schwert aus Stahl zu führen? Wie wäre es dann um ihn bestellt?“
„Daaaaannn“, lallte es ausgelassen unter dem Weinfass hervor. „Winkte ihm mehr Gold als ihm seine schmutzigen Geschäfte in tausend Jahren einbringen könnten. Außerdem wären ihm alle Sünden verziehen, die unter das Gericht des Herrn San’Guis fielen. Vorausgesetzt...“ Grimhold richtete sich schwerfällig wieder auf und wankte zurück zu seinem Pferd, mit dem Ausdruck der Zufriedenheit auf seinem vom Wein gerötetem Gesicht. „... er erfüllt einen kleinen Auftrag.“
„Was für einen Auftrag?“, beharrte Alyndur mit aller Eindringlichkeit.
„Einen klitzekleinen Auftrag!“ Der Leutnant stieß sich zurück in den Sattel, deutete die Größe des Auftrags mit den Spitzen von Daumen und Zeigefinger an und grinste dazu wie ein Blöder. „Emyon, Landstreicher - einen guten Abend!“

Wahrlich, es hätte ein guter Abend sein können, wenn nicht gar ein traumhafter Abend, hätten die Umstände es so gewollt. Doch sie wollten es nicht. So schlenderte Alyndur ziellos und in Gedanken verloren durch die Straßen und Gassen der prächtigen Stadt, oder vielmehr durch einen ihrer wenigeren Teile, die dieser Bezeichnung gerecht wurden.
Eine zarte Lauheit hatte sich über Elyndorr gelegt und lockte viele seiner Bewohner noch auf die Straßen; auch jene, die ihr Tagewerk bereits verrichtet hatten. Hier erhaschte der Waldläufer einen Blick auf einen Reiter, der sein Pferd ausführte, dort auf ein Liebespaar, das gefährlich nahe am steilen Hang der Straße balancierte, unter dem die ärmeren Viertel der Stadt begannen. Einer der beiden wies mit dem Arm in die Ferne und schenkte dem anderen den goldenen Horizont.
Schließlich verschlug es Alyndur in eine der kleineren Nebengassen, wo er sich vor den Augen der Menge ein wenig sicherer fühlte. Die lallenden Worte des Wachmanns hallten in seinem Bewusstsein nach und erregten stille Wasser in der Tiefe seiner Seele. „alle Sünden vergeben, die unter das Gericht des Herrn San’Guis fielen.“ Über so viele Jahre hinweg hatten sie dort geruht, diese Wasser, ganz so, als wären sie tot. War es nicht erst das Kribbeln eines lahmen Gliedes gewesen, das den Körper der Seele daran erinnerte, dass er es noch besaß? Dass es trotz allem noch immer einen Teil von ihm bildete? Mit der Erkenntnis trat die Torheit ans Licht: Wäre es ihm wirklich ausgerissen worden, so hätte er an der Wunde verrecken müssen.
Die Grazie des Abends bildete einen Widerpart zu seinem inneren Sturm.
Es war einer jener sanften Abende, da sich die verbliebene Wärme des Spätsommertages mit der scharfen Kühle des nahen Herbstes küsste und den darauffolgenden Winter bereits erahnen ließ. Ein solcher Abend verstand es, einen wehmütig zu stimmen, wenn man sich in ihm verlieren wollte. Und wie sehr er es wollte! Ein Schwellenpunkt zwischen den Zeiten. An keinem anderen Tag trat einem die Gegenwart als der schmale Grat, den sie zwischen Vergangenheit und Zukunft bildete, deutlicher in Erscheinung. Nie schienen ihre Grenzen durchlässiger.
Und dann fiel der Schatten auf ihn herab. Mochte er seinen Verfolger eine ganze Weile lang nicht bemerkt haben, so reagierte er nun umso schneller. Mit einer flinken Bewegung drehte er sich herum und brachte das Langschwert zwischen sich und den anderen.
Doch dieser stand ruhig da und hob beschwichtigend die Hände.
„Kein Grund, harmloses Blut zu vergießen, Freund.“ Die Gestalt war um gut einen Kopf größer als er und trug einen dichten Vorhang blonder Haare vor ihren Gesichtszügen unter der übergezogenen Kapuze. Die weite Kleidung tat ihr übriges, um nichts außer der Stimme auf ihre Weiblichkeit schließen zu lassen.
„Für gewöhnlich pflege ich meine Freunde zu kennen“, erwiderte Alyndur mit aller gebotenen Skepsis. Er senkte die Klinge, um weniger Aufsehen zu erregen und tat so, als wolle er sich beiläufig darauf stützen. Dabei hielt er den Knauf der Waffe jedoch fest umschlossen.
Die andere ließ sich nicht beirren.
„Bedarf es nicht oft nur einer kleinen Gelegenheit, damit uns ein Fremder zum Freunde wird?“, fragte sie mit einer Stimme, die für ihre grobschlächtige Gestalt unpassend sanft, beinahe einschläfernd wirkte. Es stand außer Frage, dass die Fremde auf etwas Bestimmtes hinauswollte und deshalb galt es, erst recht auf der Hut zu bleiben. Nichts allzu Romantisches, wie ich fürchte, meldete sich sein Instinkt.
„Dann seid so gütig und nennt mir eine solche Gelegenheit, die für den heutigen Abend in Betracht käme.“
„Ihr meint, außer der Gelegenheit, sich an einem so lieblichen Spätsommerabend wie diesem in einer so romantischen Stadt wie dieser über den Weg zu laufen?“ Ihre halb verdeckten Augen schienen jede seiner Regungen genauestens zu studieren. Alyndur versuchte, sich so gelassen wie möglich zu geben und ging dazu über, das gleiche zu tun. „Außer dieser rein zufälligen Begegnung?“, fragte er, ohne aus der ausdruckslosen Körpersprache seines Gegenübers neue Erkenntnisse zu ziehen. „Aber gewiss doch.“ Alyndur missfiel die Muße, mit denen sich die Fremde ihre Antworten zurechtlegte, aufs gründlichste. Kam es ihr darauf an, Zeit zu gewinnen? War sie möglicherweise nicht allein und versuchte, ihn gerade so lange hinzuhalten, wie ihre Kumpanen brauchen würden, um ihm von der anderen Seite der engen Gasse den Weg abzuschneiden? Er tat vermutlich besser daran, hier herauszukommen, wenn ihm diese Frau nicht innerhalb des nächsten Augenblickes einen einleuchtenden Grund für diese Begegnung nennen würde.
„Nun, dann vielleicht die Gegebenheit, dass Ihr Euch für eine gewisse Angelegenheit zu interessieren scheint. Eine Angelegenheit, die einen erfahrenen Söldner betreffen könnte.“
So standen die Dinge also. Die Stadt hatte Augen und Ohren an jeder Ecke. Doch dies überraschte den Waldläufer weitaus weniger als die Bedeutung, die jenem geheimnisumwobenen Auftrag dadurch zukommen musste. Dafür schien Sir Cerrik also tatsächlich Söldner anzuwerben. Sollte man ihn, einen namenlosen Fremden in Elyndorr, gezielt bespitzelt haben, so konnte das nichts anderes bedeuten, als dass eine Reihe von Schergen die Weisung hatte, nach fähigen Mietlingen Ausschau zu halten... und dass er als ein solcher in Betracht gekommen war.
„Ihr haltet mich wohl für einen lebensmüden Abenteurer“, versetzte er seinem Gegenüber. Sollte man ihn wirklich belauscht haben, dann war es eben so. Doch falls nicht, würde er dieser Spionin nicht mehr verraten, als sie tatsächlich wusste.
„Dann stellt sich wohl die Frage, was sich in den kleinen Beuteln befand, die ein gewisser lebensmüder Abenteurer dem Händler Emyon Than für eine Flasche Wein zusteckte.“
Selbst durch den Schutz ihrer Züge hindurch glaubte Alyndur den Ansatz eines diebischen Lächelns auszumachen.
„Falls Ihr diesem gewissen lebensmüden Abenteurer zufällig über den Weg laufen solltet, dann seid doch so gut und weist ihn auf ALL die Vorteile hin, die es haben könnte, für Sir Cerrik zu arbeiten. Die Wachen am Tor der Feste sind bereits über sein Kommen informiert.“

Und das waren sie. Männer, denen er noch nie zuvor begegnet war, nickten ihm zu, als er sich der Burg der Grünen Drachen näherte und ließen ihn ohne Umstände passieren. Der Spitzel hatte wahrlich ganze Arbeit geleistet. Am Eingang zum Inneren der Burg nahm ihn ein höherer Offizier ebenfalls wortlos in Empfang, bei dem es sich - dem grünen Umhang mit dem weißen Drachen in der Mitte nach zu urteilen - im Gegensatz zu Leutnant Grimhold um einen Träger des Rittertitels handeln musste. Nachdem man ihm seine Waffen abgenommen hatte, führte er den Waldläufer zielbewusst durch ein Labyrinth aus fensterlosen Gängen, wo in regelmäßigen Abständen Fackel an den Wänden angebracht waren. Außerdem war an jeder Ecke mindestens eine Wache postiert, bei der er sich im spärlichen Feuerschein auf den ersten Blick nicht sicher war, ob es sich um einen Mensch oder doch nur um eine Statue handelte. Das Licht gab eine Vielzahl an alten Kunstgegenständen zu erkennen, von denen Alyndur wusste, dass sie in den ersten Festen des Reiches wie auch Nordend und Arxana aufbewahrt wurden: Statuen, die Hochmeister, Heerführer und andere Persönlichkeiten der Vergangenheit bis hin zur Gründerzeit Reiches darstellten, Gemälde und Gobeline, die die heroischsten Momente der menschlichen Geschichte für die Ewigkeit festhielten... jedoch auch die dunkelsten. Alyndur entdeckte einen Wandteppich, auf dem ein schwarzer Drache zu sehen war, der sich bei untergehender Sonne in die Höhe schwang und auf eine prunkvolle Stadt einen finsteren Schatten warf. Unwillkürlich verharrte er einen Moment vor diesem Bild, bis sein Wegführer sein Zaudern bemerkte und ihm in einem scharfen Tonfall zu verstehen gab, Sir Cerrik liebe es nicht zu warten. Und so setzten sie ihren Weg durch die düsteren Gänge fort.
Sir Cerrik beliebte es, in einem Saal zu warten, der sich in einem höheren Geschoss der Burg befinden musste und wieder einen Blick nach außen zuließ. Da er jedoch von der Abendsonne abgewandt war, war von draußen nicht mehr viel zu erkennen. Auch hier brannten Fackeln an den steinernen Wänden und auf einem Pult, vor dem sich eine hagere Gestalt über eine Anzahl von Karten und anderen Dokumenten stützte, waren Kerzen entzündet.

„Ein weiterer Abenteurer für Eure Dienste“, verkündete der Ritter, der ihn hergeführt hatte, und entfernte sich auf ein schwaches Nicken seines Herrn hin wieder aus dem Saal.
Als er sich zu Alyndur umwandte, erschrak dieser fast über die massigen Ringe, die sich unter den trüben Augen im faltigen Gesicht des Mannes hinzogen.
Dies ist kein Angesicht, das sich lange mit der Würde und Bürde eines Hochmeisters vereinen lässt, schoss es ihm sogleich durch den Kopf. Es hieß, Sir Cerrik habe sich seit langem nicht mehr öffentlich in seiner Stadt gezeigt... aus gutem Grund, wie es schien.

„Ihr kommt spät“, begrüßte ihn der alte Hochmeister mit dem Schatten einer gebieterischen Stimme, die ihm einst eigen gewesen sein musste. „Aber vielleicht noch nicht zu spät, so uns das Schicksal gnädig ist.“
Spätestens jetzt war Alyndurs Neugier nicht mehr zu bremsen.
„Was gibt es zu tun?“

„Mein lieber Freund, Sir Cerrik,
Verzeiht, wenn ich mich nicht mit den üblichen Begrüßungsformeln aufhalten kann, aber diese Angelegenheit ist - und hier werdet Ihr mir sicherlich beipflichten - von äußerster Dringlichkeit. Sir Cerrik, ich bin leider der Überbringer schlechter Nachrichten: Der Feind hat eine weitere Schutzbarriere durchbrochen und es wird wohl nicht mehr allzu lange dauern, bis er durch das Portal der Verdammnis in unsere Ebene übersteigen wird. Unsere geliebte Herrin Livia Lysanei hat nun beschlossen, alles weitere Euch anzuvertrauen. Es liegt also in den Händen der Ritter der Grünen Drachen das zu schaffen, worin wir, die Ritter des Lichts, gescheitert sind: Ihr als ihr Anführer, müsst jenen Mann finden, über den gesagt wird, dass nur er den Weg kennt, dieses verfluchte Portal zu schließen. Selbst in unserer umfassenden Bibliothek konnten wir nicht viel über die Sage um Naxus finden. Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf, da ich weiß, dass Euch ganz andere Möglichkeiten offen stehen Informationen zu beschaffen. Findet ihn um jeden Preis und bringt ihn dann hierher zur Feste Arxana. Die Herrin wartet schon voller Ungeduld auf Eure Ankunft. Ihr seid unsere letzte Hoffnung! Ich bitte Euch, tut was immer in Eurer Macht steht um die Verdammnis aufzuhalten! Für unser Volk und das Licht!
Möge die Schicksalsgöttin Sors Euch beistehen.
Ehrerbietig,
Sir Fenther, Oberkommandant der Ritter des Lichts“

Der starre Blick Sir Cerriks ließ ihn wissen, dass er den Worten des Pergaments nicht mehr viel hinzufügen würde.
„Ihr müsst in die Adlerberge reisen und den Mann dort aufspüren. Bringt ihn lebend nach Elyndorr und schützt sein Leben notfalls mit dem Euren, denn an dem seinen mag das Leben des Reiches hängen.“
„Wohlan denn!“, verkündete Alyndur und setzte sein sarkastischstes Lächeln auf. „Wann hätte ich nicht schon davon geträumt, die ferne Grenze des Nordens zu bereisen und all die Wunder zu bestaunen, deren Anblick es wert ist, mit seinem Leben dafür zu bezahlen? Und womit ließe sich ein solcher Traum würdiger verbinden als mit der beiläufigen Rettung unseres werten Sin’Arcus?“
Der alte Ritter merkte wohl, worauf er hinauswollte, doch seine Miene blieb müde und bitterernst.
„Zwanzigtausend Kupfer gebühren demjenigen, der den Naxus unversehrt nach Elyndorr bringt.“
„Eine wahre Summe!“, rief Alyndur begeistert aus. „Großzügig genug, um sein Leben dafür zu opfern...“
„Und die Vergebung aller Verfehlungen, die unter das menschliche wie unter das göttliche Gericht San’Guis’ fallen.“ Und als er merkte, wie Alyndurs Interesse stieg: „Ihr müsst jedoch zuvor beichten, wofür Ihr Vergebung erfleht.“
Und so beichtete Alyndur. Ohne jedweden Spott, als vielmehr mit einer großen Unsicherheit in der Stimme. Worte zu finden, war schwerer, als die Erinnerungen zu rufen... sie auszusprechen, beinahe unmöglich. Schüchterner als ihm lieb war, studierte er das Gesicht des Mannes, der nun sein dunkelstes Geheimnis kannte, und fragte sich, was er wohl davon halten mochte... es war nicht allzu viel.

„Ich weiß nicht, was mich mehr abstößt“, erklärte ihm der alte Hochmeister mit einem hochroten Gesicht. „Die Torheit Eurer Lüge oder die Vermessenheit, mit der Ihr sie mir auftischt. Glaubt Ihr, ich hätte dieser Tage keine anderen Probleme?“
„Warum sollte ich solch eine Schuld zu unrecht auf mich laden?“
„Vielleicht gehört Ihr zur Sorte derer, denen ein legendärer Ruf - und sei er noch so ruchlos und erlogen - wertvoller erscheint als ein Leben in Ansehen und Würde“, fauchte ihn Sir Cerrik an. „Eure Geschichte geht noch nicht einmal richtig in sich selbst auf, Ihr infamer Narr! Warum solltet Ihr wohl heute noch am Leben sein? Noch dazu in der besten Verfassung, die man sich wünschen könnte?!“
Das Misstrauen des Ritters war im Vornherein so klar gewesen wie der Sonnenaufgang. Es gab nichts, was ihn von der Wahrheit seiner Worte überzeugen konnte... und vielleicht hatte ihm Sir Cerrik damit sogar einen weiseren Weg vorgezeichnet. Vielleicht war er in der Tat besser beraten, den Hochmeister der Grünen Drachen zu beschwichtigen und diese Aufgabe des Goldes wegen anzunehmen... oder besser noch ganz abzulehnen. Und doch... etwas sagte ihm, dass diese Gelegenheit - so ungünstig und zum Scheitern verdammt sie auch sein mochte - die einzige war, die er je bekommen sollte, um der Wahrheit seines Lebens Rechnung zu tragen.
„Und es dafür sicher zu riskieren?“, hielt er dem Ungläubigen entgegen. „Selbst wenn... wäre der Glaube in ein Märchen wie das meine ein zu hoher Preis für die Rettung Eures heiligen Reiches?“
Das schien Sir Cerrik eine Überlegung wert. Rasch ließ der alte Ritter von seinem Zorn ab und setzte die Miene eines kampferprobten Strategen auf. Aller Wahrscheinlichkeit nach hielt er Alyndur noch immer für einen bodenlosen Strolch, doch andererseits, was hatte er an ihm zu verlieren?
„Trotz der Not, in der sich unser Reich befindet, sähe ich mich nicht in der Lage, ein solches Verbrechen mit Geld zu belohnen. Wenn ich San’Guis um Absolution für Eure Seele ersuchte, so täte ich damit in jedem Fall schon mehr als das Äußerste des mir Möglichen. Hier sind also Eure Optionen: Entweder Ihr nehmt diese kühne Behauptung als das Märchen zurück, für das ich sie nach wie vor halte, oder Ihr werdet für all Eure Ausrüstung und die Entschädigung all Eurer Mühen bei dieser Aufgabe selbst aufkommen.“ Der matte Blick des Ritters gewann etwas an Schärfe, als er in Alyndurs Gesicht nach Erkenntnis forschte. „Entscheidet Euch weise!“
„Vielleicht sollte ich Eure Mission gänzlich ablehnen, wenn Ihr mich nicht einmal des einzigen Lohnes versichern wollt, der mich dafür gewinnen könnte.“
Stürmische Wellen regten sich in den wässrig blauen Augen des alten Hochmeisters. „Ich kann Euch nur eines raten, Fremder: Fordert mich nicht heraus! Zwei Eurer Vorgänger versuchten, mir zu trotzen und mussten sich dennoch meinem Willen beugen. Entscheidet Euch lieber selbst für den richtigen Weg und erspart uns beiden damit weitere Unannehmlichkeiten.“
So sah die Sache also aus. Er spielte hier ein abgekartetes Spiel. Vielleicht war es auch ein Wort des Schicksals, das Alyndur eine schwere, wenn auch notwendige Entscheidung abnahm.
„Ich würde meine Worte gerne widerrufen“, sprach er in aller Ruhe. „So ich damit nicht im gleichen Zuge der Wahrheitsgöttin spotten müsste.“
Plötzlich vertieften Zweifel die Furchen auf Sir Cerriks greisem Gesicht.

„Was ich tat, geschah in San’Guis’ Angesicht“, fuhr er ebenso gelassen fort. „Befragt ihn, sollte ich mit dem Naxus zu Euch zurückkehren. Er wird wissen, ob ich mit dieser Sache alte Schuld sühnen oder neue auf mich laden will.“
Alyndur schien zumindest das Einverständnis des alten Hochmeisters gewonnen zu haben.
„Der Herr kennt die Schritte seiner Diener“, stimmte er dem Waldläufer ernst und feierlich zu. „Er wird auch die Wahrheit kennen.“ Wenn auch nur flüchtig... so glaubte Alyndur zum ersten Mal während ihrer Begegnung so etwas wie Ruhe in die Haltung des alten Hochmeisters einziehen zu sehen. Es verlieh ihr eine Ahnung der alten Stärke, über die er früher geboten haben musste. „Entweder seid Ihr der infamste Lügner, der mir je unter die Augen gekommen ist...“, sprach er mit einem Abglanz von Herrentum in der Stimme. „... oder wahrlich eine verlorene Seele. So geht denn hin, wer auch immer Ihr sein mögt, und leistet Euren Teil zur Verteidigung unseres Reiches.“
Alyndur verneigte sich förmlich, um die Milde des anderen zu bewahren. Doch als er den ersten Schritt in Richtung der Tür getan hatte, holte ihn ein anderer Gedanke ein.
„Nur eines noch“, setzte er hinzu. „Ihr sprachet von zweien, die mir bei diesem Auftrag zuvorgekommen seien und Euer Missfallen erregt hätten. Wer waren sie und was ist aus ihnen geworden?“
Sir Cerrik schien eine Weile zu überlegen, als wäre er unschlüssig, ob er darauf antworten überhaupt sollte. Schließlich rang er sich aber dazu durch:
„Eine elfische Kopfgeldjägerin und ein exotischer Halbelf aus dem Süden des Reiches. Anora Alia und Maron ak Wulfstead waren ihre Namen. Ihre Fähigkeiten hatten einen guten Ruf genossen, aber dennoch kommen sie derart langsam voran, dass es mir Grund gibt, misstrauisch zu werden. Ich habe ihnen zwar sämtliche Mittel für eine schnelle Reise zur Verfügung gestellt und sogar Vorkehrungen getroffen, die verhindern sollten, dass sie sich gegen meinen Willen auflehnen, doch andererseits habe ich nie viel Vertrauen in diese Art von... Leben verloren.“ Der alte Hochmeister kaute nervös auf seiner Unterlippe. „Mir wurde vor ein paar Tagen berichtet, dass sie in Kürze Idanthur erreichen würden. Ein paar andere Gestalten sollen sich ihnen angeschlossen haben... auffällige Gestalten. Falls Ihr Euer Glück mit ihnen versuchen wollt, sollte es nicht allzu schwer sein, sie aufzufinden.“
Ein interessanter Gedanke. Sollten diese Söldner Sir Cerriks seinem Ruf nur aus der Gier nach schnellem Geld gefolgt sein, so war es durchaus möglich, dass sie eine Gefahr für Alyndur darstellten und er für sie. Auf der anderen Seite mochte es sich als weiser, wenn nicht sogar als unabdingbar herausstellen, die nördlichen Gefilde in der Gesellschaft erfahrener Krieger zu durchqueren und sich gewissen... konfliktträchtigen Fragen später zu widmen, wenn die größten Hindernisse auf dem Weg zum Erfolg überwunden waren.
Er hatte die Tür des Saales fast erreicht, als Sir Cerrik ein letztes Mal das Wort ergriff.
„Wenn es doch wahr sein sollte...“, murmelte der blonde Greis, vielleicht eher zu sich selbst als zu Alyndur. „Solltet Ihr wahrhaftig der sein, der Ihr zu sein vorgebt...“ Plötzlich betrachtete er den Waldläufer mit einer Mischung aus Geringschätzung und Verzweiflung. „Dann seid Ihr vielleicht die letzte Hoffnung.“

Als Alyndur die Burg der Grünen Drachen verließ, trat er unter einen klaren Sternenhimmel. Über ihm in der Schwärze schien das ferne Bild des Einsamen Wolfes. Zur Erde, überall um ihn herum, zum Fuße des Hügels und darauf, brannten die Laternen der Straßen und einzelne Lichter aus den Fenstern der Häuser von Elyndorr.
Ob es klug gewesen war, sein Schicksal in die schwächelnden Hände dieses verwitternden Greises zu legen? Er zweifelte nicht an dem Wort des alten Hochmeisters, doch es sollte ihn nicht überraschen, wenn Sir Cerrik den Tag seiner Rückkehr nicht mehr erleben würde... sofern er diesen überhaupt selbst erblicken sollte. Und gesetzt den Fall - würde der neue Hochmeister der Grünen Drachen das gegebene Wort seines Vorgängers als sein eigenes betrachten? Düstere Fragen lockten noch düsterere Antworten hervor. Doch alle Finsternis vermochte nichts daran zu ändern, dass sein Weg nur noch in eine einzige Richtung führte... nach vorn!

~

„Nun?“ Die Herausforderung in Alyndurs Stimme übertraf sogar die Neugier darin. Er hatte nicht alles getreu nach seiner Erinnerung erzählt. Seine Berufung auf San’Guis hatte er zum Beispiel unerwähnt gelassen, da sie ohnehin nur im Wesentlichen dem Zweck gedient hatte, Sir Cerrik gnädig zu stimmen und sein Einverständnis zu gewinnen. Für den Moment war es besser, nicht mehr von Anoras Skepsis zu erregen, als es das Nötigste seiner Erzählung ohnehin schon provoziert haben musste. Alles zu seiner Zeit hieß das Gebot seiner Geschichte... und einige Zeiten mochten niemals kommen. Natürlich hatte er der Elfe auch seine innigsten Gedanken, die ihn an jenem Abend in Elyndorr begleitet hatten, nicht auf die Nase gebunden. Ebenso hatte er Sir Cerriks Empörung ob seiner unglaubwürdigen Geschichte ziemlich heruntergespielt und sie darauf zurückgeführt, dass der alte Hochmeister von dem, was Alyndur ihm gestanden hatte, lediglich angewidert war. Was das sein mochte... nun, diese Frage hatte er zu umgehen versucht. Denn dies war eine andere Geschichte, mit der er nicht hausieren würde.
 
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Anora

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Anora hatte Alyndurs Erzählung aufmerksam, doch mit wachsender Überraschung und Unruhe verfolgt. Als er am Ende seiner Geschichte angelangt war, sah sie ihn eine Weile wortlos und mit ausdrucksloser Mine an. Dann, völlig unvermittelt, brach sie in schallendes Gelächter aus.
„Ein Söldner! Ein verdammt noch mal absolut gewöhnlicher Söldner! Ihr!“, rief sie, als könne sie dies noch nicht wirklich glauben. „Ich habe ja viel erwartet, aber dass ausgerechnet Ihr ein Söldner im Dienst der Grünen Drachen sein wollt…“
Ohne dass er ihr dafür bisher einen vernünftigen Grund gegeben hatte, hatte Anora immer das Gefühl gehabt, von Alyndur aufgrund dessen, was sie war, auf eine gewisse Art verachtet zu werden. Eine Söldnerin und Kopfgeldjägerin, die durch das Land reiste und die Schmutzarbeit anderer erledigte, für den Lohn von Gold – Und ihrer Freiheit. Dass der Waldläufer nun selbst vorgab, jemand Ihresgleichen zu sein, brachte ihr bisheriges Bild von ihm gewaltig ins Wanken.
„So habt Ihr Euch also von dem alten Narren anheuern lassen, für Gold und Absolution diese Aufgabe zu vollbringen… Meine Aufgabe!“ Noch immer ein wenig ungläubig lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Nun, was auch immer Euer Lohn letztendlich sein wird, ich beneide Euch ehrlich darum. Denn meiner…“, fuhr sie etwas leiser fort. „…ist weder Gold noch Ablass. Das Leben zweier Freunde hängt von meinem Erfolg ab. Und der Lohn für meine anfängliche Weigerung, für den Orden zu arbeiten, war der Tod vieler und die Vernichtung von allem, was mir wichtig war… Von meiner Heimat. Sir Cerrik kann in seinen Argumenten sehr… überzeugend sein!“
Warum sie all das Alyndur jetzt, in diesem Moment, erzählte, wusste sie selbst nicht. Vielleicht wollte sie ihm auf diese Weise klar machen, dass sie diese Aufgabe um jeden Preis zu Ende bringen würde. Egal, wie viele andere Söldner noch auf dem gleichen Weg waren.
Sie starrte eine Weile schweigend vor sich hin, hing ihren eigenen Gedanken nach. Dass Sir Cerrik weitere mit diesem Auftrag betraut hatte, weil ihr Vorankommen offensichtlich nicht schnell genug war oder er seine Zweifel an ihrem Erfolg hatte, beunruhigte sie. Nach dem, was sie gerade erfahren hatte, fürchtete sie mehr denn je um das Leben ihrer Freunde, waren sie doch ganz der Willkür des Ordensoberhauptes ausgesetzt.

„Ich…“ Sie hatte etwas sagen wollen, doch die Worte kamen nicht über ihre Lippen. Sie schienen irgendwo auf dem Weg von ihrem Herzen zu ihrem Mund verloren gegangen zu sein. Stattdessen lächelte sie verlegen, doch es war keine Freude in diesem Lächeln zu sehen.
Im nächsten Moment hob sie die Feldflasche in Alyndurs Richtung und rief spöttisch:
„Auf das Söldnerleben, mit all seinen Vorzügen!“
Sie nahm einen großen Schluck, setzte die Flasche dann wieder ab und lehnte sich seufzend zurück.
„Aber weshalb gerade Ihr für die Ritter arbeiten solltet, bleibt mir noch immer ein Rätsel.“ Sie betrachtete Alyndur nun aus ganz anderen Augen als noch wenige Minuten zuvor. Seine Geschichte hatte alles verändert. Doch wie glaubwürdig war er wirklich? „Oder wollt Ihr mir etwa erzählen, Eure Abneigung gegenüber den Rittern hätte sich erst im Laufe Eurer Reise bis hierher entwickelt?“ Oder war das am Ende nur eine Lüge gewesen, um sich ihrer Sympathie zu versichern?
„Versteht mich nicht falsch, aber Eure Geschichte weist einige… nun… Lücken auf. Was ist das, wofür Ihr Vergebung erhofft?“, fragte sie, und ihr Lächeln wurde breiter. „Oder ist es am Ende doch nur das Gold, das Ihr begehrt, und das Euch dazu verleitete, dieses Himmelfahrtskommando anzutreten?“
 

Darghand

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Später erwachte Ulbrun auf einem Lager aus Fellen, ohne sich erinnern zu können, wie er dorthin gelangt war. Der Himmel war so nebelgrau wie immer in den Ebenen, und er konnte kaum sagen, welche Stunde des Tages es wohl gerade war. Er riet auf frühen Nachmittag. Etwas verwirrt und mit dem Eisengeschmack vom Blut im Mund erhob er sich und sah sich um. Eine eigentümliche, bleierne Schwere lag über dem Lager. Wie üblich saßen überall Nordleute herum, doch entweder schwiegen sie oder sprachen gedämpft. Viele holten den Schlaf nach, der ihnen in der letzten Nacht nicht vergönnt gewesen war. Es ging kein Wind, die Stille war fast vollkommen.
Ulbrun ordnete seine Kleidung und lief durch das Lager. Er fand ein Bündel Knäckebrot, und spülte ein paar der Scheiben mit etwas Wasser hinunter. Die Erinnerung an die letzte Nacht hing in ihm fest und drängte sich immer wieder in sein Bewusstsein. In seinem Kopf hallte Thorreids Stimme.
'Wir haben sie umgebracht, Ulbrun. Wir waren das.' Es gelang Ulbrun nicht, die Anklage loszuwerden, zu sehr fühlte er sich selbst schuldig.
'Nein, du nicht, Thorreid. Mein Unwissen hat dieses Unglück heraufbeschworen. Ich hätte es besser wissen müssen.' Er ging weiter, ohne zu wissen wohin, oder von wo er gekommen war. Hier schien nichts eine Richtung zu haben, nichteinmal einen richtigen Ort. Im Nebel sah alles gleich aus, die immergleichen Feuer, dieselben Gepäckstücke, dieselben stillen Menschen. Ulbrun schwindelte, schwankend suchte er Halt an einem Holzfass.

„Ulbrun!“ Er erkannte die Stimme von Tofleif. Der hagere Kräuterkundige kam auf ihn zu, mit versteinerten Zügen und missbilligendem Blick.
„Trink das.“ Seine knorrige Hand reichte Ulbrun einen Holzbecher. Der Inhalt dampfte und roch scheußlich.
„Was ist das?“
„Trink einfach.“
„Was bewirkt es?“
„Was soll es denn bewirken?“ Tofleifs hob die Stimme. „Vergessen? Betäubung? Einen gnädigen Rausch? Einkehr? Besinnung?“
Ulbrun zog eine Grimasse und trank, alles auf einen Zug. Der heiße Kräutersud brannte in Mund, Kehle und Magen. Seine Augen begannen zu Tränen, so scharf war der Trunk, und ihm war, als hätte er einen kräftigen Schlag auf den Schädel gekriegt. Tofleif schien die Reaktion zu belustigen.
„Ich habe nicht gesagt: alles auf einmal.“
Ulbrun schüttelte sich und gab, keuchend und die Hände auf die Knie gestützt, dem Kräuterkundigen den Krug wieder. Ein angenehmes Gefühl von Wachheit, Verstandesschärfe und Gelassenheit breitete sich in ihm aus. Das Brennen wich einer wohligen Wärme.
„Bei allen Geistern, was war denn das?“
„Ich sag dir besser nicht, was drin war. Gebraucht hast du's jedenfalls.“
„So?“
„Ja.“ Tofleifs Gesichtsausdruck zeigte, dass er es ernst meinte.
„Deine Trauer in allen Ehren, aber du wirst heute noch deinen Verstand brauchen. Heute abend findet ein Thing statt.“
„Ein Thing? Wofür?“ fragte Ulbrun, obwohl er sich die Antwort denken konnte.
„Der Treck braucht einen Führer, oder eine Führerin. Es wäre an Thorreid, diese Aufgabe zu übernehmen, aber...“ Tofleif ruderte hilflos mit dem Arm. „Er ist nicht ansprechbar. Für niemanden. Also...“
„Also wird einer ausgewählt.“
„Du weißt, wie das ist. Es wird derjenige, bei dem am lautesten geschrieen und gejohlt wird.“
„Mhmmm.“ Ulbrun raufte sich nachdenklich den Bart. Things wurden auch in den Stämmen abgehalten, was aber selten vorkam. Insbesondere aber dann, wenn sich zwei Rivalen den Häuptlingsposten streitig machten, was regelmäßig in handfesten Raufereien endete. Üblicherweise brachte jeder der Kontrahenten eine ganze Schar von Unterstützern mit, die sich gegenseitig in Rage brachten.
'Genau das fehlt jetzt gerade noch.'
„Wer stellt sich denn der Wahl?“ fragte er.
„Kannst du dir das nicht denken?“ erwiderte Tofleif.
Ulbrun dachte kurz nach.
„Sag es nicht.“ grummelte er. „Ich will diesen Namen nicht hören.“
Tofleif zuckte mit den schmalen Schultern.
„Und noch etwas. Deine Schwester wird... sie wird heute abend verbrannt. Irgendjemand hat das Gerücht verbreitet, dass sie sonst von den Toten aufersteht und so wird wie..., nun, so wie Onolf.“
„Oh, bei meinen Ahnen!“ Ulbrun raufte sich erneut den Bart.
„Daran ist doch nichts Wahres, oder?“
„N-nein. Nein, natürlich nicht.“ sagte der Alte.
'Aber ich weiß es nicht mit Bestimmtheit. Verflucht, was weiß ich überhaupt noch?'


~ Thorreid ~

Die Feuer waren heruntergebrannt, ihr heller Schein verloschen. Thorreid hatte zugesehen, wie die Holzhaufen entzündet worden waren, aber mehr nicht. Er hatte schon mehr als einmal gesehen, wie ein Toter verbrannt wurde. Der Anblick war scheußlich, vom Geruch ganz zu schweigen. Nein, er würde Freja anders in Erinnerung behalten. Lebendig und warm, mit leuchtenden Augen. Es schien ihm, als würden ihm diese Erinnerungen geraubt, hätte er Frejas Verbrennung mit ansehen müssen. Sie hatten ihm sogar angeboten, die Fackel an den Holzhaufen zu legen – diese ehrenvolle Aufgabe fiel sonst stets den nächsten Verwandten zu.
'Ich töte sie noch einmal.' hatte er gedacht und abgelehnt. Da Ulbrun die Zeremonie leitete, war es schließlich Odva gewesen, die den Haufen ansteckte.
Als der alte Seher anfing zu reden, war Thorreid gegangen. Es hatte ihm den Magen umgedreht. Das Herumsalbadern vom Zyklus, und der baldigen Einkehr von Frejas' Geist ins mystische
Urim, wo ihre ehrenhaften Ahnen sie bereits erwarteten. Thorreid hatte sich gewünscht, dass sich die Erde auftut und den Alten verschlingt, damit er nur sein dummes Maul hielt. Es war das Unehrlichste, was Thorreid je in seinem Leben gehört hatte – der Anfang hatte ihm vollauf gereicht, und so hatte er sich den Rest gespart. Der Seher hätte ihm noch nichteinmal versprechen können, dass er, Thorreid, Freja nach dem Ende seines Erdenweilen wieder sieht. Er verachtete ihn dafür.

Unruhig wälzte er sich auf seinem Lager umher und spähte in die Dunkelheit in Richtung des Lagers. Es war inzwischen ganz ruhig geworden, keine Stimmen waren mehr zu hören, nur noch das Knistern der Glut und die Stille der Ebenen. Thorreid fühlte noch einmal in den Rucksack hinein, der unter seinem Kopf lag. Es war alles da: Brot, harter Käse, geschrotetes Getreide, etwas luftgetrocknetes Fleisch, zwei Lederschläuche Wasser, ein Feuerstein, ein Messer. Er zog seine Hand wieder hervor und betrachtete sie im kaum mehr vorhandenen Licht. Es schmerzte, wenn er sie öffnete. Er hätte die Klinge aus der Faust herausziehen sollen, nachdem er sie gepackt und dieser Kreatur entrissen hatte. Stattdessen hatte er dummerweise die Hand geöffnet, was die Wunden noch mehr aufriss. Tofleif hatte ihm eine stinkende Kräuterpaste auf die Wunden geschmiert und sie einbandagiert. Der Kräuterkundige hatte ihn eindringlich vor dem Wundbrand gewarnt und ihn ermahnt, regelmäßig den Verband zu wechseln. Thorreid kümmerte sich nicht darum. Die Wunden brachen immer wieder auf, weil er den Arm nicht ruhig hielt. Und der Wundbrand? Er brauchte seinen Arm nur noch für eine Aufgabe, danach mochte er ruhig abfallen. Danach würde nichts mehr kommen.
Thorreid war sich sicher, dass die Elfe ihren Weg nur nach Norden fortsetzen konnte. Sie waren bereits derart weit in die Ebenen vorgedrungen, dass eine Umkehr in eine der anderen Himmelrichtungen bei derart wenig Proviant der reine Wahnsinn gewesen wäre. Außerdem erinnerte er sich, dass diese absonderliche Gruppe unbedingt nach Norden wollte, mitten hinein in das Gebirge. Den Grund kannte er nicht. Wichtig war nur, dass die Elfe nach Norden würde reiten müssen, um möglichst schnell aus den Ebenen herauszukommen. Und früher oder später würde sie an die Südgrenze des Reiches gelangen und von dort aus westwärts auf das Gebirge zureiten. Nur dort gab es genug Futter für Pferde. Dort würde er auf sie warten. Und dann gäbe es nur noch eines zu tun: die Wahrheit aus der Elfe herausprügeln und sie selbst ihre unselige Klinge kosten lassen. Oder bei dem Versuch in Ehren sterben.
Mochten die anderen, und Ulbrun allen voran, an Zufälle und gute Absichten glauben. Onolf war nur noch Haut und Knochen gewesen. Für jede andere Waffe wäre er zu schwach gewesen, aber diese Rasierklinge von einem Schwert wäre selbst in den Händen eines Kindes tödlich gewesen. Dazu noch die Flucht. Von der Elfe, und dem seltsamen Menschen. Pinja hatte ihm berichtet, dass er die Klinge an sich genommen hatte, bevor er ebenfalls verschwand. Die junge Speerfrau schien ihm die einzige des Trecks zu sein, die noch klar denken konnte und vor dem Offensichtlichen nicht die Augen verschloss. Sie war auch die erste gewesen, die den Ausschluss der übrigen Südlinge aus der Karawane gefordert hatte, und nicht wenige hatten ihr darin zugestimmt. Aber Ulbrun hatte es ihnen ausgeredet. Auf der Reise, und in den Ebenen ganz besonders, lässt man niemanden zurück, hatte er gesagt. Hätten die Südlinge böse Absichten, warum waren sie dann noch hier? Die Gefährten seien von der Flucht der ivuli ebenso überrascht wie das Freie Volk. Dem weiteren Streit zwischen Pinja und Ulbrun war Thorreid kaum noch gefolgt, denn es entwickelte sich zusehends zu einem Wortgefecht zwischen Seher und Speerfrau. Ihn hatte das nur gelangweilt, so wie alle Streitereien zwischen Sehern und Baummenschen oder Geisterhaften oder zwischen Sehern und Grenzläufern. Zumindest ging Pinja nicht als Siegerin aus dem Thing hervor, das eine neue Treckführerin auswählen sollte. Odva, die die beiden Streithähne schließlich zur Ruhe gerufen hatte, konnte mehr Stimmen für sich gewinnen. Ihr lag vor allem daran, den Rest der Reise hinter sich zu bringen, und sie wollte weder Zeit mit der Suche nach der ivuli verschwenden noch die Südlinge in dieser feindseligen Umgebung zurücklassen. Die übrigen Begleiter des Trecks schienen ihr darin zuzustimmen – sie hatten getrauert, waren noch immer fern der Heimat und für Rachegedanken hatten sie nichts übrig. Ein weiterer Punkt, der Thorreid in seiner Absicht bestärkt hatte.

Thorreid rollte sein Fell zusammen und verschnürte es eilig auf dem Rucksack. Eine Weile saß er still im Schatten eines windgebeugten Strauches und wartete lauernd ab. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Zunächst schlich er, bedacht darauf, kein unnötiges Geräusch zu verursachen. Dann ging er schneller, und dann lief er. Seine Beine fühlten sich leicht an, er lief ohne Anstrengung. Ohne Nachdenken und mit traumwandlerischer Sicherheit fand er stets Halt. Fast schien es ihm, als wichen ihm die Pflanzen aus. Ihm war, als könnte er tagelang so weiterlaufen.
'Die Geister geben mir Kraft.' dachte er bei sich. 'Sie geben mir Kraft, sie wissen, dass meine Rache gerecht sein wird.'
 

Alyndur

Zwielichtiger
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Es schien ihm plötzlich, als hätte er schon ebensoviel von seiner Nüchternheit preisgegeben wie von seiner Vorsicht. Noch einen, vielleicht noch zwei Schlucke Wein und meine gesamte Lebensgeschichte wird in roten Perlen von meinen Lippen herabtropfen. Das Gespräch war an einem Punkt angelangt, dessen wahre Gefahr sich ihm erst jetzt offenbarte, nachdem Gleichgültigkeit und Leichtsinn scheinbar ihr Werk getan und ihn zur Preisgabe dieser kleinen Geschichte bewogen hatten.
„Geld?“, warf er rasch ein, bevor er sich überhaupt im Klaren darüber war, was er eigentlich sagen wollte. „Erinnert Ihr Euch nicht mehr daran, was ich Euch zu Beginn unserer Reise sagte? Dass Geld für mich keinen besonderen Wert hätte? Wie ich bereits sagte, Anora, ich habe Euch nicht belogen. Falls uns dieser kleine Auftrag zusammen gelingen sollte, überlasse ich Euch gerne jede Münze, die man uns dafür geben wird...“ Er lächelte nervös und machte eine einhaltende Geste. „Oder sagen wir die meisten. Ich nehme so viel, wie ich für ein Leben in Freiheit brauche. Das ist es, wonach ich strebe, nach Freiheit! Nach Freiheit, zu entscheiden, wie ich lebe und wo ich lebe. Hier liegt die Wurzel meines Hasses auf die Ritter der Roten Drachen. Ich erzählte Euch bereits, dass ich in der Stadt Númar aufgewachsen bin. Númar liegt, wie Ihr vielleicht wisst, im Herrschaftsgebiet jenes Ordens. Schon damals verstand er es, sich viele Feinde zu schaffen. So viele, dass es nicht schwer war, mit ihnen in Verbindung zu geraten, auch wenn man es gar nicht darauf anlegte. Das ist es, was mir widerfuhr. Ich selbst hatte keinen Grund, die Ritter zu hassen, und dennoch gelang es mir, in einen Vorfall verwickelt zu werden, bei dem ein bedeutendes Mitglied des Ordens zu Tode kam. Ich denke, ich muss Euch nicht erst erzählen, was das für meinen Verbleib bedeutete. Ihr müsst bedenken, der Hochmeister der Roten Drachen agierte zu jener Zeit noch als Regent von Sin’Arcus. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Reich zu verlassen und meinen Namen abzulegen. Erst, nachdem ich erfuhr, dass ein anderer Orden im Reich die Zügel der Macht in die Hände genommen hatte, wagte ich mich als Fremder wieder in die größeren Orte von Sin’Arcus zurück - doch nicht nach Númar, denn meine Heimat beherrschen sie noch immer.“ Hier legte er zum ersten Mal eine längere Pause ein, ohne dass es einer künstlichen Verstellung bedurfte.
„Sie ist verloren für mich. Sie ist verloren für den Jungen, der dort lernte, wie nasser Wind schmeckt und wie rasch sich der Himmel verdunkelt, wenn er die Wolken von den Seen her über die Hügel und Wälder treibt, in denen sein Vater versuchte, ihm das Jagen beizubringen. Und sie wird verloren sein für den alten Mann, dessen Wunsch es sein wird, seinen letzten Lebenshauch über die alten Gefilde wehen zu lassen. San’Guis ist gleichsam der Gott der Ritter der Roten Drachen wie auch der der Grünen. Beide halten an dem Glauben fest, er allein trage das Gericht über alle Fehler und Verbrechen, die in seinem Angesicht begangen wurden. Ihr fanatischer Glaube könnte meine Errettung sein, wenn ich es schaffen sollte, einen seiner beiden irdischen Statthalter - einen der Hochmeister der beiden Orden - davon zu überzeugen, dass ich meine Verfehlung gesühnt hätte. Erteilt mir einer der beiden die Absolution, so hätten auch alle anderen Diener San’Guis’ keine andere Wahl, als meine Schuld als getilgt anzusehen. Als ich von Sir Cerriks Not hörte, regte sich in mir eine längst erloschene Hoffnung.“
Die Worte waren einfach so wie von selbst gekommen, ohne dass Alyndur sich dazu hätte überwinden müssen, sie auszusprechen, und ohne dass er es bewusst darauf angelegt hätte, das Mitleid seiner Begleiterin zu erregen. Es war die einfache Wahrheit, zwar bei weitem noch nicht die ganze, doch das, was er gesprochen hatte, schien einen mehr oder weniger in sich schlüssigen Kreis zu bilden. Als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte, erkannte er auch, warum er diesen Teil seiner Geschichte so bereitwillig preisgegeben hatte.
„Ich weiß nicht, ob es Euch bei all Euren Reisen und Abenteuern jemals vergönnt war, den Wert einer festen Heimat kennen zu lernen, doch mir war es vergönnt. Das ist der wahre Grund, weshalb ich Eure Aufgabe zu der meinen gemacht habe.“ Ihm war, als hätte er schon viel zu lange ohne die Wahrheit gelebt. Ehe die Vorsicht eingreifen konnte, sah er sich schon die Feldflasche heben und Anora zuprosten. „Auf das Söldnerleben, mit all seinen Vorzügen, doch auch mit seinen Schattenseiten. Denn mein Lohn ist kein geringerer als meine Heimat!“
 

Anora

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„Eure Heimat…“ Unruhig trommelten Anoras Finger ihrer unverletzten Rechten auf ihrem Oberschenkel auf und ab. Die Elfe lachte nervös, dann fiel sie in ein betretenes Schweigen.
Irgendwann an diesem Abend war das Gespräch unbemerkt in eine Stimmung abgerutscht, die ihr nicht besonders behagte. Alyndur hatte ihr viel von seiner Geschichte preisgegeben – mehr als er wahrscheinlich selbst beabsichtigt hatte – und in solch einer Situation fielen ihr nur selten die passenden Worte ein. Man konnte über sie sagen was man wollte, aber Einfühlsamkeit gehörte nun wahrlich nicht zu ihren Stärken.
Verlegen wendete sie den Blick ab und betrachtete den Horizont, hinter dem die fahle Sonne bereits beinahe vollends verschwunden war. Normalerweise rettete sie sich aus Momenten wie diesen, indem sie auf Abstand ging – sowohl körperlich als auch geistig. Hier und jetzt jedoch, da sie nur noch zu zweit reisten und ihr verletzter Körper sie kaum zu tragen fähig war, war ihr diese Flucht nicht vergönnt.
Gerne hätte sie den Waldläufer jedoch noch genauer zu jenem Vorfall befragt, für den er sich von den Rittern Absolution erhoffte, doch sie glaubte zu wissen dass sie darauf keine hinreichende Antwort erhalten würde. Wenn Alyndur mehr darüber hätte erzählen wollen, hätte er dies bereits getan.
Die Elfe schluckte schwer, dann wagte sie sich schließlich an einen Versuch, die unangenehme Stille zu durchbrechen:

„Ich habe keine Heimat mehr, zu der ich zurückkehren könnte, aber ich muss und ich werde diesen Auftrag ausführen. Und wenn Euch so viel an Eurer Vergebung liegt, dann… Kommt mit mir, und gemeinsam werden wir erfolgreich nach Elyndorr zurückkehren. Daran solltet Ihr keinen Zweifel haben! Dann werdet Ihr Eure Absolution erhalten und könnt endlich in Eure Heimat zurückkehren.“
Und dann würden sie beide ihre Freiheit wiedererlangen – Jeder auf seine Weise.
Anora würde ihren Frieden finden, wenn die Last, die Verantwortung über Leben und Tod ihrer Freunde zu tragen, nicht mehr auf ihr lag.
Die Elfe lächelte halbherzig.
Was danach kam stand in den Sternen.

„Aber wo wir gerade schon dabei sind, Geheimnisse auszutauschen, wollt Ihr mir dann nicht auch gleich noch verraten, wie Ihr zu Eurem neuen… Haarschnitt gekommen seid?“
Sie bemühte sich um einen betont beiläufigen und belustigten Tonfall, wollte sich wieder in jene Albernheiten zurückretten, in denen sie sich sicher fühlte.
„Ach, und bevor ich es vergesse…“ Nun breitete sich wahrhaftig ein schelmisches Grinsen auf ihren Zügen aus. „Ich werde Euch in Elyndorr an Euer Versprechen wegen der Belohnung erinnern, verlasst Euch drauf!“
 

Nebressyl

Knuddeliger Incubus
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Weitere Tage vergingen ohne besondere Vorkommnisse und Aûna'yir wurde langsam unruhig. Sie befanden sich immer noch in den Ebenen doch näherten Sie sich zunehmend der Heimat des Nordvolkes. Aber auch dies gab ihm keine Zuversicht. Die Verstorbene besass ohne Zweifel den Respekt und das Wohlwollen ihres Stammes. Wie würde man dort ihr Ableben aufnehmen - und wie würde man vor allem den verbliebenen Gefährten der Karawane entgegnen?
Auch vermisste er seit geraumer Zeit den Nordmann, der der Karawanenführerin stets zur Seite stand. Der Hüne ahnte nichts Gutes. Hatte der Wahnsinn seinen Verstand bezwungen und seine Wut die Oberhand gewonnen? So fürchtete er, trotz aller Erfahrung, um Anoras Wohlergehen - und auch das des Waldläufers, der sich auf den Weg gemacht hat ihr zu helfen. Bisher hatten sie keine Kunde von dem Verbleib der beiden Gefährten erlangt. Ganz zu schweigen ob es dem Menschen gelungen ist die Elfe zu finden. Düstere Gedanken umfingen ihn und sämtliche Möglichkeiten spielten sich während der Reise vor seinem geistigen Auge ab.

Rhaynin bemerkte seine Nachdenklichkeit. Doch wagte sie nicht ihn zu fragen. Zur Zeit empfand sie nur Hilflosigkeit und noch viel stärker die Einsamkeit. Es wurde nur das Nötigste gesprochen und die gesamte Stimmung war bedrückend für die lebhafte junge Frau. So viel Stille und Verschwiegenheit war nicht ihre Art und belastete ihr Gemüt aufs äusserste. Doch über all dies bemerkte sie nicht, dass Ihr Gefährte sie immer wieder mit seinem Blick fixierte.
Aûna'yir hatte in seinem vergangenen Leben selten Begleitung und die Stille innerhalb der Reisegruppe macht ihm daher weniger zu schaffen. Jedoch die Hintergründe sorgten ihn um so mehr - und das Wohlergehen der Geweihten ganz besonders. Er fühlte den Drang zu handeln - alleine schon wegen ihrer beider Auftrag. Und so kam es, dass er bei der nächsten Rast Ulbruns Nähe aufsuchte und sich unaufgefordert neber ihn an ein Feuer setzte. Ohne zu zögern sprach er den Nordmann direkt an.


"Ich mache mir Sorgen! Die Geschehnisse gefährden den Erfolg unseres Unterfangens. Ich befürchte euer Volk bei unserer Ankunft in keiner Weise wohlgesonnen begegnen - schien eure Schwester eine Person mit hohem Ansehen und Respekt in eurem Volk zu sein. Ich fürchte um unser aller Wohlergehen! Es ist euer Volk und ihr kennt die Bräuche und Sitten wohl besser als jeder andere von uns. Wie seht ihr das weiser Mann? Schweben wir in Gefahr - oder besteht noch Grund zur Hoffnung?"
Seine Augen suchten forschend in den überraschten Augen des Sehers nach einer Information, die ihm zu einer Entscheidung helfen könnte.
 

Morgan

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Als Ghomer so hinter den im Gespräch Versunkenen herschlich, viel ihm immer wieder ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern auf...sollten die Beiden doch reden wie sie wollten oder die Ebene durchqueren wie es ihnen beliebt...die konnten schon auf sich aufpassen, doch dieses Gefühl...es war dringlich und musste beachtet werden. Also machte Ghomer sich auf den Weg und verließ Anora und Ihren Begleiter wieder um sich seinen, für Menschen verworrenen Sinnen zu widmen. Auf der Spinne reitend packte er seinen geheiligten Speer fester und wappnete sich gegen das was ihn wohl erwarten möge.


Bisu und Maron zogen ohne viel Worte mit der Karawane weiter und unterhielten sich nur des Abends am Feuer in leisen Worten. Seit dem Vorfall war die Stimmung getrübt und unsicher. Wie würde es wohl bei den Nordleuten sein? Wie würden Sie die Freunde aufnehmen? Es war wichtig die warmen Fellkleider dieser kälteresistenten Menschen zu erwerben, denn nur so hatten sie in den Adlerbergen eine Chance zu überleben.
 

Alyndur

Zwielichtiger
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Alyndur zog aus jäher Belustigung die Brauen empor und schenkte seiner Reisegenossin wiederum ein herzliches Lachen, derer es an diesem Abend so viele zu geben schien wie während der gesamten Zeit ihrer Reise noch nicht. Es tat gut und war ein erfrischender Anblick, die Elfe dort wie verjüngt grinsen, witzeln und mit ihm lachen zu sehen, als hätte sie gerade erst entdeckt, dass sie dazu fähig war. Und doch erfüllte es ihn im gleichen Zuge auf eine gewisse wohlbekannte Art mit einer unbeschreiblichen Wehmut. Es war wie etwas Schönes, etwas Heilsames, das man in einem unvergänglichen Augenblick zu genießen schien... und doch erlebte man es nur mit der unterschwelligen Gewissheit, dass es nicht von Dauer sein würde. Wie der Untergang der Sonne. Wie die Ruhe vor dem Sturm. Wie so vieles andere.
„Meine Liebe, ich kenne da ein altbewährtes Sprichwort:
Wer viel fordert, muss auch viel zu geben bereit sein. Ihr pflegt eine wahrlich interessante Vorstellung davon, wie ein Austausch von Geheimnissen vonstatten gehen sollte, meint Ihr nicht auch? Dass Ihr für die Rettung Eurer Freunde arbeitet, das hattet Ihr schon einmal erwähnt und dass Euch weder Heim noch Herd erwartet, wenn Ihr zurückkehren solltet... auch dafür gab es schon einige Anzeichen, denke ich.“ Dann nickte er beschwichtigend. „Aber nun gut, dieses eine will ich Euch vorerst noch gewähren. Wie Ihr offenbar am eigenen Leibe erfahren durftet, kann einen der Einfluss dieses Landes zu Taten veranlassen, von denen ein jeder bei klarem Verstand abließe. Nicht alle davon scheinen unmittelbare Gefahr mit sich zu führen.“ Dies... ist vermutlich weniger dramatisch als der Mord an einer Stammesschwester, doch selbst dieser kleinen Geste liegt eine größere Bedeutung zugrunde.“ Alyndur fühlte mit der Zunge den Mund ab, der trotz des kürzlich getrunkenen Weines unangenehm trocken war. „Ihr müsst wissen, dass ich meine Haare erst auf jene Länge kommen ließ, die Ihr zuerst an mir erblicktet, als ich zum Gesetzlosen wurde und auch meinen Namen ablegte. Wie es dazu kam, wisst Ihr bereits.“ Unwillkürlich bewegte er die Rechte zu seinen Haaren, die nun in ungewohnter Kürze kaum mehr über seine Stirn hinausragten. „Für mich hat es den Wert einer Erinnerung. Einer Erinnerung an eine Zeit, die ich nun wieder mit meiner Hand berühren kann, wie einen lange verlorenen Traum... oder als wäre sie erneut Gegenwart.“ Daraufhin brach er prompt ab. „Das ist die letzte Antwort, die Ihr heute bekommen werdet, wenn Ihr Euch weiterhin den Schein gebt, als wäre jedes Eurer eigenen Geheimnisse in den Nebeln dieser Wüste verlorenen gegangen.“ Alyndur versuchte sich nochmals an einem Grinsen, um die Worte abzudämpfen, die wohl etwas härter klingen mussten, als wirklich beabsichtigt, doch alles, was ihm gelingen wollte, war ein langes Gähnen. „Wenn ich nicht bald für ein paar Stunden die Augen schließe, so fürchte ich, dass Ihr mich bald so versorgen müsst, wie ich Euch bisher. Vielleicht sollten wir uns wirklich ein wenig Erholung gönnen, hmm? Euer Körper ist noch schwach und bedarf noch mehr des Schlafes als der meine.“ Und glaubt mir, je weniger Antworten Ihr heute noch erhaltet, desto leichter wird er Euch zufallen.
Es fehlte nicht viel und er hätte die Worte laut ausgesprochen.
 

Anora

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„Ihr habt Recht!“, stimmte Anora ohne Umschweife zu. Tatsächlich hatte sich die Sonne bereits vor einiger Zeit hinter dem Horizont zurückgezogen und die Ebenen der Dunkelheit überlassen. Doch das war nicht der einzige Grund, weshalb sie auf gewisse Weise erleichtert war, diese Unterhaltung nun auf dem von dem Waldläufer angebotenen Weg beenden zu können. Der Verlauf dieses an sich scherzhaft ausgelegten Gesprächs war für ihren Geschmack zu ernst geworden, auch wenn dies vielleicht nicht allzu offensichtlich sein mochte. Alyndur und sein Wein waren recht geschickt darin, ihre Zunge zu lockern, und es gab einige Dinge, die sie lieber für sich behalten wollte.
‚Nur zu, erkläre ihm doch noch einmal, wieso das Blut deines Vaters an deinen Händen klebt!’, spottete Elmay’rath. ‚Und wenn du gerade schon dabei bist, wieso erzählst du ihm dann nicht auch gleich noch davon, dass seine Stimme in deinem Kopf zu dir spricht? Ich wäre sehr interessiert daran zu erfahren, was er *dann* von dir halten würde!’
‚Wahrscheinlich würde er denken ich sei wahnsinnig.’, vermutete Anora. Und sie hatte ihre Zweifel daran, dass dies allzu weit von der Wahrheit entfernt lag.
„Es ist schon spät. Ihr solltet Euch schlafen legen! Ich übernehme die erste Wache.“ Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie in diesem Punkt keinen Widerspruch dulden würde. Das war nur gerecht, hatte Alyndur doch lange Zeit über sie gewacht, als sie ihr Bewusstsein verloren hatte. Dies und der Gedanke daran, dass er ihre Wunden versorgt hatte, während sie schlief, waren ihr auf eine gewisse Art unangenehm. Schnell verdrängte sie diese Bilder wieder aus ihrem Kopf.
Mit zusammengebissenen Zähnen richtete sie sich etwas weiter auf, bis sie eine recht unbequeme Position eingenommen hatte, die verhindern sollte, dass sie vorzeitig einschlief. Allzu schwer sollte ihr das jedoch sowieso nicht fallen. Während der Unterhaltung – Und vermutlich war auch der starke Wein nicht ganz unschuldig daran! – hatte sie ihre Verletzungen beinahe vergessen, doch nun wurden sie ihr wieder schlagartig ins Gedächtnis gerufen. Bei jeder Bewegung sandten die tiefen Wunden, die die Klauen der seltsamen Kreatur in das Fleisch ihrer Schulter gerissen hatten, Wogen des Feuers durch ihren Körper. Wahrscheinlich wäre es gut gewesen, den Verband zu wechseln, da er bereits vom Blut durchtränkt war, doch sie hatten nur wenig entsprechendes Material in ihrem Gepäck und Anora wollte nichts unnötig verschwenden – Wer konnte schon sagen wozu sie es noch gebrauchen würden? Sie konnte daher nur darauf hoffen, dass ihre an sich recht starke Widerstandsfähigkeit sie auch diesmal nicht im Stich lassen würde und sich die Wunden nicht entzündeten. Denn wenn doch… Nun, diesen Gedanken wollte sie jetzt lieber nicht zu Ende bringen. Sehnlich wünschte sich die Elfe auch ein Bad nehmen zu können – Nicht nur, um die Verletzungen zu reinigen, sondern vor allem weil sie es gar nicht mehr erwarten konnte den modrigen Geruch, den die Lebenssäfte der Kreatur verströmten und der an ihr haftete wie eine Klette, endlich loszuwerden. Doch von einem See oder Bach oder auch nur einem Rinnsal war in dieser Gegend weit und breit keine Spur. Sie würde sich wohl auch in dieser Sache noch etwas länger in Geduld üben müssen.

Später an diesem Abend, als Alyndur bereits eine Weile schlief, nahm Anora jenes schicksalsträchtige Schwert zur Hand, das ihre Reise mit dunklen Schatten überzogen hatte. Das filigran gearbeitete Langschwert war sehr leicht und gut ausbalanciert. Sie schätzte diese Waffe, die Balan ihr einst geschenkt hatte, sehr, und oft genug hatte sie dieser ihr Leben zu verdanken. Die Kälte, die die Klinge abgab, drang langsam durch den Verband ihrer linken Hand und war wie Balsam für ihre verbrannte Haut. Sie hatte die eisige Kühle nie als unangenehm empfunden. Doch wie mochte es wohl für Freja gewesen sein, als sie durch diese Klinge den Tod fand? Durch ihre Klinge…

„Aber nicht durch meine Hand, nicht durch meinen Willen!“, murmelte sie leise. Das machte für sie einen wesentlichen Unterschied. Sie selbst gab sich keine Schuld an dem Tod der Karawanenführerin. Dennoch kehrten ihre Gedanken immer wieder zu ihr zurück. Und zu Ulbrun. Würde auch er ihr die Schuld für Frejas Tod zuweisen, wie es laut Alyndur nicht wenige der Nordleute taten? Sie hatte Ulbrun als einen sehr klugen und weisen Mann kennen gelernt – Doch Freja war seine Schwester gewesen, und solch eine Bindung stand manchmal über jeder Klugheit und Weisheit. Anora seufzte leise. Sie schätzte den Seher sehr, wahrscheinlich mehr als sie es sich selbst eingestehen wollte, und der Gedanke daran, dass sie seine… Freundschaft… vielleicht war das zu viel… oder auch nur seine Achtung verloren haben könnte, stimmte sie traurig.
‚Wahrscheinlich wirst du ihn sowieso nie wieder sehen!’, mischte sich ihr Vater in ihre Gedankengänge ein. ‚Euer Weg hat sich getrennt, und du kannst nicht mehr zurück!’ Worte, die wie Trost klangen, wurden durch den beißenden Hohn in seiner Stimme zu purem Gift. Die Elfe verzog verdrossen das Gesicht, dann legte sie das Schwert wieder beiseite. Manchmal war es besser, über derlei Dinge nicht weiter nachzudenken.
Ungeachtet der drohenden Gefahr, sie könne einschlafen, ließ sie sich in ihr Lager zurücksinken. Über ihr breitete sich ein atemberaubend schöner Sternenhimmel aus, wie man ihn sonst nur selten zu Gesicht bekam. Die Nacht war klar und kalt, keine Wolke versperrte die Sicht in das Himmelszelt. Der Anblick von abertausenden, leuchtenden Sternen, die auf sie hinabstrahlten wie funkelnde Edelsteine, erfüllte Anora mit einer Erfurcht wie sie sie sonst selten empfand.

‚Dass sich solch eine Schönheit nur in einem trostlosen Land wie diesem zeigt…’
Während die Gestirne vor ihren Augen tanzten, kam ihr Geist endlich zur Ruhe. Die Sterne schienen noch lange auf sie herab, als sie schon längst eingeschlafen war. Nichts störte sie in dieser Nacht und ihnen war ein langer und ruhiger Schlaf vergönnt. Fast schien es, als hätten die Ebenen des Schweigens letztendlich ihre Niederlage akzeptiert – Ein Gedanke, der Anoras hellste Freude geweckt hätte!
 

Darghand

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~ Harmund ~

Der Junge hatte nicht überrascht gewirkt, als sich Harmund ihm von hinten und rufend genähert hatte. Vielmehr hatte er ihn angeblickt, als hätte er die ganze Zeit über mit der Rückkehr des Grenzläufers gerechnet. Er war stehengeblieben, hatte Harmund kurz angelächelt und dann seinen Weg fortgesetzt.
Es regnete zwar nicht mehr, doch der Waldboden war noch immer nass wie ein Schwamm, und noch immer strömte dreckig braunes Wasser in schmalen Rinnsalen die schlammigen Hänge hinunter. Harmund bemerkte, dass sich Vegetation und Untergrund langsam änderten. Sie ließen die labyrinthartigen kleinen Schluchten und steilen Hänge hinter sich, Bäume und Sträucher standen hier lichter und wuchsen höher. Vereinzelt ragten Türme aus Sandstein empor, wie von Riesen in die Erde gerammte Faustkeile. Als es zu nieseln begann, suchten sie Schutz unter einem Felsvorsprung. Dort verriet ihm der Junge seinen Namen. Er hieß Ole. Zu mehr kam er nicht, denn als er sich niederließ, den Rücken die trockene Felswand gelehnt, schlief er fast augenblicklich ein. Seine nackten Füße waren wund gelaufen und von der Kälte blau angelaufen. Harmund deckte den Jungen mit seinem Bärenfell zu, unter dem er fast vollständig verschwand, und ließ ihm seine Ruhe. Er versuchte, ein Feuer zu entfachen, aber es gelang ihm nicht. Alles Holz, das er fand, war zu feucht.
Als Ole erwachte, konnte er nichteinmal mehr stehen, zu sehr schmerzten seine Füße. Harmund band sich Rucksack und Köcher vor den Bauch, nahm den Bogen in die Linke und lud sich den Jungen auf den Rücken. Von nun an trug er ihn, mal auf dem Rücken, mal auf den Schultern.
Gen Abend erreichten sie ein Moor. Statt Buchen wuchsen hier nur noch ein paar dünne Birken. Der Boden wurde zunehmend sumpfig und Harmund musste genau darauf achten, wohin er seine Füße setzte. Er roch Rauch, und bald darauf sah er das Dorf, das halb im Wald versteckt, halb im offenen Moor stand.
Es bestand nur aus vier Langhäusern, und nicht einmal besonders großen. Eine nahezu runde Palisade aus angespitzten, schiefstehenden Pfählen umgab die kleine Siedlung und erinnerte daran, dass die nördliche Wildnis auch zahlreiche ungebetene Gäste beherbergte – von Bären und Wölfen über Wüteriche, Grubenkobolde und Irrlichter bis hin zu Birkentrollen. Rundherum lagen Felder im Moor, auf denen kürzlich Buchweizen abgebrannt worden war. Etwas weiter abseits erkannte Harmund die geraden, gleichmäßigen Schnittkanten einer Torfgrube.
Die Hütten waren ebenso schief wie die Palisade, aus grob behauenen Holzbalken und mit dicken Grassoden gedeckt, in denen sich Schichten von Herbstlaub abgelagert hatten. Einige Dächer sahen aus, als seien sie zusammengesackt. Über einen Kamin verfügte keines von ihnen, der Rauch quoll aus Löchern, die sich mittig im Dachfirst befanden. Im Schlamm zwischen den Häusern standen ein paar nasse Ziegen und fraßen Heu. In der Mitte des Dorfes schließlich ragte der Thingpfahl in die Höhe, so etwas wie das Stammestotem. Meist war das betreffende Tier in das Holz hineingeschnitzt, aber Harmund konnte nicht erkennen, welches es war. Der dicke Stamm war über und über mit Moosen und Flechten bewachsen, sogar eine junge Birke hatte in einer Furche Halt gefunden.
'Seltsam' dachte Harmund. 'Der Thingpfahl wird als Dorfheiligtum sonst immer stets gepflegt.'
Der Junge auf seinem Rücken erwachte. Als er die Häuser vor ihm erkannte, rutschte er von Harmund herunter und lief, nach seiner Mutter rufend, auf die Öffnung in der Palisade zu. Die wundgelaufenen Füße schien Ole völlig vergessen zu haben. In den Hütten regten sich Stimmen, bald darauf sah Harmund vier Gestalten mit Sauzähnen in der Hand, einer Art lang aufgestielter Sicheln, die zum Torfstechen verwendet wurden.
„Du da!“ rief ihm ein Mann mit blondem Bart zu. „Komm her!“
Harmund tat wie ihm geheißen. Beim Näherkommen fiel ihm auf, wie schmutzig die Kleidung des Blonden war.
„Wie heißt du?“
„Harmund.“
„Und weiter?“ Für gewöhnlich nannte das Freie Volk stets den Stamm, wenn nach dem Namen gefragt wurde.
„Gar nicht weiter.“ sagte Harmund und hielt dem argwöhnischen Blick des Mannes stand.
„Ein Verbannter also.“
„Ein Grenzläufer.“
„Als wär das was andres.“ Der Blonde zog die Nase hoch.
„Wieso bringst du den Jungen her?“ fragte er dann.
„Ich hab ihn gefunden.“
„Wo?“
„Frag ihn doch selbst.“
„Ich frage aber dich.“
„Und ich antworte dir: ich hab ihn gefunden. Mehr wirst du von mir nicht hören, eure Händel müsst ihr schon unter euch abmachen.“
„Ach, so ist das.“
„Ja.“
„Ihr Grenzläufer seid ein seltsames Pack. Mit nichts was zu tun haben wollen, was?“
„So sagt man.“
„Und wer sagt mir, dass ihr ihn nicht hattet, Grenzläufer? Weiß doch jeder, was sich so in euren Reihen rumtreibt.“
Der Vorwurf traf Harmund, und eine ungekannte Wut stieg in ihm hoch. Unwillkürlich wanderte seine Hand zum Griff seiner Axt.
Aus einer der Hütten kam eine in fleckiges Leinen gekleidete Frau.
„Bjarne!“ rief sie. Der Blonde drehte sich um.
„Was willst du denn, Leki? Scher dich ins Haus zurück!“
„Soll dich das Moor verschlingen, Bjarne! Ankas Junge ist wieder da, und der da“ sie zeigte dabei mit ihrem rosigen Zeigefinger auf Harmund. „hat ihn hergebracht! Und du, du stehst hier rum, und erzählst nur dummes Zeug, dass deine Ahnen in ihrn Gräbern heulen!“
Bjarne öffnete den Mund, aber Leki ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.
„Wag es nicht! Noch bin ich hier die Hausherrin!“ Demonstrativ wedelte sie mit der Miniatur eines Kruges herum, die sie an einem Band um den Hals trug. „Schämen solltest du dich! Nicht für einen Scheffel Korn noch Gastfreundschaft im Leib!“
„Und du“ wandte sie sich an Harmund, der etwas ratlos die Szene beobachtete. „Komm her. Wenn's schon sonst keiner tut, dann sag's ich halt: bleib unter meinem Dach. Sei willkommen im Dorf. Die alten Sitten scheinen hier ja sonst alle vergessen zu haben.“
Sie funkelte noch einmal angriffslustig in die Runde und stolzierte dann auf ihre Hütte zu.
„Nun komm!“ rief sie, als Harmund ihr nicht gleich folgte. „Es dämmert, und im Dunkeln steht man hier besser nicht allein draußen rum. Und Bjarne hat genug vom Graupeneintopf übrig gelassen.“

Harmund folgte ihr ins Haus hinein. Drinnen begrüßten ihn johlend drei Kinder. Aufgeregt rannten sie um ihn herum. Er schätzte sie auf drei bis sieben Winter. Allesamt hatten sie mittellange blonde Haare und waren gleichermaßen schmutzig, so dass es Harmund schwer fiel zu sagen, welches nun ein Junge und welches ein Mädchen sei. Im Halbdunkel einer an der Seite liegenden Schlafkojen entdeckte er das Gesicht einer Greisin, die, unter Schichten von Wolldecken begraben, leise schnarchte. In der Mitte des Raumes befand sich eine ummauerte, offene Feuerstelle und darüber der Rauchabzug.
Leki scheuchte die Kinder in ihre Kojen und kam bald darauf mit einer Holzschüssel Eintopf wieder, der aus Graupen, Mohrrüben und Steckrüben bestand. Erst jetzt bemerkte Harmund wie hungrig er war. Wortlos schlang er die Schüssel hinunter und verlangte Nachschlag.
„Danke“ sagte er, nachdem auch die zweite Schüssel geleert war. „Das war... sehr gut.“
„Nichts besonderes.“ erwiderte Leki, und strich sich eine widerspenstige blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. „Das gibt’s hier fast jeden Tag. Manchmal mit Fleisch, wenn Bjarne mal was nach Hause bringt.“
„Dein Mann ist ein Jäger?“
„Er ist nicht mein Mann.“
„Nicht?“
„Mein Mann ist tot, besoffen ins Moor gelaufen und nicht wiedergekommen. Bjarne glaubt, er könnt' hier seine Stelle einnehmen. Aber die Wahrheit ist, er hat bei seinem Bruder und dessen Frau gelebt, und die haben ihn rausgeschmissen. Er ist ein Nichtsnutz, den man zur Arbeit prügeln muss. Und seine Jagdkünste... Kaninchen kann er fangen, wenn er Schlingen legt! Was soll's, ich hab drei Kinder, ich kann hier nicht alles alleine machen.“
Harmund wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Also schwiegen sie. Im Licht der Öllampen und Kerzen sah Leki jünger aus, als sie vermutlich war. Harmund schätzte sie auf Mitte dreißig, sie bekam Falten um Augen und Mund, aber sie hatte noch nicht diesen verbitterten Gesichtsausdruck, den viele alte Dorffrauen irgendwann bekamen.
„Du kannst hier heute Nacht schlafen.“ sagte Leki. „Da, hinten in der Ecke, ist noch 'ne Koje. Ich muss nur ein bisschen Zeug da rausschaffen.“
„Danke. Schlaf kann ich gebrauchen.“
„Das glaub ich dir. Also, ich muss hier noch was tun, die Kinder schlafen noch nicht. Leg dich einfach hinten hin, dein Gepäck auch.“
„Soll ich... soll ich helfen? Bei irgendwas?“
Leki sah ihn belustigt an.
„Kannst du Geschichten erzählen, zum Einschlafen?“
„Ich weiß nur blutige Geschichten.“
Sie schüttelte den Kopf, worauf sich die Haarsträhne wieder selbstständig machte.
„Nee. Dann räum hier auf. Das Holzgeschirr da auf'n Haufen, das Spielzeug in die Kiste. Wirst dich schon zurecht finden. Und leg nochmal Holz nach.“
'Ohne Zweifel,' dachte Harmund. 'Sie weiß, wie man Männer herumschickt.'

Später räumte er einiges Gerümpel aus der Nische, die Leki ihm zugewiesen hatte. Auf dem mit Bohlen ausgelegten Podest stapelten sich kaputte Werkzeuge, zerschlagene Krüge, Heu und schmutzige Laken. Harmund schob alles beiseite und breitete sein Bärenfell aus. Er strecke sich lang aus und merkte, wie die Müdigkeit seinen Geist übermannte.
„Ich bring dir Decken, Grenzläufer.“ Lekis Stimme weckte ihn aus dem Dämmerschlaf. Im schwachen Schein der heruntergebrannten Glut erkannte er sie kaum noch. Sie hielt eine gefaltete Decke hinter den verschränkten Armen, und als sie sie ihm reichte, erkannte Harmund, dass sie nackt war. Wortlos stieg sie zu ihm in die Koje. Große weiße Brüste und ihr Geruch von saurer Milch und fettiger Schafswolle begrüßten ihn, drangen auf ihn ein. Harmund spürte, wie sich zwischen seinen Beinen etwas regte. Er griff nach ihr – sie war warm und weich – und zog sie zu sich heran. Ihr Mund fand seinen, gemeinsam ließen sie sich fallen.
 

Anora

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~ Ira ~

Sie waren in der kurzen Zeit, die sie bisher unterwegs waren, bereits um ein beträchtliches Stück vorangekommen.
In einer kleinen Ansiedlung nicht allzu weit von ihrem Heim entfernt hatten sie die wenigen Tiere, die Echil auf seinem Hof gehalten hatte und um die sich nun niemand mehr kümmern konnte, gegen Reiseproviant eingetauscht und weiterhin zwei gute Reitpferde erstanden. Den alten Klepper hatten sie behalten – Er diente ihnen als Packpferd, denn den Karren hatten sie nicht mitgenommen. Echil drängte zur Eile.
Seither hatte der Elf sie unermüdlich vorangetrieben. Er gönnte den Pferden nur die notwendigsten Pausen, und als ihre Leistung langsam nachließ, tauschte er sie auf einem Gehöft gegen frische Tiere aus. Sie selbst mieteten für die Nacht stets ein Zimmer in einem der zahlreichen, immer überfüllten und entsprechend überteuerten Gasthäuser entlang der Haupthandelsstraße, die über Elyndorr nach Arxana führte. Sie hätten auch wie so manch andere Reisende im Freien übernachten können, doch Echil lehnte diese Möglichkeit von Grund auf ab. Er betonte immer wieder, dass sie so schnell wie möglich voran kommen mussten und dass daher eine erholsame Nacht in einem richtigen Bett ein Luxus war, den zu bezahlen er gerne bereit war.

„Die Welt wartet nicht auf uns!“, hatte er zu ihr gesagt. „Wir haben bereits viel zu viel Zeit untätig verstreichen lassen. Wenn wir in Arxana angekommen sind, kannst du dich ausruhen.“
Ira ließ sich nichts anmerken, doch die Reise verlangte ihr einiges ab. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals in ihrem Leben so lange auf einem Pferd gesessen zu haben. Ihr Gesäß war bereits nach zwei Tagen im Sattel aufgerieben und schmerzte seither beständig. Und auch der Rest ihres Körpers fand sich nur langsam mit der ungewohnten Belastung zurecht, und wenn sie abends vom Pferderücken stieg, konnte sie kaum noch laufen. Vermutlich erging es auch Echil nicht anders, denn er verzog jedes Mal das Gesicht zu einer unschönen Grimasse, wann immer er sich wieder in den Sattel setze, doch er beschwerte sich niemals. Seine Entschlossenheit, sein Ziel schnellstmöglich zu erreichen, war offenbar größer als jeder Schmerz. Nur ein einziges Mal, als sie nach einer Pause gerade wieder aufstiegen, kamen ihm Worte über die Lippen, die ihn verrieten: „Bei den Göttern, was nützen einem all die Lehren der hohen Schule der Magie, wenn man letztendlich doch auf diese altmodische Art der Fortbewegung angewiesen ist!“
Tatsächlich hätte der Elf einen Teleportzauber wirken können, der ihnen die Reise ein wenig erleichtert hätte. Bisher hatten sie davon jedoch keinen Gebrauch gemacht, denn die Anwendung dieser mächtigen Magie, die nur weit fortgeschrittene Zauberer beherrschten, würde ihren Bruder zu sehr erschöpfen. Die Pause, die er anschließend benötigen würde bevor sie weiterreisen konnten, wog den zeitlichen Vorteil des Zaubers zu einem Großteil wieder auf. Hinzu kam noch, dass hohe Magie dieser Art für die meisten Bewohner von Sin’Arcus kein alltäglicher Anblick war und sie sich somit besser ein Stück weit von der Handelsroute hätten entfernen müssen, bevor Echil einen Zauber anwendete. Das Hinterland jedoch war gefährlich – Zu gefährlich für zwei einfache Reisende wie sie, und Echil wollte kein Risiko eingehen. Aus diesen Gründen beließen sie es dabei, ihren Weg auf dem Pferderücken fortzusetzen.
Oft begegneten ihnen auf der Straße andere Reisende und Händler, und je weiter sie nach Süden kamen, desto häufiger wurden auch die Patrouillen schwer bewaffneter Ritter unterschiedlicher Orden, die für die Sicherheit auf der Handelsstraße sorgten. Ein paar mal wurden sie angehalten und nach Ziel und Zweck ihrer Reise befragt, da sie ja offensichtlich kein Handelsgut mit sich führten, doch Echil antwortete stets höflich, und so wurden sie nie lange aufgehalten. Von einem unbewaffneten Elfen und einer jungen Frau, deren über den Rücken geschnallter Jagdbogen nur allzu sichtbar selbst geschnitzt war, ging allem Anschein nach keine Gefahr aus. Lediglich die Tatsache, dass sie keine Menschen waren, ließ sie in den Augen mancher aus der Masse hervorstechen – Ein Schicksal, das alle nichtmenschlichen Reisenden mit ihnen teilten.
Ira nahm dieses bunte Treiben um sie herum wachsam, aber distanziert wie immer auf. Sie hatte die Ländereien um die Behausung ihres Bruders nicht mehr verlassen, seit sie dort eingetroffen war. Seither waren Jahre vergangen, und damals war sie noch nicht viel mehr als ein Kind gewesen – Somit war ihr vieles, was sie sah, unbekannt. Echil bemerkte dies, und so erzählte er ihr viel über das Reich und seine Bewohner, während sie ritten. Bei manchen Dingen hörte sie aufmerksam zu, bei anderen nickte sie hin und wieder abwesend. Wie viele von seinen Erklärungen ihr schon bekannt waren, konnte Echil natürlich nicht wissen. So redete er einfach von dem, was ihm in den Sinn kam. Über sein Vorhaben in Arxana jedoch verlor er kaum ein Wort.
So verging langsam die Zeit, und Ira hatte schon längst aufgehört die Tage zu zählen, als Echil eines Abends plötzlich sein Pferd zum Stehen brachte und jene Worte sprah, auf die sie fast schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte:
„Siehst du da vorne das Leuchten am Horizont? Das sind die Lichter der Stadt Arxana. Morgen endlich werden wir die Tore der silbernen Burg durchschreiten!“
 

Alyndur

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~ Arnur ~

Als sie das Südtor passierten, war die Buntheit der Menschen das erste, was Arnur ins Auge stach. Jede größere Stadt schmückte sich mit der Vielfalt ihrer Einwohner, mit deren äußerlichen Unterschieden wie auch mit den übrigen Verschiedenheiten, die mit von Handwerk, Stand und Besitz einhergingen. Die alte Metropole von Nordend war jedoch dort angelegt worden, wo mindestens zwei, wenn nicht mehr verschiedene Völker und Kulturen der Menschheit aufeinander trafen. So zählte es auch zu ihren besonderen Wesenszügen, dass diese Unterschiede im Antlitz ihrer Bewohner und Besucher sichtbar wurden. Neben den Bauern, Händlern und Gesellen, wie man sie auch in allen anderen Städten des Reiches zu Gesicht bekam, gingen hier auch viele Gestalten ihres Weges, die in Felle wilder Tiere gehüllt waren und die Knochen ihrer Beute, wie auch andere sonderbare Gegenstände, als Schmuck gebrauchten. Der Handel mit den unterworfenen Stämmen, die die Wälder östlich von Nordend entlang des großen Sees mit dem Namen Schicksalsauge bevölkerten, war von je an von enormer Wichtigkeit für den Wohlstand von Nordend und damit auch für seine Stellung gegenüber dem Thron von Sin’Arcus. Die Wilden gewannen Holz, Felle, Bernstein und andere Tiertrophäen oder wertvolle Rohstoffe aus den Weiten ihrer Jagdgründe. Sie lieferten sie in großen Mengen gegen einen Spottpreis an altem Metall, Brot und anderen Dingen, an denen es im Reich nicht mangelte, an den Hochmeister, oder besser an seinen Verwalter. Kostspieliger waren dagegen die Händler aus dem fernen Osten, die Nordend über den Strom des Langen Armes mit schnellen wendigen Booten, aber auch mit schwereren Lastschiffen erreichten. Der große Fluss speiste das Schicksalsauge an einer entfernten Mündung in tiefen den Wäldern, die es größtenteils umgaben. Die Ostländer brachten vor allem seltene Gewürze und Pflanzen, die Trophäen exotischer Bestien, und auch furchtlose Elitesöldner aus ihren mystischen Ländern für teures Geld mit sich. Diese Waren ließen sich für gewöhnlich von Nordend zu einem noch höheren Preis in die übrigen Gebiete von Sin’Arcus weiterverkaufen. Der Weg über den besagten Fluss war alles andere als ungefährlich, zumal er nicht nur eine beachtliche Weile lang durch unerschlossene Wälder hindurch verlief, sondern sogar ein Stück weit durch die Ebenen des Schweigens, ehe er sich endgültig nach Osten wandte, doch seit der letzte Hochmeister den Handel mit den Ländern des Sonnenaufgangs ausgebaut hatte, waren die Fahrten vom einen Ort zum anderen stets von so großem gegenseitigen Nutzen, dass man alle Risiken dafür in Kauf nahm. Für einige der Händler und Seeleute pflegte sich die Reise bereits dadurch zu lohnen, dass sie von den Wirten der Stadt geworben wurden, um in ihren Gasthäusern und Schankstuben Märchen und Geschichten aus den fernen Ländern zum Besten zu geben.
In Nordend hatten sich ganze Gilden gebildet, die darauf spezialisiert waren, die fremdartigen Dinge zu seltenen Fertigwaren von höchstem Wert weiterzuverarbeiten. Unter der schützenden Hand des Hochmeisters achteten die Meister der Zünfte mit höchster Strenge darauf, dass ihre Kunst nur innerhalb der Mauern der Stadt angewandt wurde und dass ihre Geheimnisse in keinen anderen Teil des Reiches gelangten.
Auch in früheren Tagen waren es neben einer gewaltigen Heeresmacht bereits diese üppigen Einkünfte gewesen, die Nordend eine besondere Stellung im Reich verschafft hatten. Sie hatten es den Roten Drachen gestattet, einem gewählten Regenten von Sin’Arcus Anerkennung und Beistand zu verweigern, ohne dass sie seine Missgunst zu fürchten gehabt hätten. Selbst eine Absonderung vom übrigen Reich hatte nicht ausgereicht, um Nordend an den Rand des Ruins zu treiben, solange der Handel mit den fernen Ländern floriert hatte.
Vor vielen Dekaden jedoch hatte der lange verheerende Krieg zweier Reiche im Osten den Austausch mit Nordend vollends zum Erliegen gebracht. Dies war zu einer Zeit geschehen, da ein Kräftemessen zwischen den Roten Drachen und dem übrigen Reich stattgefunden hatte. Der damalige Hochmeister, Arnurs Großvater Hadumer Adonor, hatte sich daraufhin in Nordends wachsender Güternot zu einer verzweifelten Entscheidungsschlacht gezwungen gesehen, die eine peinliche Niederlage für die Roten Drachen zum Ausgang gehabt hatte. Sir Hadumer hatte als Hochmeister abdanken müssen und der Orden war in einen Zustand der Schwäche verfallen, der über Jahrzehnte hinweg angehalten hatte. Eines Tages war dann ein hoher Ritter namens Eomund Winthorn in die fernen Länder des Ostens gereist, die noch immer miteinander im Krieg gelegen hatten. Mit großem diplomatischem Geschick war es ihm gelungen, die beiden Herrscher dazu zu bewegen, ihre alte Fehde zu begraben, wofür man ihm später die Würde des Hochmeisters verliehen hatte. Seither war der Handel mit Nordend wieder aufgeblüht und die Stärke der Roten Drachen hatte wieder allmählich zu wachsen begonnen.
Einem Besucher, der ihre Stadt betrat, musste noch etwas anderes auffallen. Keine Gestalten hielten sich an den Rändern der Gassen auf, um die Vorbeigehenden an den Ärmeln zu zupfen. Denn sowohl Bettlerei als auch Hurerei waren in den Straßen von Nordend bei höchster Strafe verboten. Besonders Sir Eomund Winthorn hatte in der Zeit, da er auch als letzter Regent über Sin’Arcus geherrscht hatte, mit größter Sorgfalt und erbitterter Strenge darauf geachtet, dass Ordnung und Sauberkeit hinter den Mauern der damaligen Hauptstadt vorherrschten, wie auch davor. Diese Härte hatte dem ganzen Reich als Vorbild dienen sollen und einen besonderen anklagenden Hohn an den Hochmeister von Elyndorr in sich geborgen, der sich längst mit der Hoheit des Gesindels in seinen Straßen abgefunden zu haben schien. In Sir Eomunds Umfeld war sogar zynisch darüber gemunkelt worden, ob Sir Cerrik vielleicht selbst einen gewissen Nutzen aus dem Chaos in den Gassen seiner Stadt zu ziehen verstünde. Vor zwei Jahren, als Lady Lysanei vom Orden des Lichts zur Nachfolgerin Sir Eomunds auf dem Thron von Sin’Arcus gewählt worden war, hatte der alte Regent in seiner Wut beschlossen, die Abspaltung Nordends und aller Ländereien, die unter der Herrschaft der Roten Drachen standen, von Sin’Arcus zu erklären, um sich selbst zum König eines neuen Nordreiches auszurufen. Kurz vor der Krönungszeremonie, war er jedoch von seinem alten Waffengefährten Alrich Reckard gestürzt und in die Verbannung geschickt worden. Im Zerfall des bestehenden Reiches hatte Sir Reckard den Beginn einer Katastrophe für das Volk der Menschen gesehen, doch die Gesetze und Vorschriften seines alten Freundes und Vorgängers, die die Ordnung in der Stadt betrafen, hatte er bis zum heutigen Tage keiner Änderung unterzogen.
Arnur war dennoch von dem tönenden Trubel angewidert, der sie unmittelbar hinter dem Südtor empfangen hatte. Im Grunde hätte er es vorgezogen, den Umweg durch das kaum benutzte Nordtor zu nehmen, doch dies wäre vermutlich noch auffälliger gewesen. Auch, wenn Elyndorr im ganzen Reich als Stadt der Spione und der Intrigen galt, durfte man nicht dem Glauben verfallen, dass Nordend weniger Augen besäße. Zwar würde sich die Kunde von der Ankunft des Heerführers von Graufels ohnehin unweigerlich verbreiten, doch je später dies geschah, desto lieber war es ihm. Es war ein grundlegender Bestandteil von Arnurs Wesen, stets mit Trug und Gefahr um sich herum zu rechnen, auch wenn andere nur über seine Sorgen lächelten.
Wenig verwunderlich, wenn man in der Obhut eines blinden alten Mannes erzogen worden ist, der von sich selbst nur so wenig preisgab, wie nur irgend nötig. Das Wenige, das er hatte verraten müssen, hatte stets auf noch weniger Gutes schließen lassen. Fürst Adonor hätte wohl ebenso gut in den Straßen von Elyndorr aufgewachsen sein können wie in der sicheren Feste seines alten Hauses. Vielleicht war es auch diese tiefgreifende Verfolgungsangst, die es dem Herrn von Graufels gestattet hatte, so lange zu überleben, denn die Ritter der Roten Drachen zählten seit langem nicht mehr zu den beliebtesten des Reiches, umso weniger ihre Herren. Welch üppiger Dank vom Volke der Menschen für das Versprechen, es für alle Zeit vor seinen Feinden zu schützen. Arnurs Furcht wegen hatte sich sein treuer Zwillingsbruder Amar eines Tages von selbst dazu bereit erklärt, bei Reisen in die Fremde für den Schein nach außen hin Arnurs Rolle zu spielen... und vor noch nicht allzu langer Zeit den Lohn dafür geerntet. Erst, als er zurück in Graufels gewesen war, hatte Arnur die wahre Tragweite des Verlusts eingeholt. Es war gewesen, als hätte sich unter seinen Füßen ein alter wohlbekannter Abgrund von neuem aufgetan und für einige Tage hatte er über gähnender Leere gestanden... bis zu jener Nacht, da er mit Baldur auf dem Hof des Bauern Berenson einige engere Worte gewechselt hatte. Seitdem hatte wieder eine zarte Ruhe von ihm Besitz ergriffen und die Tiefe unter seinen Füßen war von freundlichen Nebelschwaden verdeckt worden.
Plötzlich teilte sich die Menge vor ihnen und gab den Blick auf ein Dutzend Fußsoldaten frei. Sie waren mit Lanzen und Hellebarden bewaffnet waren und trugen Spangenhelme auf den Köpfen, Wämser und Umhänge waren weiß und zeigten je einen roten Drachen auf Brust und Rücken, der in einer nach vorne gestreckten Pranke eine eiserne Lanze führte - das Wappen der Stadtwache von Nordend. Die Männer marschierten in zwei Sechserreihen nebeneinander her und näherten sich ihnen im strammen Gleichschritt mit einem berittenen Krieger in der Mitte. Dieser war auf ähnliche Weise gekleidet wie seine Infanteristen, doch dort, wo sie Weiß trugen, zeigte er Rot, wohingegen der bewehrte Drache auf seiner Brust in Weiß erschien, was ihn als gesalbten Ritter San’Guis auswies. Der Kommandant der Stadtwache empfing Arnur mit einer leichten Verneigung. „Fürst Adonor“, begrüßte ihn Sir Chlotred Fenir, der ihm noch von früheren Besuchen in Nordend bekannt war. Gerüchten zufolge hatte sein wildes unbändiges Haar darauf hingedeutet, dass der Ritter von den alten Heiden- und Wiesenbewohner abstammte, die vor der Errichtung Nordends in den Weiten dieser Gegend ein einfaches Dasein als Jäger und Sammler gefristet hatten. Seitdem trug er es nie länger als eine Daumenbreite. „Nun, da ihr eingetroffen seid, wird der Rat der Vier in Kürze stattfinden. So Ihr es wünscht, werde ich Euch umgehend zur Burg geleiten.“
„Es wäre mir eine Ehre“, antwortete Arnur formgemäß.
Aus Höflichkeit bat er Sir Fenir, ihm von Neuigkeiten aus der Stadt zu berichten. Doch bald stellte sich heraus, dass es sich vorwiegend um Menge Belanglosigkeiten handelte und Arnur begann, seine Bitte zu bereuen. Etwa sei es vor einigen Tagen in einem Schankhaus zu einem blutigen Streit gekommen, als ein wilder Jäger einem Seemann seine Erzählung von einer Fahrt in den Osten nicht habe glauben wollen. Gestrige Nacht sei eine Hand voll betrunkener Diebe in eine Wachkaserne am Hafen eingestiegen, die sie für eine Lagerhalle für seltene Waren gehalten hatten, doch das einzige, was bei Arnur so etwas wie Interesse erregte, war der Hinweis darauf, dass in einiger Zeit wieder einmal der Wettstreit zur Sonnenwende bevorstand. Bei den Wettkämpfen in Nordend handelte es sich um altbewährte Feierlichkeiten, die noch immer Kämpfer und Besucher aus allen Teilen des Reiches und darüber hinaus in die Stadt der Roten Drachen zogen. Groß waren der Ruhm und das Ansehen eines Streiters, der aus einer der verschiedenen Disziplinen als Meisterrecke hervorging, wie etwa im Turnier der Lanzen, dem Freien Zweikampf, dem Kampf der Waffenlosen, dem Streit der Fernwaffen, dem Wagenrennen oder dem Blutstreit. Für diese Tage hatten alle Fehden und Zwietrachten innerhalb der Mauern von Nordend zu ruhen, wer auch immer sich darin befinden mochte. Überdies war es die einzige Zeit, da auch Angehörige anderer Völker als dem der Menschen als Gäste in der Stadt geduldet wurden, denn es wurde nicht ungern gesehen, wenn ein Elfenschütze oder ein Zwergenkrieger dem Geschick eines menschlichen Kontrahenten unterlag. Tat sich hingegen der andere in einer Disziplin als Meisterrecke heraus, so fand sich stets ein Dritter, der beim nächsten Wettstreit zu noch größerem Ruhm gelangte, indem er der Menschheit seinen anbestimmten Platz als erstes unter den Völkern von Sin’Arcus zurückeroberte.
„Das gemeine Volk schließt bereits Wetten zu hunderten ab, die Händler sind eifrig bemüht, ihre Vorräte aufzustocken und die Gastwirte erhöhen schon allmählich die Preise für ihre Unterkünfte. Ihr mögt Euch glücklich schätzen, dass Euch ein Platz in der Burg sicher ist, mein Fürst.“
Allmählich ließen sie das Labyrinth der gemeinen Straßen hinter sich und traten den Weg auf den Burghügel an, der sich bis zu zweihundert Meter über die übrige Stadt erhob. Wann immer ihnen Herrschaften von Namen begegneten, war Sir Fenir derjenige, der die erhabensten Grüße und die schmeichelhaftesten Wünsche erfuhr. Um
die verheerenden Pläne seines Vorgängers zu vereiteln, hatte der jetzige Hochmeister Alrich Reckard den damaligen Kommandanten der Stadtwache, Sir Raimund Weymar, für sein Vorhaben geworben. Als Lohn für seinen Dienst war Sir Raimund später auf den Platz eines der drei Heerführer nachgerückt, der nach der Salbung des neuen Hochmeisters frei geworden war. Daraufhin hatte der alte Kommandant Sir Chlotred Fenir, den Hauptmann seines größten Vertrauens, zu wiederum seinem Nachfolger bestimmt. Arnur warf seinem Begleiter einen flüchtigen Blick von der Seite zu.
Harrt nun der neue Kommandant der Stadtwache seinerseits auf des Schicksals günstige Stunde?
Nach einem müßigen Aufstieg erreichten sie endlich das Tor zum inneren Hof der Burg Blutdorn. Fürst Adonor bedankte sich bei seinem Führer und übergab sein Pferd in die Obhut eines Stallknappen. Eine Allee aus alten Blutbuchen zog sich über den weiten Burghof hin und markierte den direkten Weg zum Bergfried, dessen höchster Turm einen langen Schatten bis zu den Häusern am Fuße des Burghügels warf. Wie ein steiler Riese ragte er vor Arnur auf. Die großen Bäume trugen nur noch an einigen wenigen Stellen rotes Laub zur Schau, das meiste ihrer Sommertracht lag bereits in welken Haufen zu Füßen der dunklen Stämme.
Ein Regenschauer brach aus den grauen Wolkenschleiern hervor, die die Sicht auf den spätherbstlichen Vormittagshimmel verdeckten. Eine raunende Windböe spielte mit den Zweigen der Bäume. Sie ließ das tote Laub lebendig werden und den Ritter unter seiner Tunika frösteln. Als die Herbstblätter in wirbelnden Luftströmen vor seinen Schritten flohen, fühlte sich der Heerführer unwillkürlich an einen fernen Tag aus seiner frühen Kindheit erinnert. Er, Arnur Adonor, Sohn und Erbe des Fürsten Wilmund Adonor, saß vor seinem Vater auf dessen Rappen. Auch sie hatte es damals nach Nordend geführt und, wenngleich Arnur sich des Anlasses nicht mehr entsinnen konnte, erinnerte er sich doch noch genau an das Stöhnen des Windes. Rastlos war er über das kahle Land gestrichen wie ein Rudel hungriger Wölfe und hatte zahllose bunte Blätter wie große Herden von Weidenvieh unermüdlich vor sich her gescheucht. Arnur erinnerte sich auch daran, wie sich sein Vater von hinten über ihn gebeugt hatte und mit einem zitternden Finger auf den Turm des Blutdorns gewiesen hatte, als er gerade am Horizont sichtbar wurde.
Es war eine der wenigen unverschwommenen Erinnerungen, die Arnur an seinen Vater hatte, der damals schon ein Greis von über achtzig Lenzen gewesen war. Seit dem frühen Tode Wotredh Adonors hatte Sir Wilmund sein ganzes Dasein im Schatten seines älteren Bruder gefristet und, wollte man den Worten des Sehers Xanthis glauben, so hatte er schwer an dieser Bürde getragen. Die große Leere, die Wotredh im Machtgefüge des Ordens wie auch im Selbstbild ihres gemeinsamen Vaters Hadumer hinterlassen hatte, hatte Wilmund aller Mühe zum Trotz nicht zu füllen vermocht. Stattdessen hatte er mit ansehen müssen, wie ein großer Teil der Stärke der Roten Drachen mitsamt dem Lebenswillen seines Vaters an der eiternden Wunde, die ihnen Wotredhs Verlust zugefügt hatte, allmählich und doch unaufhaltsam zugrunde ging. Indes war es Wilmund selbst beschieden gewesen, Dekade um Dekade als machtloser Zeuge jenes langsamen Untergangs die Zeit zu überdauern, bis es ihm schließlich im Spätherbst seines Lebens noch geglückt war, ein Paar gesunder Zwillinge zu zeugen und wenig später in der matten Hoffnung dahinzuscheiden, dass das verlorene Erbe seiner Familie in den beiden Söhnen fortleben möge. Arnurs Gefühl nach musste Wilmund Adonor ein äußerst gütiger und nachsichtiger Vater gewesen sein, dessen Herz unter der Last der Jahre, die er gezählt hatte, zur Milde erweicht worden war. Obgleich Xanthis zu erzählen wusste, dass der letzte Fürst von Graufels sehr bemüht gewesen sei, ihn, Arnur, auf alles vorzubereiten, was ihn als dessen Erbe erwarten würde - jedoch bereits in so frühen Jahren, dass selbst der gefühlskalte Seher entschieden der Meinung gewesen sei, dass es noch nicht an der Zeit für derartige Lektionen gewesen sei. Vermutlich hatte der dringliche Eifer seines Vaters darauf beruht, dass Sir Wilmund den nahenden Tod bereits in seinen alten Knochen gespürt hatte. Auf dem Sterbebett hatte er schließlich die standesgemäße Erziehung seiner Söhne in die Hände seines alten Dieners Xanthis gelegt. Nun, der treue Xanthis hatte seine Aufgabe wohl erfüllt - mit der gleichen förmlichen Kälte, mit der er auch jede andere Pflichten erfüllt hatte.
Während sein Vater ihm seine letzten Jahre gewidmet hatte, hatte sich dessen anderer Sohn Amar, der als Erbe erst an zweiter Stelle stand, nahezu ununterbrochen in der Obhut seiner jungen Mutter befunden. Fürstin Melina war eine Maid von vierzehn Lenzen gewesen, als sie dem achtzigjährigen Wilmund Adonor zugeführt worden war. Dieser habe sich laut Xanthis sehr darum gesorgt, dass es seiner letzten Gemahlin an nahezu nichts fehlte, was sie begehren mochte, und ihr kaum einen Gefallen abgeschlagen. Dennoch war sein Alter ein unauslöschlicher Makel geblieben, den Melina Adonor ihrem Gemahl nie verziehen hatte. Vielmehr hatte sie es zum Anlass genommen, in ihrem Herzen einen unstillbaren Hass gegen den Greis zu pflegen, der, wie sie es später nannte, „die Blüte ihrer Jahre verwelkt“ habe. Doch damit war es nicht genug gewesen. Spätestens nach dem Tod ihres Gemahls war sie dazu übergegangen, die schändlichen Gefühle ihm gegenüber auch auf ihren gemeinsamen Erstgeborenen zu richten. Da er ihrer Obhut früh entrissen worden war, um ganz im Sinne seines Vaters erzogen zu werden, war es ihr gewesen, als habe dieser fürderhin seinem ältesten Sohn fortgelebt. Lange hatte Arnur vergebens zu begreifen versucht, was es mit dieser tiefen Abscheu seiner Mutter wirklich auf sich gehabt hatte, die er auf irgendeine ihm verborgene Weise auf sich gezogen haben musste... bis es ihm schließlich eines Tages ins Gesicht geschrieben worden war. Seither hatte er von Fürstin Melina nichts mehr vernommen, doch für ihn brauchte es nicht mehr als einen beiläufigen Blick in den Spiegel, um sich ihrer letzten Begegnung vor vielen Jahren zu erinnern.
Ein paar Spatzen stoben aus den Blättern vor ihm auf und von irgendwoher vernahm Arnur das spöttische Krächzen eines Rabenvogels.
Die Wachen am Eingang des Bergfrieds traten einen Schritt weit auseinander und ließen den Heerführer passieren. Hinter der Tür kam es ihm schlagartig wärmer vor als draußen in der offenen Herbstluft, sodass er bald ins Schwitzen kam. Ein Page geleitete ihn ins Innere der Burg, vorbei Wachen und Gesinde und vorbei an Räumen und Gemächern, die er bereits schon früher zu Gesicht bekommen hatte. Schließlich verabschiedete sich der Knabe und Arnur trat in einen Vorsaal hinein, der ihm ebenfalls schon bekannt war. Dort wurde er bereits von den übrigen Mitgliedern des Rates der Vier erwartet.
„San’Guis sei Dank! Es ist gut zu sehen, dass Ihr zu uns gefunden habt.“ Zu ihm sprach ein breitschultriger Weißschopf, bei dem es sich um niemand anderen als den Hochmeister von Nordend selbst handeln mochte. Klare wasserblaue Augen bedachten Arnur mit einem festen und sicheren Blick aus einem offenen und ehrlichen Gesicht. Sir Alrich Reckard war seit seinem letzten Besuch sichtbar gealtert, aber noch ließ sein Antlitz nichts vermissen, das nötig gewesen wäre, um ihn als auffallend wohlgestalteten alten Krieger zu betrachten. Noch immer übte er über jeden Gesichtsmuskel eine solch ungebrochene Herrschaft aus, dass Arnur sich nicht sicher war, ob er es vollends ernst mit seinen Worten meinte oder sich eher einen Spaß aus ihm machen wollte.
Fürst Adonor verneigte sich zum Gruß. „Vergebt mir, Herr. Es war eine dringliche Angelegenheit, die mich von Graufels fortrief, ehe ich dort die Kunde vom Rat der Vier empfangen konnte.“
„Gewiss doch, Sir“, erklärte Raimund Weymar fröhlich. „Wer könnte Euch den kleinen Ausritt in die Ebenen des Schweigens schon verdenken? Ohne Zweifel wird er sich für Euch schon in irgendeiner Weise bezahlt gemacht, nehme ich doch an?“

Aber gewiss doch. Ich bin um die seltene Erfahrung reicher geworden, wie es ist, Auge in Auge mit einem Halunken zu stehen, der meinem Bruder aus purer Belanglosigkeit das Leben nahm, ohne dass ich ihm auch nur ein Haar hätte krümmen dürfen.
Von Sir Raimunds Empfang war Arnur wenig überrascht. Es lag in der Natur dieses Mannes, unermüdlich seinen Spott über andere zu treiben, mochte man ihn dafür lieben oder hassen. Es gab aber jemanden, der sich deutlich besser darauf verstand, ihn in Unruhe zu versetzen. Dieser jemand machte keinerlei Anstalten, mit dem Hohn der anderen zu wetteifern. Er tat nichts weiter, als Arnur mit einem stillen Blick zu fesseln. Mit einem Blick, der mehr Worte verlor als jeder Satz, mehr als jede Bemerkung. Dieser Blick allein schien alles Erdenkliche sagen zu wollen... bis auf etwas Gutes. Sir Heribrand Corvulus war etwa an die zwanzig Jahre älter als Arnur und ein gutes Stück größer. Er trug den mächtigen Bau eines Auerochsen zur Schau und zeigte stark behaarte und wettergegerbte Hände, die wie die Klauen einer Bestie an seinen langen Armen herabhingen. Sein schwarzer Schopf war noch immer vollständig, wenngleich auch an einigen Stellen schon ein wenig ergraut. Die Nase des Mannes war lang und kräftig und lief am Ende zu einer gebogenen Spitze zusammen wie der Schnabel eines Raben. Wenn er nicht gerade seine raue Stimme ertönen ließ, schienen seine Lippen wie hart aufeinander gepresst. Die buschigen Brauen saßen tiefer und bedrohlicher, als ihresgleichen das Recht dazu gegeben war. Die freudlosen Augen, die irgendwo in den dunklen Höhlen darunter hausen mussten, starrten unerbittlich auf einen herab. Als Arnur diese Erscheinung das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, hatte er unwillkürlich einen Schritt zurückzuweichen wollen.
Es sollte mich wundern, wenn er je einen Grund gehabt hätte, über den Gehorsam seiner Männer zu klagen.
Dagegen war Raimund Weymar von weitaus augengefälligerer Gestalt. Er war um einiges schmächtiger als Sir Heribrand und fast um einen Kopf kürzer als Arnur, doch dank seiner geschmeidigen und kontrollierten Haltung wirkte er alles andere als schwächlich.
Über seiner Oberlippe entsprangen die sorgsam gepflegten Flügel eines heiteren kastanienbraunen Schnurrbarts, über die er gerne und oft mit einer eleganten Bewegung seiner schlanken Finger hinwegstrich. Auf seiner Stirn tanzten fröhliche Locken von derselben satten Farbe und darunter blickten hellgrüne Augen neugierig und ausgelassen in die Welt.“
Auch er kennt Mittel und Wege, sich Männer gefügig zu machen. Er ist keineswegs der harmlose Zeitgenosse, in dessen Anschein er sich hüllt. Anderenfalls wäre weder er heute im Rat der Vier noch Alrich Reckard auf dem Thron von Nordend.
„Nun seid Ihr ja jedenfalls bei uns“, erlöste ihn der Hochmeister. „Und wir können den Rat der Vier beginnen lassen.“
Auf dem Weg zum Ratssaal nährte sich ihm Sir Raimund wie selbstverständlich und schenkte ihm ein betroffenes Lächeln. „Es ist für wahr ein böses Geschick, dass Ihr nicht schon früher eingetroffen seid, mein werter Adonor“, gab er ihm leise zu verstehen. „Gern hätte ich Euch schon längst mit dem Schmuckstück vertraut gemacht, welches Ihr von mir begehrtet. Ich denke, ich kann wieder ein Mal mehr mit Recht behaupten, den besten Goldschmied weit und breit an meinem Hof zu unterhalten.“
Heribrand Corvulus warf ihnen einen misstrauischen Blick zu und auch Arnur war mehr als nur ein wenig verdutzt. „Was...“
„Oh nein, nicht doch!“ Der andere riss entsetzt die Hände in die Höhe. „Nicht doch, betrachtet es einfach als Geschenk unter Gleichgesinnten Brüdern im Geiste des Herrn San’Guis. Das ist es mir wert, dass Ihr nicht noch an einen Schurken geratet, der Euch Böses will. Es gibt der Metalle viele, die glänzen, auch solcher, die gar nicht weiter von echtem Wert sind. Einige Schmiede, müsst Ihr wissen, sind arglistige Schwindler und hüllen ihre Ware in einen güldenen Schein. Bedenkt aber immer, ganz gleich, mit wem Ihr es zu tun haben solltet, dass bei weitem nicht alles, was gülden glänzt auch aus echtem Gold gemünzt ist! Es ist nur zu Eurem Besten, wenn Ihr diese Worte beherzigt. Wenn Ihr mich später in meinem Turmgemach besuchen mögt, werde Euch Näheres über das Wesen echten Goldhandwerks verraten.“ Damit überließ er Arnur seiner Verwunderung.

„Es gibt eine Frage“, begann der Hochmeister, als sie zu Vieren um eine runde Tafel versammelt saßen. „Die mir von zu großer Wichtigkeit dünkt, als dass ich mich vermessen wollte, nach eigenem Gutdünken darüber zu befinden. Vielmehr habe ich mich dazu entschlossen, in dieser Angelegenheit keine Entscheidung zu treffen, die sich nicht wenigstens um den Segen zweier meiner Heerführer verdient gemacht hätte.“ Sir Alrich warf jedem von ihnen einen abschätzenden Blick zu. „Vor einiger Zeit erreichte mich ein dringliches Schreiben von Sir Fenther, dem Oberkommandanten des Ordens des Lichts. Er bittet um Vergebung dafür, dass er so lange gezögert habe, ehe er schließlich in dieser Weise an mich herangetreten sei, zumal die Beziehungen zwischen seinem Orden und dem unseren bislang nicht von bester Freundschaft geprägt gewesen seien. Nun aber sei ihm ob einer unverkennbaren Not keine andere Wahl geblieben, als das Nötige zu tun.“
„Wie rührend“, schnaufte Heribrand Corvulus.
„Sir Fenther berichtet, dass die Erzmagier des Ordens des Lichts eine große Gefahr für das Reich und möglicherweise für die gesamte uns bekannte Welt erkannt hätten. Es gebe eine Art von Portalen zwischen den Welten, durch die magische Wesen imstande seien, in die jeweils andere einzudringen. Auf diese Weise seien die Dämonen des Schattens vor zwei Jahrtausenden über das Land hergefallen und nun sei zu befürchten, dass es einem ähnlichen, wenn nicht gar dem gleichen Feind erneut gelingen würde, die Schutzbarrieren, die sie zu diesem Zeitpunkt noch von uns fernhalten, zu überwinden.“
„Sie hätten eben robusteres Holz nehmen sollen“, meinte Sir Heribrand.
„Gleiches hätte sich auch vor zweitausend Jahren ereignet. Nichtsdestotrotz sei es aber gelungen, den fremdartigen Feind zurückzudrängen, da all jene, die von der Bedrohung betroffen gewesen seien, ihre Stärke unter einem Banner vereinigt hätten. Sir Fenther bittet uns daher eindringlich, den Pfad der Gegnerschaft, den wir seiner Herrin gegenüber eingeschlagen hätten, in Hinblick auf die düstere Lage zu überdenken. Er lädt uns dazu sein, der Regentschaft seiner Herrin nun im Nachhinein unsere Anerkennung zu gewähren.“
Für eine Weile herrschte berechnendes Schweigen im Rate der Vier, bis Sir Raimund Weymar als erster der Heerführer das Wort ergriff. „Es ehrt Euch, Herr, dass Ihr den Weg der gemeinsamen Eintracht mit uns gewählt habt. Dies zeugt von einem Verantwortungsbewusstsein, welches Sir Eomund zum Ende seiner Zeit hin mehr und mehr vermissen ließ.“
„Kommt bitte zum Punkt Eurer Ansprache“, bat Sir Corvulus gelangweilt. „Ich nehme doch an, es gibt einen?“
„Wenn das Reich sich in Not befindet, so sind auch wir davon nicht ausgenommen. Keiner von uns ist davon ausgenommen. Hat sich nicht ein jeder in diesem Saal dem Gelöbnis unseres Herrn San’Guis verschrieben, dem Volke der Menschen Schutz zu gewähren? Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass dies nur auf dem Wege der Einheit erreicht werden kann. Ich weiß, werte Freunde, Ihr fürchtet um die Interessen des Ordens, wenn wir Lady Lysanei als Regentin über uns anerkennen, doch ich habe noch eine andere Vereinigung im Sinn, die imstande wäre, diese Sorge beizulegen - wenn Ihr mir gestatten mögt, mich näher zu erklären.“
Erst auf das Nicken des Hochmeisters hin unterbreitete Sir Raimund seinen Vorschlag. „Nordend trägt nur noch einen Abglanz seiner einstigen Stärke zur Schau. So betrübend es auch ist, niemand von uns vermag, es zu leugnen. Doch die Macht all derer, die San’Guis dienen, ist noch immer gewaltig. Sie ist nur verstreut und tritt deshalb nur wenigen Augen in ihrer Gänze in Erscheinung. Unbedacht tritt man auf einen Kieselstein, derer es im Land unzählige gibt, vor einem massiven Felsen hingegen, der in den Himmel ragt, senkt man hingegen demütig das Haupt. Uns gilt es heute, tausende und abertausende von kleinen Steinen in den tiefen Feuern der Erde wieder zu einem Fels zusammenzuschmelzen, der über jede andere Schöpfung des Reiches erhaben hinausragt. Wir nennen uns Ritter der Roten Drachen. Unsere Brüder in Elyndorr sind die Ritter der Grünen Drachen. Zwei gleiche Orden gehen getrennte Wege voneinander und dienen doch ein und demselben Herrn, eifern ein und denselben Zielen nach. Es sind nicht mehr als Farben und Äußerlichkeiten, die uns von ihnen trennen. Schmelzen wir zusammen, was aus demselben Fels gemacht ist. Wären Nordend und Elyndorr unter einem Hochmeister vereint, so besäßen sie bei jeder Angelegenheit im Reich ein solch enormes Gewicht, dass niemand darüber hinweg entscheiden könnte. Die übrigen Orden und Fürsten des Reiches werden eine solche Vereinigung jedoch auf Dauer nur tolerieren, wenn wir unseren guten Willen gegenüber Sin’Arcus bewiesen haben. Hierfür müssen wir uns zunächst der Hoheit der gesalbten Regentin unterwerfen, wie es Sir Cerrik schon vor uns getan hat.“
Arnur dachte über den Vorschlag nach. Es schien eine weise Angelegenheit, die Macht aller Diener San’Guis zu bündeln und gemeinsam für seine Ziele einzutreten. Wäre ein einheitlicher Orden erst zustande gekommen, so würde es in der Tat kaum mehr jemanden im Reich geben, der sich seinem Streben widersetzen können würde. Die getrennten Wege im Geiste San’Guis mochten einst zuweilen ihre Vorteile gehabt haben, doch dies versprach, eine Zeit zu werden, da Stabilität und Sicherheit gegenüber Buntheit und Eigensinnigkeit der Vorzug zu geben war.
Doch dann holte ihn die Erinnerung an eine gewisse Begegnung am Rande der Ebenen des Schweigens ein und die dreisten Worte einer Elfe erklangen in Sir Adonors Kopf von neuem: ,Dieser Brief besagt, dass MEINE GEFÄHRTEN UND MICH KEIN RITTER AUFHALTEN DARF, da die Erfüllung dieser Mission oberste Priorität hat! In Sir Cerriks Namen bin ich ermächtigt, für den Erfolg dieser Mission Gefährten frei zu wählen, die mich begleiten und mir zur Seite stehen. Dies steht in diesem Freibrief niedergeschrieben.’
Dieser Freibrief stellte es ihrem Gefährten frei, meinen Bruder zu ermorden. ‚Wollt Ihr Euch den Anordnungen Sir Cerriks widersetzen, so ist Euch der Zorn der Grünen Drachen gewiss.’
Mit einem Male dämmerte es Arnur, von welcher Art die Mission sein musste, die dieser Söldnergruppe aufgetragen worden war, und für die Sir Cerrik so vieles in Kauf genommen hatte. Es konnte ihr keine andere Angelegenheit zugrunde liegen als die Bedrohung, über die Sir Fenther nun auch die Roten Drachen unterrichtet hatte. Es zeigte, dass der Orden der Grünen Drachen schon seit langem von der mutmaßlichen Gefahr für das Reich gewusst haben musste und es nicht für nötig befunden hatte, dieses Wissen mit seinen Bundesgenossen aus Nordend zu teilen. Vielleicht stand er dem Orden des Lichts inzwischen schon weitaus näher als seinen einstigen Brüdern im Geiste San’Guis.
Nein, gelobte Arnur sich. Nie und nimmer werde ich mit Verrätern an meinem Orden gemeinsame Sache machen.
Heribrand Corvulus war es, der an seiner Stelle antwortete. „Das Volk der Menschen“, rief er höhnisch. „Eine finstere Bedrohung... . Je mehr ich über Sir Fenthers Anliegen nachdenke, desto sicherer erscheint es mir, dass es sich dabei um nichts weiter als um einen Vorwand handelt, um den Orden der Roten Drachen unter das Joch von Arxana zu locken. Dieser düstere Feind ist allem Anschein nach nicht mehr und nicht weniger als eine verkleidete Handpuppe. Haben uns Lysanei und ihre Jünger erst in der Hand, werden sie auch Mittel und Wege finden, uns dort zu behalten.“
Hochmeister Alrich Reckard hob fragend eine Augenbraue. „Ihr glaubt den Orden des Lichts einer ruchlosen Lüge fähig?“
„Gibt es denn einen Beweis für die Wahrheit in dieser Botschaft?
„Sir Fenthers Wort bürgt dafür. Mit dem Wort eines Ritters bürgt auch seine Ehre.“
„Vergebt mir, Herr...“
Arnur beobachtete, wie sich der Anflug eines Lächelns auf Sir Heribrands harten Zügen ausbreitete.
„Doch Ihr selbst wart einst unseres letzten Hochmeisters eingeschworener Gefolgsmann. Dennoch habt Ihr Euch schließlich gegen ihn gewandt, als Ihr um die Prinzipien unseres Ordens fürchtetet. Welche Lektion war es, die Ihr das gesamte Reich und jeden einzelnen seiner Ritter an jenem Tage gelehrt habt? Welche Lehre war es, wenn nicht die, dass die Ehre eines Mannes nicht immer an das Wort gebunden ist, das er einem anderen gab?“
Hochmeister Alrich rückte sich auf seinem Platz zurecht. „Es war das Wort, das ich meinem Gott gegeben hatte, lange bevor ich Eomund die Treue gelobte. Ich war zu einer Entscheidung gezwungen und stellte meinen Herrn über meinen Freund.“
Triumph breitete sich auf Sir Heribrands Gesicht aus. „Eine Wahl, die Euch gewiss keiner verdenken könnte. Zumindest keiner, der seine Seele demselben Gotte geweiht hat wie Ihr. Sir Fenther mag ein tadelloser Mann von Ehre sein, doch hätte auch ihn nicht davor geschützt, in eine Zwickmühle wie die Eure zu geraten... Wenn er gezwungen wäre, zu wählen - zwischen der Treue zu der Macht, die ihm heilig ist, oder der Aufrichtigkeit gegenüber einem Widersacher unserem Orden - nun... wie würde er sich wohl entscheiden?“
Sir Alrich strich sich mit dem Daumen übers Kinn. „Und wo denkt Ihr, würde der Orden des Lichts ansetzen, um uns zu schwächen?“
„An einer Stelle, die unser guter Sir Weymar seltsamerweise außer Acht gelassen hat. Ich will Euch genau erklären, was es damit auf sich hat.
Die Macht der Ritter und Landesherren, die es ablehnten, sich der Hoheit eines Ordens zu unterwerfen, war von der Gründung des Reiches an verschwindend gering. So gering, dass sie bei den Regentenwahlen schwerlich eine Partei darstellten, die es zu fürchten galt. Die meisten Herren von Adel sahen es als weise an, sich dem einen oder anderen Orden anzuschließen, um von seiner Macht und seinem Schutz zu profitieren. Mit dem Treueschwur stellten sie ihm auch ihre Ländereien zur Verfügung und walteten fürderhin als Statthalter im Namen ihres Ordens darüber, wie auch ihre Söhne und Erben nach ihnen, so diese sich dazu entschlossen, den gleichen Eid zu leisten. Kam ein Landesherr zu Tode, ohne dass er einen legitimen Erben hinterlassen hatte, wurden seine Güter anderen Rittern zugewiesen, die sich um ihren Orden verdient gemacht hatten.
Vor einigen Jahren begab es sich jedoch erstmals, dass freie Ritter, bei denen es sich offenbar um Abkömmlinge von Blutsverwandten alter Ordensvasallen handelte, Ansprüche auf das Erbe ihrer Familie erhoben. Sir Eomund, der zu dieser Zeit das Reich regierte, erwiderte ihnen hierauf, dass die Ländereien seit langem in den festen Besitz des jeweiligen Ordens übergegangen seien, wie es ein ehernes Gesetz bestimmt habe, doch die Fordernden waren sich über die Angelegenheit genauestens im Klaren. Sie erinnerten den Regenten daran, dass das besagte Gesetz, das die Ländereien eines Neugeschworenen unwiderruflich in den Besitz seines Ordens überführte, erst seit wenigen Jahrhunderten Bestand gehabt habe. Bei allen Gütern, die einem Orden vor dieser Zeit zugefallen worden waren, handelte es sich lediglich um Leihgaben. Daher sei der Anspruch eines legitimen Erben auch über die Jahrhunderte hinweg rechtens und unauslöschlich.
Unerbittlich und auch jähzornig, wie der alter Regent und Hochmeister sein konnte, brachte er es dennoch fertig, die Freien Ritter abzuweisen und stellte damit für eine gewisse Weile die Ruhe wieder her - bis zu dem Tage, da Livia Lysanei ihm auf dem Thron von Sin’Arcus nachfolgte.
Die Lady vom Orden des Lichts zeigte ein offenes Ohr für das Ersuchen der Freien Ritter, die sich nunmehr zum ‚Bund der Freischaffenen’ geeint hatten. Dies sollte niemanden verwundern, der sich vor Augen führt, wie knapp die Mehrheit der Stimmen ausgefallen war, denen sie ihre Wahl als Regentin verdankt hatte. Es waren nur ein paar Stimmen gewesen, die den Ausgang für sie entschieden hatten... etwa von der Anzahl gewisser ordensloser Ritter und Fürsten. Der Orden der Schwarzen Raben hatte seine Stimmen zwar seinem eigenen Kandidaten für den Thron von Sin’Arcus gewidmet, der Siegerin aber dennoch seine Anerkennung ihrer Regentschaft nicht vorenthalten, womit er sich auf Gedeih und Verderb der Hoheit ihres Gerichts unterworfen hatte. Für diesen Fehler zahlte er bald, als er als erster Orden des Reiches einen Teil seiner Ländereien an den Bund der Freischaffenen abtreten musste. Andere mussten seinem Beispiel folgen. Gleiches stünde auch den Roten Drachen bevor, denn mit der Anerkennung eines Regenten ist für die Dauer seiner Herrschaft unwiderruflich.“ Sir Heribrand legte eine Kunstpause ein und ließ das Gesagte eine Weile lang im Raum stehen. „Ich habe mir die Mühe gemacht, selbst ein paar
Nachforschungen über die mögliche Tragweite dieser Angelegenheit für den Orden der Roten Drachen anzustellen und das Ergebnis ist mehr als ansehnlich: Wenn jedes Haus und Geschlecht des Reiches, das seiner Ahnen wegen einen Anspruch auf Rittergüter unseres Ordens erheben könnte, denselben geltend machte, so verlöre Nordend, nun ... mehr als ein Drittel seines jetzigen Hoheitsgebietes.“
Der Hochmeister schürzte anerkennend die Lippen, doch Raimund Weymar machte prompt einen Einwand laut: „Unsere Ländereien in Ehren, Sir, doch von welchem Nutzen sind sie für uns, wenn sie durch eine Fehlentscheidung unsererseits wie alle Welt mit Verderbnis überzogen würden? Schwere Zeiten erfordern schwere Entscheidungen. Auch unser Herr San’Guis musste einst Opfer bringen, um die Reiche des Nordens vor der Vernichtung zu bewahren. Erstreckt sich auch heute vor uns ein hoher Steilpfad, so dürfen wir ebenfalls nicht zaudern. Anderenfalls werden wir gewiss mehr verlieren als nur ein Drittel unserer Landgüter. Das Volk der Menschen wird mehr verlieren, als es zu geben vermag.“
„Habt Ihr die besagten Portale jemals zu Gesicht bekommen?“, forderte Sir Heribrand seinen Widersacher heraus. „Könnt Ihr mir sagen, wo sie aufzufinden sind? Könnt Ihr mir mit Bestimmtheit sagen, ob es sie überhaupt gibt? Es sollte mich reichlich wundern, wenn unser Orden nie etwas darüber gewusst haben sollte, sollten sie denn tatsächlich existieren. Selbst, wenn dies der Fall wäre, kehrte es das Gesicht unseres Bittstellers noch weiter in den Schmutz. Mit welchem Recht hätte der Orden des Lichts das Wissen über solche Artefakte über so lange Zeit hinweg vor uns verborgen gehalten, wenn sie doch über Gedeih oder Verderb der ganzen Welt entschieden?
Herr, Ihr habt Sir Weymars Vorschlag angehört, vernehmet nun den meinen: Blicken wir auf die Vergangenheit zurück, so bietet sich uns das Bild eines starken Nordends. Eines Nordends vor dem jeder Fürst des Reiches in Ehrfurcht das Knie beugte, ohne dass es der gemeinsamen Sache mit Elyndorr oder gar der Oberherrschaft eines dritten Ordens bedurft hätte. Der Rückschläge hat es seither viele gegeben. Die Roten Drachen haben Niederlagen erlitten, Ländereien verloren und mussten ihre Vorherrschaft in Sin’Arcus einbüßen. Das Trauerspiel dauerte an und an, bis Sir Eomund schließlich auf den Thron von Nordend gelangte.“
Sir Alrich zuckte mit den Achseln. „Nicht ohne Grund hätte ich mich seiner Sache angeschlossen.“
„Er befreite unseren Orden erstmals wieder aus dem Joch des Siechtums. Mit seiner beispiellosen Entschlossenheit zwang er viele Widersacher zur Furcht und stellte den alten Respekt der Roten Drachen nach außen hin wieder her. Doch mit dem Ausbau des Handels mit den Stämmen der Wilden und den Menschen des Ostens legte er auch einen bedeutenden wirtschaftlichen Grundstein für das Wiedererstarken von Nordend. Über lange Jahre hinweg haben wir nunmehr Vorräte angehäuft, Reichtümer gehortet und die alten Schatzkammern, die seit Dekaden leer gestanden hatten, aufs Neue gefüllt. Nun ist es wieder für uns an der Zeit, diese Mittel einzusetzen, um eine größere Macht darauf zu gründen. Wir sollten wesentlich mehr Summen in die Ausbildung von Kriegern und Soldaten investieren, wenn nötig auch mehr Söldner als Waffenmeister verpflichten und den allgemeinen Heeresdienst ausweiten. Die Stärke unseres stehenden Heeres muss nach dem Vorbild früherer Zeiten wieder enorm vergrößert werden, es sollten mehr Knappen in der Kunst des Krieges unterwiesen werden, mehr von ihnen in den Ritterstand erhoben werden und verdiente Recken zu mehr Besitz und Würde gelangen. Dafür ist es unabdingbar, neue Ländereien zu erschließen, damit wir zu der Größe unseres alten Machtgebietes zurückfinden. Aus den Tiefen der Wälder und Moore entlang des Schicksalsauges kann fruchtbares Land für Weiden, Felder und neue Siedlungen gewonnen werden. Die ansässigen Wilden werden sich weiter in den Osten begeben und dort die Stämme geißeln, die sich uns noch immer nicht unterworfen haben. Gleichzeitig gilt es herauszufinden, was uns der Norden zu bieten vermag. Seit jeher wurde stets ein furchtsamer Abstand zu den Ebenen des Schweigens gewahrt, doch vielleicht war diese Vorsicht zu hoch gegriffen. Es gibt alte Ruinen von Burgen und Dörfern in diesem weiten Grenzgebiet, die mit wenig Mühe wieder befestigt und als nutzbare Güter an Vasallen vergeben werden könnten. Auch die Stadt Kahlar’tha befindet sich noch weiter nördlich als Nordend und ist bis zum heutigen Tage keiner Verderbnis anheim gefallen. Wir sollten Mut fassen und erkunden, wo das verfluchte Land tatsächlich seinen Anfang nimmt und ob es wirklich noch so unwirtlich ist, wie Tausend Jahre alte Mären es uns glauben machen wollen. Indes wird uns ein mächtiges Heer jeden Widersacher vom Leibe halten, dem das Wiedererstarken unseres Ordens widerstreben könnte - und jeden Regenten, dem es einfallen könnte, das Wachstum unserer Macht zu zügeln.“
Raimund Weymar schüttelte belustigt den Kopf. „Ihr habt Euch in Rage geredet, Sir“, verkündete er nachsichtig. „Tut Euch selbst und allen anderen einen Gefallen und nehmt erst einmal einen Schluck kaltes Wasser zu Euch.“ Er füllte einen Becher und schob ihn Sir Heribrand hin, doch der stieß ihn mit einer zornigen Geste von sich. Das Gefäß sauste über die Tafel hinweg und ergoss seinen Inhalt über Sir Raimunds Haupt.
Der Heerführer verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust und richtete sich vorwurfsvoll den nassen Schnurrbart.
Hochmeister Alrich nahm all dies aufmerksam und stillschweigend zur Kenntnis, ohne auch nur so viel wie eine Miene auf seinem gelassenen Antlitz zu verziehen. Dann wandte er sich Sir Heribrand zu. „Ihr ratet uns, den Weg des Trotzes und der Feindseligkeit zu beschreiten“, sprach er in einem ruhigen sachlichen Tonfall. „Sicher seid Ihr Euch darüber im Klaren, dass er uns in die Nähe des Pfades führte, den Eomund zuletzt zu wählen gedachte.“
„Herr, ich erwarte nicht von Euch, die Trennung vom Reich zu proklamieren“, beteuerte der andere. „Wohl aber, dass wir den Roten Drachen ihren rechtmäßigen Platz an der Sonne wiederbeschaffen.“
Arnurs Gedanken waren unterdessen wieder Sir Fenthers Brief zurückgeschweift.
Sir Cerrik hätte sich niemals dieser Söldner bedient, geschweige denn sie mit solch gefährlichen Vollmachten ausgestattet, wenn er nicht selbst an die Wahrheit jener Bedrohung geglaubt hätte. Plötzlich gewahrte er, dass Sir Raimunds Blick auf ihm ruhte. Als der seine Aufmerksamkeit bemerkte, sah er belanglos fort und ließ beiläufig einen Finger über den Schnurrbart gleiten, an dem er einen goldenen Ring trug.
,Nicht alles, was glänzt, ist auch echtes Gold. Es ist nur zu Eurem Besten, wenn Ihr dies beherzigt.’ Ich glaube, ich habe verstanden, dachte Arnur. Doch hinter welcher Maske verbirgt sich wirklich der Schmied und hinter welcher der Schwindler?
„Sir Adonor.“ Als hätte er in seinem Geist gelesen, richtete Hochmeister Alrich seine klaren blauen Augen auf ihn. „Ihr habt die beiden Vorschläge genommen. Wie ist es wohl um Eure Meinung bestellt? Sollte Nordend fortan Hand in Hand mit Elyndorr und dem Reich schreiten oder sollte es zähnefletschend die Mauern seines Machtgebietes verbreitern?“
Unwillkürlich erinnerte sich Arnur an den Rat, den ihm der Seher in Graufels gegeben hatte, und er musste sich fragen, welchen Weg der Hochmeister wohl selbst bevorzugen würde, der es immerhin verstanden hatte, kaum etwas von seinen eigenen Ansichten zu verraten. Während er mühevoll nach einer Antwort suchte, schritten seine Augen den geraden Weg ab, die ihn über den runden Tisch hinweg mit seinem Gegenüber verband. Von ihren Plätzen aus zogen sie gemeinsam eine trennende Linie zwischen den erklärten Widersachern Raimund Weymar und Heribrand Corvulus. Und dann, mit einem Mal, holte ihn die Erkenntnis ein. Sir Adonor hatte seine Entscheidung getroffen.
„Der eine Weg geht arglos von der Wahrheit hinter Sir Fenthers Worten aus“, begann er zu resümieren. „Während der andere fest mit Trug und Täuschung rechnet. Beide dünken mir etwas vorschnell gewählt und beide bergen große Gefahren für die Sache unseres Ordens in sich. Zum einen riskierten wir, Vasallen von Elyndorr zu werden und zu willenlosen Spielfiguren im Machtgefüge eines geeinten Ordens zu verkümmern, wo wir nicht hoffen könnten, unseren Einfluss zu bewahren. Mit unserer momentanen Stärke müssten wir befürchten, im Orden der Grünen Drachen aufzugehen, als dass es uns möglich wäre, einen dauerhaften Zustand des Gleichgewichts zu erstreiten. “ Arnur fühlte Sir Raimunds Enttäuschung schwer auf sich lasten. „Zum anderen würden drohten wir jedoch, uns selbst und jedem anderen in Sin’Arcus ein Grab schaufeln, so wir die Stärke des Reiches in einer Stunde zerrissen, da Einigkeit das dringendste Gebot von allen wäre. Lasst mich Euch daher einen dritten Weg weisen.
So es dem Orden des Lichts ernst mit seinem Ersuchen an uns ist, wird er es uns schwerlich verwehren können, uns von der Wahrheit seiner Worte selbst zu überzeugen. Senden wir einen eigenen Magus der Erkenntnis nach Arxana, der die besagten Portale im Namen unseres Ordens in Augenschein nehmen wird. Sollte er die Wahrhaftigkeit jener Bedrohung bestätigen können, so sollten wir uns dazu durchringen, die
Wahl Livia Lysaneis zur Regentin von Sin’Arcus anzuerkennen. Mit einer solchen Erklärung würde Nordend in keiner Weise die Rechtmäßigkeit der Regentschaft der Lady bestreiten und dennoch wären wir - im Gegensatz zur ausdrücklichen Anerkennung ihrer Herrschaft als solcher - im Recht, nach eigenem Belieben darüber zu befinden, inwieweit sich die Roten Drachen ihrer Verfügungsgewalt unterwerfen werden. Für den Kampf gegen einen äußeren Feind bedürfte es zweifelsohne eines gemeinsamen Heermeisters, jedoch keiner Vergabe unserer Landgüter an freie Ritter und Fürsten.
In jedem Fall aber sollten wir unverzüglich mit dem Ausbau unserer Streitmacht beginnen, wenn auch nicht, um die Konfrontation mit dem Reich zu suchen, sondern vielmehr, um für den Angriff des einen oder des anderen Feindes gewappnet zu sein.“
Die beiden anderen Heerführer waren in widersächliches Schweigen verfallen, doch Sir Alrich bekundete seine Zustimmung mit einem leichten Nicken. „Der dritte Weg ist für wahr nicht immer der schlechteste. Insbesondere dann nicht, wenn dort zwei Widersprüche ihre Vereinigung finden. Da dem Anschein nach keiner unserer Herren hier gewillt ist, von seinem Standpunkt abzurücken, werden wir wohl oder übel auf die Zustimmung des zweiten Heerführers verzichten müssen. Gibt es einen Erkenntniszauberer, den Ihr der besagten Aufgabe für fähig haltet, Sir?“
„Magister Xanthis von Graufels ist ein alter und erfahrener Seher. Mit ihm wird der Angelegenheit wohl gedient sein.“
Und sie wird ihn auf andere Gedanken bringen, als Tag und Nacht in seinem dunklen Turm herumzuhocken und vor lauter Langeweile gegen mich zu intrigieren...
„Wohlan denn, es sei somit entschieden! Sir Fenther wird seine Antwort in Kürze erhalten.“
Vor der Tür des Ratssaals hatten Sir Menfried Langschwert und Sir Wilhelm Westwald, zwei Mitglieder der Drachengarde, Wache gehalten,. Die Drachengarde von Nordend bestand seit jeher aus zwölfen der fähigsten Ritter des Ordens, denen die Aufgabe zukam, das Leben des Hochmeisters zu schützen, auch wenn es ihr eigenes fordern sollte. Zahl und Name dieser Elitegarde waren in symbolischer Anlehnung an die zwölf Drachen gewählt worden, die der Sage nach als San’Guis’ treueste und mächtigste Diener gegolten hatten. Im Vorbeigehen grüßte er Sir Wilhelm, den Kommandanten der Garde, mit einem kurzen Nicken. Als sie den Saal verließen, beauftragte Sir Alrich einen Pagen damit, ihm einen Krug Wein zu beschaffen.

Als Fürst Adonor das Turmgemach, das man ihm als Unterkunft zugewiesen hatte, erreichte, war er froh und dankbar darüber, die feste Eichentür hinter sich schließen zu dürfen. Zwei seiner eigenen Männer aus Graufels hielten draußen Wache und würden ihn von jeder Neuigkeit Unterrichten. Die Wände des Zimmers waren mit prunkvollen Gobelins geschmückt, auf denen San’Guis zuerst in sterblicher und später dann in göttlicher Gestalt abgebildet war, als er die Vielzahl an Aufgaben und Hindernissen bewältigte, die ihm das Schicksal aufgetragen hatte. Hinter einem türhohen Fenster befand sich ein kleiner Balkon, der einen Ausblick nach Osten über die Stadt hinweg auf das Schicksalsauge bot. Der Horizont verlor sich schließlich in einiger Ferne in den Nebelschwaden, die von der Oberfläche des mächtigen Sees aufstiegen. Ein dunkler Schatten hatte sich über die trübe Luft gelegt und verriet Arnur, wie lange der Rat der Vier getagt hatte. Hier, weiter nördlich, trat die Dämmerung zwar noch früher ein als in Graufels, doch dadurch verspürte er nicht weniger Erschöpfung. Plötzlich fiel ihm ein, dass er ja erst am Vormittag dieses Tages in Nordend angekommen war, und er beschloss herauszufinden, wie es um die Härte des Federbettes bestellt war, das sich in seinem Gemach befand. Er war bereits im Nachtkleid, als seine Hoffnungen auf Ruhe und Erholung durch ein verlegenes Klopfen an der Tür zunichte gemacht wurden.
„Fürst Raimund Weymar ersucht ein Wort mit Euch, Herr“, teilte ihm eine dumpfe Stimme von der anderen Seite mit.
Er seufzte. „Lasst ihn herein.“

Sir Raimund trug eine zutiefst betroffene Miene zur Schau. „Ich bin schwer enttäuscht, Sir“, ließ er ihn wissen. „Selbst die Einladung in mein Turmgemach habt Ihr so achtlos in den Wind geschlagen wie eine spröde Jungfer den Frühlingstanz. Sagt mir, wie konnte echtes Gold seinen Reiz für Euch verlieren?“
„Ihr müsst verzeihen, wenn ich zuweilen etwas bescheiden aufgelegt bin.“
„Das war schwerlich zu übersehen, mein Guter. Und es war durchaus die richtige Entscheidung, um in der Gunst unseres verehrten Hochmeisters aufzusteigen. Man müsste gar das Haupt vor Euch verneigen, wenn nicht zu befürchten wäre, dass Ihr Eure Entscheidung eines Tages aufs Schwerste bedauern könntet...“
„Wenn Ihr mir drohen wollt...“
„San’Guis behüte, nicht doch ich! Ihr werdet wohl keinen teureren Freund unter der Sonne finden als Raimund Weymar. Gern hätte ich Euch das Messer eines anderen vom Halse genommen, doch Euer Misstrauen hat mich daran gehindert.“
„Ihr dürft Euch näher erklären, wenn Ihr mögt. Von wessen Messer ist hier die Rede?“
„Von dem Eures Sandkastenfreundes Heribrand Corvulus. Seit er denken kann, liebt er Euch dafür, dass sein Großonkel Helfried bei einer Begegnung mit Eurem Onkel Wotredh, seinem damaligen Konkurrenten, auf eine mehr als eigenartige Weise ums Leben kam.
Wie Ihr sicherlich wisst, befindet sich das Landgut Eurer werten Frau Mutter unweit meiner eigenen Burg. Es betrübt mich, Euch mitteilen zu müssen, dass Sir Heribrand seit kurzer Zeit damit begonnen hat... nun, um Ihre Hand zu werben.“
Es traf Arnur wie ein zischender Schlag ins Gesicht. Es traf ihn wie der Schlag einer alten Reiterpeitsche. Ohne, dass er sich dagegen wehren konnte, glitt sein Finger die lange Narbe zwischen Augenrand und Mundwinkel entlang. Wer ihn kannte, wusste, dass zwischen seiner Mutter und ihm keine Liebe verloren gewesen war. Unter seinen Füßen teilte sich der Nebel und gab den Blick auf einen weiten, endlosen Abgrund frei und von irgendwoher hörte er das spöttische Krächzen eines Rabenvogels. Arnur verschränkte die Hände hinter dem Rücken, um das Zittern darin zu verbergen. Er verfluchte sich dafür, dass ihn die Schwäche in Sir Raimunds Gegenwart überkommen war. „Und sie...?“, brachte er heraus.
Raimund Weymar traf seinen Blick mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns auf dem Gesicht. „Zeigt sich von seinen Aufwartungen nicht unbeeindruckt.“
Ermattet ließ er sich in einen Sessel niedersinken und wies seinem Gast, ebenfalls Platz zu nehmen. Die Bedrohung lag klar auf der Hand. Fürstin Melina galt von je an als Dame von ansehnlicher Gestalt, woran ihre sechsundvierzig Lenzen noch nichts geändert haben mochten. Dies allein konnte einem machtgierigen Fürsten wie Heribrand Corvulus allerdings noch nicht Anreiz genug sein, einer Dame von derart geringem Besitz den Hof zu machen. Das Landgut ihrer Familie, auf welches die Fürstin nach dem Tod ihres alten Gemahls zurückgekehrt war, war nicht größer als einige Meilen lang und breit und konnte sich keiner wertvollen Schätze rühmen. Für Wilmund Adonor, dessen reiche Festung Graufels hoch in den kargen Bergen des Tharacus-Gebirges gelegen war, hatte das Landgut im nördlichen Tiefland einen gewissen strategischen Wert besessen, doch derartige Vorteile vermochte es Fürst Corvulus weniger zu bieten. Melina Adonor hatte ihrem Freier zunächst nur eine spärliche Mitgift zu bieten... solange nicht der Fall eintrat, dass der letzte vom Blut ihres Gemahls den Tod finden würde, ohne einen legitimen Erben in die Welt gesetzt zu haben - dann würde das Fürstentum von Graufels an Melina Adonor übergehen. Vom Blute seines Vaters war Arnur nunmehr der letzte.
„Wie hättet Ihr mir zu helfen gewusst?“, fragte er den anderen.
„Niemand hätte Euch helfen müssen, wenn Ihr Euch im Rat der Vier nur meinem Vorschlag angeschlossen hättet. Habt Ihr wirklich geglaubt, meine Empfehlung hätte Corvulus so sehr widerstrebt, wenn er darin nicht eine Gefahr für sich selbst gewittert hätte? Dachtet Ihr ernsthaft, es sei das Wohl des Ordens, dem seine Sorgen galten? Das Fürstentum, das Sir Heribrands aufsteigendem Geschlecht vor etwa einem Jahrhundert zugefallen ist, zählt selbst zu jenen, die von Rechts wegen an bestimmte Erben zurückgegeben werden müssten, die nicht im Dienste des Ordens stehen. Als die Ritter vom Bund der Freischaffenen vor einigen Jahren mit ihrer Forderung vor Eomund Winthorn traten, befand sich auch ein gewisser Sir Lothar Igramor unter ihnen. Er ist der rechtmäßige Erbe von Sir Heribrands gesamten Besitz. Hätten wir uns heute unter die Gerichtsbarkeit des Ordens des Lichts gestellt, dann wäre morgen schon von unserem mächtigen Widersacher nicht mehr übrig geblieben als ein kläglicher Ritter ohne Land und Namen. Ob Fürstin Melina an den Avancen eines Bettlers auch so hinreißenden Gefallen gefunden hätte? Solche Überlegungen sind nun aber nicht mehr als ferne Tagträumereien.“
Sollte ich mich in der Tat selbst gerichtet haben, ohne es auch nur zu ahnen? „Wozu aber das ganze Gefasel vom Widererstarken des Ordens, wenn Corvulus doch nur seiner eigenen Wege geht?“
Sir Raimund zuckte belanglos mit den Achseln. „Vielleicht hofft er, Sir Alrich zu beerben.“
„Wozu er nicht imstande wäre, wenn er meine Mutter zur Gemahlin nähme.“ Nach alter Vorschrift musste der Hochmeister frei vom Bande der Ehe sein. Seine Liebe sollte den Pflichten seines Ordens gelten und sein Leben nur der Sache seines Gottes geweiht sein.
„Zumindest nicht, ehe er sich ihrer wieder entledigt hätte, wenn Ihr mir die Unverblümtheit verzeiht.“
Arnur hatte mit der Zeit fürs Erste wieder an Festigkeit gewonnen, doch er spürte seine Lider schwer werden. Der Ritt nach Nordend, der Rat der Vier und nun auch noch dieses Ärgernis... Es war mehr, als man einem Mann an einem Tag zumuten konnte.
„Und nun?“, fragte er und schaffte es nur mit Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. „Was ratet Ihr... als Goldschmied, mir nun zu tun?“
„Nun?“, wiederholte der Heerführer überrascht und näherte sich beiläufig der Tür. „Was sollte man Euch nun noch raten? Nun, vielleicht das Übliche, was man einem Verdammten eben noch so zu raten pflegt: Genießt die Zeit, die Euch verbleibt. Lasst alle Sorgen und Bürden von Eurem Geist abfallen und besinnt Euch noch einmal des Wesens Eures Daseins. Tut all das, was Ihr schon immer gern in Eurem Leben getan haben wolltet, bevor...“
„Ich bitte Euch, Sir, auch meine Geduld neigt sich dem sicheren Ende zu.“
Der andere zog bereits allmählich die Tür, während er noch zu überlegen schien. Dann drehte er sich wieder zu Arnur um. „Wisst Ihr, es ist im Grunde immer ratsam, auf der Hut zu sein.“ Die hellgrünen Augen warfen ihm einen unschuldigen Blick zu. „Und, wenn die Gelegenheit zurückkehren sollte, auf das Wort derer zu vertrauen, die es gut mit Euch meinen. Mit Euch und mit dem gesamten Reich.“
Ein plötzlicher Argwohn ergriff von ihm Besitz. „Und nicht etwa mit sich selbst?“
Die Augen seines Gegenübers weiteten sich vor Erstaunen. „Ihr zieht meine Absichten in Zweifel, Sir?“ Sir Raimund schüttelte empört den Kopf, ließ die Hand vom Türknopf fallen und ging.



~ Alyndur ~

Die Nebel begannen, sich zu lichten. Langsam, aber sicher gaben sie den Blick auf einen felsbewehrten Horizont frei, der sich nun nicht mehr in allzu weiter Ferne zu erstrecken schien. Auch das Land um sie herum gewann zusehends an Bäumen und sonstigem Pflanzenbewuchs und zeigte mittlerweile deutlich mehr Höhenunterschiede als noch wenige Tage zuvor. Wenn sie sich tagsüber einfach auf den Horizont verließen, dann würde es ihnen nicht möglich sein, die Adlerberge zu verfehlen. Wenn sie erst im Innern des Gebirges waren, würde es wichtig sein, sich nach dem Stand der Sonne und nach den Gestirnen am Nachthimmel zu richten, um nicht in der Weite der sagenhaften Berge die Orientierung zu verlieren. Doch ehe sie die Ausläufer des Gebirges erreichen würden, gab es andere Probleme zu bewältigen. Die ansehnliche Menge an Proviant, mit der sich Alyndur aus der Gesellschaft der Karawane gestohlen hatte, war nun fast zur Neige gegangen. „Seht!“, rief er von Calderions Rücken zu Anoras Stute herüber. „Hinter der Hügelgruppe dort vorne scheint sich ein Gewässer aufzutun. Wenn wir uns beeilen, werden wir es noch vor Anbruch der Dunkelheit erreichen. Dort können wir endlich wieder unsere Wasservorräte auffüllen und vielleicht wird es uns sogar möglich sein, ein paar Fische zu fangen. Mit etwas Glück könnte es sich um einen See handeln, der von einem Fluss gespiesen wird, dessen Lauf wir geradewegs in die Adlerberge folgen können, sodass wir stets mit frischem Wasser versorgt sind.“
Alyndur war einerseits froh, die endlosen Ebenen mit ihren ebenso wenig enden wollenden Nebeln endlich hinter sich zu lassen, doch andererseits lastete jene Nacht, da er seinen Wein mit Anora geteilt hatte, noch immer schwer auf seinem Gemüt. Es war, als hätte er ein Stück von sich selbst an jener Raststätte zurückgelassen. War es wirklich klug gewesen, einen Teil seiner Geschichte so leichtfertig preiszugeben? Zwar hatte Anora es bisher unterlassen, dort mit Fragen anzusetzen, wo er es im Nachhinein befürchtet hatte, doch was bislang nicht geschehen war, konnte ebenso gut später noch eintreffen. Es mochte stimmen, dass die Meinung der Elfe über ihn von geringer Bedeutung war, solange sie auf Gedeih und Verderb auf die Hilfe des anderen angewiesen waren, doch wer vermochte zu sagen, was die Zukunft bringen würde? Hinzu kam, dass der Waldläufer im Gegenzug kaum etwas über seine Begleiterin in Erfahrung hatte bringen können, was seine eigenen Belange hätte aufwiegen können. Selbst ganz davon abgesehen, was Anora über ihn denken mochte, entschied Alyndur, dass ihm die Vorstellung nicht behagte, die Wahrheit jemals wieder ans Tageslicht zu kehren, die er über so lange Zeit hinweg in seinem Innern vor den Augen der Welt verborgen gehalten hatte wie ein Vater seinen entstellten Sohn. Sie preiszugeben war, als ließe er sich sein innerstes Fleisch mitsamt seiner Adern nach außen kehren, sodass seine hautlosen Muskeln schutzlos an der offenen Luft brannten und sein Blut ungehindert aus seinem Körper herausströmte. Lieber sollten all die ungeliebten Erinnerungen bis hin zu seinem letzten Tage im Kerker seines Geistes verweilen und dann mit ihm das Angesicht der Welt für immer verlassen.
Im Reich des Weines galten jedoch andere Regeln als die der Vernunft und der Weitsicht. Es hieß, unter seinem Einfluss verlöre man gar das Empfinden für Schmerz, was Alyndurs Gemüt nunmehr zu bestätigen wusste.
Unwillkürlich schweiften seine Gedanken in eine Zeit zurück, da ein längst vergangener Weiser sein Möglichstes getan hatte, um ihn vor diesen Gefahren zu warnen.

Es war der Abend nach einer bedeutenden Schlacht gewesen, da die Raben schon zu dutzenden auf den Leibern der kläglich gefallenen Feinde gespiesen hatten. Der Plan eines großen Mannes hatte ihm und seinen Mitstreitern einen ruhmvollen Sieg geschenkt, der beinahe lediglich mit dem Blut der überraschten Gegner bezahlt worden war. Die Stimmung im Feldlager hatte ein euphorisches Ausmaß angenommen. Von überall her schallten die Rufe der Männer, die den Namen ihres großartigen Feldherrn ehrten. Aber bald schon, als die Trunkenheit im Lager nicht mehr allein dem Siege zu verdanken gewesen war, hatte Alyndur inmitten der Krüge vergeblich nach dem Manne Ausschau gehalten, dem die meisten Trinksprüche jenes Abends gegolten hatten. Schließlich fand er ihn an einer abgelegenen Feuerstelle am Rande des Lagers, wo die Laute der Krieger meist nur noch aus der Ferne zu vernehmen waren.
Wotredh saß auf einem Stein in der Nähe der Flammen und säuberte die Klinge seines Schwertes von dem Blut, das er am jenem Tage vergossen hatte. Als er Alyndurs Schritte vernahm, blickte er auf und lächelte zuvorkommend. „Nach der Schlacht ist vor der Schlacht. Sie täten gut daran, das nicht zu vergessen.“
„Sie feiern den Sieg - Euren und Ihren. Ist das nichts, worüber man ein paar Fässer vergießen dürfte?“
„Der Feind wurde niedergeworfen“, räumte der Heerführer unbeeindruckt ein. „Aber wollt ihr euch deshalb gleich zu ihm ins Gras legen? Nur zu, er wird es euch danken, wenn er genug Kraft finden sollte, um wieder aufzustehen.“
„Die Späher berichten von keiner weiteren Armee innerhalb von drei Tagesmärschen“, erwiderte Alyndur.
Dem entgegnete Wotredh mit einem herzlichen Lachen. „Es gibt noch andere Gründe, die es dir nahelegen, deine Fässer lieber über Sand zu vergießen.“ Er winkte Alyndur zu sich heran und hielt ihm plötzlich die Spitze seiner Klinge an die Kehle.
„Was ist das?“
„Ein Schwert?“
„Was noch?“
Alyndur zuckte ahnungslos die Schultern.
„Ein Geist. Es könnte deiner sein. Fahr mit deiner Hand über die Seite.“
Er tat wie ihm geheißen und erntete dafür einen Schnitt auf der Handfläche. „Es ist scharf.“
„Ein scharfer Geist also. Mehr fällt dir nicht auf?“
„Es gibt ein paar Kerben entlang der Seite.“ Er überlegte eine Weile, bis ihm klar wurde, was sein Gegenüber hören wollte. „An einigen Stellen ist sie nicht mehr so scharf wie an anderen.“
Wotredh nickte zufrieden. „Rinnsale deiner Fässer. Jedem Krieger steht es frei, im Rausch mit seinem Schwert so lange und so oft auf Fels zu schlagen, wie es ihm beliebt. Doch er sollte sich darüber im Klaren sein, welchen Schaden er damit an seiner Waffe anrichtet. Dieses Bewusstsein ist es, was den wahren Unterschied zwischen einem Waffenknecht und seinem Heerführer ausmacht, nicht die bloßen Titel.“
„Die Klinge lässt sich aber wieder schärfen“, warf Alyndur ein. „Wenn man einen Wetzstein zur Hand nimmt.“
„Das ist richtig“, gab ihm sein Lehrmeister Recht. „Doch ihre Substanz lässt sich nicht wiederbeschaffen. Sie geht für immer verloren. Stück für Stück, bis es dir passieren kann, dass dein Schwert eines Tages unter dem Schlag eines Gegners nachgibt, wenn du es am dringendsten benötigst.“
Alyndur nickte nüchtern. „Ich werde fortan keine Krüge mehr lehren, wenn das Euer Wille ist.“
Wotredh bedachte ihn mit einem amüsierten Lächeln. „Du missverstehst mich. Es ist nicht mein Wille, dass du keine Krüger mehr leerst.“
„Nicht?“
„Nein. Mein Wille ist es, dass du beginnst, deinen Verstand als Waffe zu begreifen. Ob du dein Schwert pflegst und führst wie ein Kämpfer seine Waffe oder wie ein Bauer seine Feldhake, bleibt dir selbst überlassen. Nur sei dir über Eines im Klaren.“
„Ja?“
„Kein Schmied der Welt vermag, dir ein neues zu geben.“

Es war eine jener Lektionen, die man sein Leben lang nicht vergaß, selbst wenn man ihre Mahnung wieder und wieder missachtete. Im Grunde war es doch bedauernswert, dass ein Mann wie Wotredh so früh hatte aus dem Leben scheiden müssen.
Da das Gewässer noch in einiger Ferne lag, nutzte Alyndur schließlich die Muße, indem er das Wort plötzlich auf eine Frage lenkte, die mit jedem Tag, da sie sich den Adlerbergen näherten, dringender wurde. „Das Gebirge ist groß. Wo meint Ihr, sollten wir mit der Suche nach dem Magier beginnen?“ Ihm selbst waren bislang nur ein paar Einfälle gekommen.
„Ihr werdet vielleicht schon einmal von dem Ort gehört haben, den man ,Winterkrone' nennt. Als höchster Gipfel der Adlerberge findet er in vielen alten Sagen und Geschichten als uralter magischer Platz Erwähnung. Wenn nur ein Bruchteil all dieser Legenden der Wahrheit entspricht, könnte sich dort im Laufe der Zeitalter möglicherweise die eine oder andere Spur manifestiert haben, die auf unser Ziel schließen lassen könnte. Diesen Gipfel aufzusuchen, wäre wohl zumindest ein ratsameres Unterfangen, als gänzlich ohne Plan und Vorhaben durch die Berge zu ziehen. Vielleicht könnte es sich auch als lohnend erweisen, an dem einen oder anderen Ort, der von Ulbruns Volk bewohnt wird, Näheres über das in Erfahrung zu bringen, was uns in den größeren Höhen bevorsteht. Vermutlich werden wir das Weite Reich auf dem Weg in das tiefere Gebirge ohnehin durchqueren müssen und können dort auch neue Ausrüstung ergattern. Hoffen wir nur, dass es uns gelingen wird, uns mit den Einwohnern dort zu verständigen...“ Der Waldläufer machte eine Pause und lächelte bitter. „Und lasst uns hoffen, dass ihnen noch niemand von den Geschehnissen in der Karawane berichtet haben wird.“
 
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