~ Arnur ~
Als sie das Südtor passierten, war die Buntheit der Menschen das erste, was Arnur ins Auge stach. Jede größere Stadt schmückte sich mit der Vielfalt ihrer Einwohner, mit deren äußerlichen Unterschieden wie auch mit den übrigen Verschiedenheiten, die mit von Handwerk, Stand und Besitz einhergingen. Die alte Metropole von Nordend war jedoch dort angelegt worden, wo mindestens zwei, wenn nicht mehr verschiedene Völker und Kulturen der Menschheit aufeinander trafen. So zählte es auch zu ihren besonderen Wesenszügen, dass diese Unterschiede im Antlitz ihrer Bewohner und Besucher sichtbar wurden. Neben den Bauern, Händlern und Gesellen, wie man sie auch in allen anderen Städten des Reiches zu Gesicht bekam, gingen hier auch viele Gestalten ihres Weges, die in Felle wilder Tiere gehüllt waren und die Knochen ihrer Beute, wie auch andere sonderbare Gegenstände, als Schmuck gebrauchten. Der Handel mit den unterworfenen Stämmen, die die Wälder östlich von Nordend entlang des großen Sees mit dem Namen Schicksalsauge bevölkerten, war von je an von enormer Wichtigkeit für den Wohlstand von Nordend und damit auch für seine Stellung gegenüber dem Thron von Sin’Arcus. Die Wilden gewannen Holz, Felle, Bernstein und andere Tiertrophäen oder wertvolle Rohstoffe aus den Weiten ihrer Jagdgründe. Sie lieferten sie in großen Mengen gegen einen Spottpreis an altem Metall, Brot und anderen Dingen, an denen es im Reich nicht mangelte, an den Hochmeister, oder besser an seinen Verwalter. Kostspieliger waren dagegen die Händler aus dem fernen Osten, die Nordend über den Strom des Langen Armes mit schnellen wendigen Booten, aber auch mit schwereren Lastschiffen erreichten. Der große Fluss speiste das Schicksalsauge an einer entfernten Mündung in tiefen den Wäldern, die es größtenteils umgaben. Die Ostländer brachten vor allem seltene Gewürze und Pflanzen, die Trophäen exotischer Bestien, und auch furchtlose Elitesöldner aus ihren mystischen Ländern für teures Geld mit sich. Diese Waren ließen sich für gewöhnlich von Nordend zu einem noch höheren Preis in die übrigen Gebiete von Sin’Arcus weiterverkaufen. Der Weg über den besagten Fluss war alles andere als ungefährlich, zumal er nicht nur eine beachtliche Weile lang durch unerschlossene Wälder hindurch verlief, sondern sogar ein Stück weit durch die Ebenen des Schweigens, ehe er sich endgültig nach Osten wandte, doch seit der letzte Hochmeister den Handel mit den Ländern des Sonnenaufgangs ausgebaut hatte, waren die Fahrten vom einen Ort zum anderen stets von so großem gegenseitigen Nutzen, dass man alle Risiken dafür in Kauf nahm. Für einige der Händler und Seeleute pflegte sich die Reise bereits dadurch zu lohnen, dass sie von den Wirten der Stadt geworben wurden, um in ihren Gasthäusern und Schankstuben Märchen und Geschichten aus den fernen Ländern zum Besten zu geben.
In Nordend hatten sich ganze Gilden gebildet, die darauf spezialisiert waren, die fremdartigen Dinge zu seltenen Fertigwaren von höchstem Wert weiterzuverarbeiten. Unter der schützenden Hand des Hochmeisters achteten die Meister der Zünfte mit höchster Strenge darauf, dass ihre Kunst nur innerhalb der Mauern der Stadt angewandt wurde und dass ihre Geheimnisse in keinen anderen Teil des Reiches gelangten.
Auch in früheren Tagen waren es neben einer gewaltigen Heeresmacht bereits diese üppigen Einkünfte gewesen, die Nordend eine besondere Stellung im Reich verschafft hatten. Sie hatten es den Roten Drachen gestattet, einem gewählten Regenten von Sin’Arcus Anerkennung und Beistand zu verweigern, ohne dass sie seine Missgunst zu fürchten gehabt hätten. Selbst eine Absonderung vom übrigen Reich hatte nicht ausgereicht, um Nordend an den Rand des Ruins zu treiben, solange der Handel mit den fernen Ländern floriert hatte.
Vor vielen Dekaden jedoch hatte der lange verheerende Krieg zweier Reiche im Osten den Austausch mit Nordend vollends zum Erliegen gebracht. Dies war zu einer Zeit geschehen, da ein Kräftemessen zwischen den Roten Drachen und dem übrigen Reich stattgefunden hatte. Der damalige Hochmeister, Arnurs Großvater Hadumer Adonor, hatte sich daraufhin in Nordends wachsender Güternot zu einer verzweifelten Entscheidungsschlacht gezwungen gesehen, die eine peinliche Niederlage für die Roten Drachen zum Ausgang gehabt hatte. Sir Hadumer hatte als Hochmeister abdanken müssen und der Orden war in einen Zustand der Schwäche verfallen, der über Jahrzehnte hinweg angehalten hatte. Eines Tages war dann ein hoher Ritter namens Eomund Winthorn in die fernen Länder des Ostens gereist, die noch immer miteinander im Krieg gelegen hatten. Mit großem diplomatischem Geschick war es ihm gelungen, die beiden Herrscher dazu zu bewegen, ihre alte Fehde zu begraben, wofür man ihm später die Würde des Hochmeisters verliehen hatte. Seither war der Handel mit Nordend wieder aufgeblüht und die Stärke der Roten Drachen hatte wieder allmählich zu wachsen begonnen.
Einem Besucher, der ihre Stadt betrat, musste noch etwas anderes auffallen. Keine Gestalten hielten sich an den Rändern der Gassen auf, um die Vorbeigehenden an den Ärmeln zu zupfen. Denn sowohl Bettlerei als auch Hurerei waren in den Straßen von Nordend bei höchster Strafe verboten. Besonders Sir Eomund Winthorn hatte in der Zeit, da er auch als letzter Regent über Sin’Arcus geherrscht hatte, mit größter Sorgfalt und erbitterter Strenge darauf geachtet, dass Ordnung und Sauberkeit hinter den Mauern der damaligen Hauptstadt vorherrschten, wie auch davor. Diese Härte hatte dem ganzen Reich als Vorbild dienen sollen und einen besonderen anklagenden Hohn an den Hochmeister von Elyndorr in sich geborgen, der sich längst mit der Hoheit des Gesindels in seinen Straßen abgefunden zu haben schien. In Sir Eomunds Umfeld war sogar zynisch darüber gemunkelt worden, ob Sir Cerrik vielleicht selbst einen gewissen Nutzen aus dem Chaos in den Gassen seiner Stadt zu ziehen verstünde. Vor zwei Jahren, als Lady Lysanei vom Orden des Lichts zur Nachfolgerin Sir Eomunds auf dem Thron von Sin’Arcus gewählt worden war, hatte der alte Regent in seiner Wut beschlossen, die Abspaltung Nordends und aller Ländereien, die unter der Herrschaft der Roten Drachen standen, von Sin’Arcus zu erklären, um sich selbst zum König eines neuen Nordreiches auszurufen. Kurz vor der Krönungszeremonie, war er jedoch von seinem alten Waffengefährten Alrich Reckard gestürzt und in die Verbannung geschickt worden. Im Zerfall des bestehenden Reiches hatte Sir Reckard den Beginn einer Katastrophe für das Volk der Menschen gesehen, doch die Gesetze und Vorschriften seines alten Freundes und Vorgängers, die die Ordnung in der Stadt betrafen, hatte er bis zum heutigen Tage keiner Änderung unterzogen.
Arnur war dennoch von dem tönenden Trubel angewidert, der sie unmittelbar hinter dem Südtor empfangen hatte. Im Grunde hätte er es vorgezogen, den Umweg durch das kaum benutzte Nordtor zu nehmen, doch dies wäre vermutlich noch auffälliger gewesen. Auch, wenn Elyndorr im ganzen Reich als Stadt der Spione und der Intrigen galt, durfte man nicht dem Glauben verfallen, dass Nordend weniger Augen besäße. Zwar würde sich die Kunde von der Ankunft des Heerführers von Graufels ohnehin unweigerlich verbreiten, doch je später dies geschah, desto lieber war es ihm. Es war ein grundlegender Bestandteil von Arnurs Wesen, stets mit Trug und Gefahr um sich herum zu rechnen, auch wenn andere nur über seine Sorgen lächelten. Wenig verwunderlich, wenn man in der Obhut eines blinden alten Mannes erzogen worden ist, der von sich selbst nur so wenig preisgab, wie nur irgend nötig. Das Wenige, das er hatte verraten müssen, hatte stets auf noch weniger Gutes schließen lassen. Fürst Adonor hätte wohl ebenso gut in den Straßen von Elyndorr aufgewachsen sein können wie in der sicheren Feste seines alten Hauses. Vielleicht war es auch diese tiefgreifende Verfolgungsangst, die es dem Herrn von Graufels gestattet hatte, so lange zu überleben, denn die Ritter der Roten Drachen zählten seit langem nicht mehr zu den beliebtesten des Reiches, umso weniger ihre Herren. Welch üppiger Dank vom Volke der Menschen für das Versprechen, es für alle Zeit vor seinen Feinden zu schützen. Arnurs Furcht wegen hatte sich sein treuer Zwillingsbruder Amar eines Tages von selbst dazu bereit erklärt, bei Reisen in die Fremde für den Schein nach außen hin Arnurs Rolle zu spielen... und vor noch nicht allzu langer Zeit den Lohn dafür geerntet. Erst, als er zurück in Graufels gewesen war, hatte Arnur die wahre Tragweite des Verlusts eingeholt. Es war gewesen, als hätte sich unter seinen Füßen ein alter wohlbekannter Abgrund von neuem aufgetan und für einige Tage hatte er über gähnender Leere gestanden... bis zu jener Nacht, da er mit Baldur auf dem Hof des Bauern Berenson einige engere Worte gewechselt hatte. Seitdem hatte wieder eine zarte Ruhe von ihm Besitz ergriffen und die Tiefe unter seinen Füßen war von freundlichen Nebelschwaden verdeckt worden.
Plötzlich teilte sich die Menge vor ihnen und gab den Blick auf ein Dutzend Fußsoldaten frei. Sie waren mit Lanzen und Hellebarden bewaffnet waren und trugen Spangenhelme auf den Köpfen, Wämser und Umhänge waren weiß und zeigten je einen roten Drachen auf Brust und Rücken, der in einer nach vorne gestreckten Pranke eine eiserne Lanze führte - das Wappen der Stadtwache von Nordend. Die Männer marschierten in zwei Sechserreihen nebeneinander her und näherten sich ihnen im strammen Gleichschritt mit einem berittenen Krieger in der Mitte. Dieser war auf ähnliche Weise gekleidet wie seine Infanteristen, doch dort, wo sie Weiß trugen, zeigte er Rot, wohingegen der bewehrte Drache auf seiner Brust in Weiß erschien, was ihn als gesalbten Ritter San’Guis auswies. Der Kommandant der Stadtwache empfing Arnur mit einer leichten Verneigung. „Fürst Adonor“, begrüßte ihn Sir Chlotred Fenir, der ihm noch von früheren Besuchen in Nordend bekannt war. Gerüchten zufolge hatte sein wildes unbändiges Haar darauf hingedeutet, dass der Ritter von den alten Heiden- und Wiesenbewohner abstammte, die vor der Errichtung Nordends in den Weiten dieser Gegend ein einfaches Dasein als Jäger und Sammler gefristet hatten. Seitdem trug er es nie länger als eine Daumenbreite. „Nun, da ihr eingetroffen seid, wird der Rat der Vier in Kürze stattfinden. So Ihr es wünscht, werde ich Euch umgehend zur Burg geleiten.“
„Es wäre mir eine Ehre“, antwortete Arnur formgemäß.
Aus Höflichkeit bat er Sir Fenir, ihm von Neuigkeiten aus der Stadt zu berichten. Doch bald stellte sich heraus, dass es sich vorwiegend um Menge Belanglosigkeiten handelte und Arnur begann, seine Bitte zu bereuen. Etwa sei es vor einigen Tagen in einem Schankhaus zu einem blutigen Streit gekommen, als ein wilder Jäger einem Seemann seine Erzählung von einer Fahrt in den Osten nicht habe glauben wollen. Gestrige Nacht sei eine Hand voll betrunkener Diebe in eine Wachkaserne am Hafen eingestiegen, die sie für eine Lagerhalle für seltene Waren gehalten hatten, doch das einzige, was bei Arnur so etwas wie Interesse erregte, war der Hinweis darauf, dass in einiger Zeit wieder einmal der Wettstreit zur Sonnenwende bevorstand. Bei den Wettkämpfen in Nordend handelte es sich um altbewährte Feierlichkeiten, die noch immer Kämpfer und Besucher aus allen Teilen des Reiches und darüber hinaus in die Stadt der Roten Drachen zogen. Groß waren der Ruhm und das Ansehen eines Streiters, der aus einer der verschiedenen Disziplinen als Meisterrecke hervorging, wie etwa im Turnier der Lanzen, dem Freien Zweikampf, dem Kampf der Waffenlosen, dem Streit der Fernwaffen, dem Wagenrennen oder dem Blutstreit. Für diese Tage hatten alle Fehden und Zwietrachten innerhalb der Mauern von Nordend zu ruhen, wer auch immer sich darin befinden mochte. Überdies war es die einzige Zeit, da auch Angehörige anderer Völker als dem der Menschen als Gäste in der Stadt geduldet wurden, denn es wurde nicht ungern gesehen, wenn ein Elfenschütze oder ein Zwergenkrieger dem Geschick eines menschlichen Kontrahenten unterlag. Tat sich hingegen der andere in einer Disziplin als Meisterrecke heraus, so fand sich stets ein Dritter, der beim nächsten Wettstreit zu noch größerem Ruhm gelangte, indem er der Menschheit seinen anbestimmten Platz als erstes unter den Völkern von Sin’Arcus zurückeroberte.
„Das gemeine Volk schließt bereits Wetten zu hunderten ab, die Händler sind eifrig bemüht, ihre Vorräte aufzustocken und die Gastwirte erhöhen schon allmählich die Preise für ihre Unterkünfte. Ihr mögt Euch glücklich schätzen, dass Euch ein Platz in der Burg sicher ist, mein Fürst.“
Allmählich ließen sie das Labyrinth der gemeinen Straßen hinter sich und traten den Weg auf den Burghügel an, der sich bis zu zweihundert Meter über die übrige Stadt erhob. Wann immer ihnen Herrschaften von Namen begegneten, war Sir Fenir derjenige, der die erhabensten Grüße und die schmeichelhaftesten Wünsche erfuhr. Um
die verheerenden Pläne seines Vorgängers zu vereiteln, hatte der jetzige Hochmeister Alrich Reckard den damaligen Kommandanten der Stadtwache, Sir Raimund Weymar, für sein Vorhaben geworben. Als Lohn für seinen Dienst war Sir Raimund später auf den Platz eines der drei Heerführer nachgerückt, der nach der Salbung des neuen Hochmeisters frei geworden war. Daraufhin hatte der alte Kommandant Sir Chlotred Fenir, den Hauptmann seines größten Vertrauens, zu wiederum seinem Nachfolger bestimmt. Arnur warf seinem Begleiter einen flüchtigen Blick von der Seite zu. Harrt nun der neue Kommandant der Stadtwache seinerseits auf des Schicksals günstige Stunde?
Nach einem müßigen Aufstieg erreichten sie endlich das Tor zum inneren Hof der Burg Blutdorn. Fürst Adonor bedankte sich bei seinem Führer und übergab sein Pferd in die Obhut eines Stallknappen. Eine Allee aus alten Blutbuchen zog sich über den weiten Burghof hin und markierte den direkten Weg zum Bergfried, dessen höchster Turm einen langen Schatten bis zu den Häusern am Fuße des Burghügels warf. Wie ein steiler Riese ragte er vor Arnur auf. Die großen Bäume trugen nur noch an einigen wenigen Stellen rotes Laub zur Schau, das meiste ihrer Sommertracht lag bereits in welken Haufen zu Füßen der dunklen Stämme.
Ein Regenschauer brach aus den grauen Wolkenschleiern hervor, die die Sicht auf den spätherbstlichen Vormittagshimmel verdeckten. Eine raunende Windböe spielte mit den Zweigen der Bäume. Sie ließ das tote Laub lebendig werden und den Ritter unter seiner Tunika frösteln. Als die Herbstblätter in wirbelnden Luftströmen vor seinen Schritten flohen, fühlte sich der Heerführer unwillkürlich an einen fernen Tag aus seiner frühen Kindheit erinnert. Er, Arnur Adonor, Sohn und Erbe des Fürsten Wilmund Adonor, saß vor seinem Vater auf dessen Rappen. Auch sie hatte es damals nach Nordend geführt und, wenngleich Arnur sich des Anlasses nicht mehr entsinnen konnte, erinnerte er sich doch noch genau an das Stöhnen des Windes. Rastlos war er über das kahle Land gestrichen wie ein Rudel hungriger Wölfe und hatte zahllose bunte Blätter wie große Herden von Weidenvieh unermüdlich vor sich her gescheucht. Arnur erinnerte sich auch daran, wie sich sein Vater von hinten über ihn gebeugt hatte und mit einem zitternden Finger auf den Turm des Blutdorns gewiesen hatte, als er gerade am Horizont sichtbar wurde.
Es war eine der wenigen unverschwommenen Erinnerungen, die Arnur an seinen Vater hatte, der damals schon ein Greis von über achtzig Lenzen gewesen war. Seit dem frühen Tode Wotredh Adonors hatte Sir Wilmund sein ganzes Dasein im Schatten seines älteren Bruder gefristet und, wollte man den Worten des Sehers Xanthis glauben, so hatte er schwer an dieser Bürde getragen. Die große Leere, die Wotredh im Machtgefüge des Ordens wie auch im Selbstbild ihres gemeinsamen Vaters Hadumer hinterlassen hatte, hatte Wilmund aller Mühe zum Trotz nicht zu füllen vermocht. Stattdessen hatte er mit ansehen müssen, wie ein großer Teil der Stärke der Roten Drachen mitsamt dem Lebenswillen seines Vaters an der eiternden Wunde, die ihnen Wotredhs Verlust zugefügt hatte, allmählich und doch unaufhaltsam zugrunde ging. Indes war es Wilmund selbst beschieden gewesen, Dekade um Dekade als machtloser Zeuge jenes langsamen Untergangs die Zeit zu überdauern, bis es ihm schließlich im Spätherbst seines Lebens noch geglückt war, ein Paar gesunder Zwillinge zu zeugen und wenig später in der matten Hoffnung dahinzuscheiden, dass das verlorene Erbe seiner Familie in den beiden Söhnen fortleben möge. Arnurs Gefühl nach musste Wilmund Adonor ein äußerst gütiger und nachsichtiger Vater gewesen sein, dessen Herz unter der Last der Jahre, die er gezählt hatte, zur Milde erweicht worden war. Obgleich Xanthis zu erzählen wusste, dass der letzte Fürst von Graufels sehr bemüht gewesen sei, ihn, Arnur, auf alles vorzubereiten, was ihn als dessen Erbe erwarten würde - jedoch bereits in so frühen Jahren, dass selbst der gefühlskalte Seher entschieden der Meinung gewesen sei, dass es noch nicht an der Zeit für derartige Lektionen gewesen sei. Vermutlich hatte der dringliche Eifer seines Vaters darauf beruht, dass Sir Wilmund den nahenden Tod bereits in seinen alten Knochen gespürt hatte. Auf dem Sterbebett hatte er schließlich die standesgemäße Erziehung seiner Söhne in die Hände seines alten Dieners Xanthis gelegt. Nun, der treue Xanthis hatte seine Aufgabe wohl erfüllt - mit der gleichen förmlichen Kälte, mit der er auch jede andere Pflichten erfüllt hatte.
Während sein Vater ihm seine letzten Jahre gewidmet hatte, hatte sich dessen anderer Sohn Amar, der als Erbe erst an zweiter Stelle stand, nahezu ununterbrochen in der Obhut seiner jungen Mutter befunden. Fürstin Melina war eine Maid von vierzehn Lenzen gewesen, als sie dem achtzigjährigen Wilmund Adonor zugeführt worden war. Dieser habe sich laut Xanthis sehr darum gesorgt, dass es seiner letzten Gemahlin an nahezu nichts fehlte, was sie begehren mochte, und ihr kaum einen Gefallen abgeschlagen. Dennoch war sein Alter ein unauslöschlicher Makel geblieben, den Melina Adonor ihrem Gemahl nie verziehen hatte. Vielmehr hatte sie es zum Anlass genommen, in ihrem Herzen einen unstillbaren Hass gegen den Greis zu pflegen, der, wie sie es später nannte, „die Blüte ihrer Jahre verwelkt“ habe. Doch damit war es nicht genug gewesen. Spätestens nach dem Tod ihres Gemahls war sie dazu übergegangen, die schändlichen Gefühle ihm gegenüber auch auf ihren gemeinsamen Erstgeborenen zu richten. Da er ihrer Obhut früh entrissen worden war, um ganz im Sinne seines Vaters erzogen zu werden, war es ihr gewesen, als habe dieser fürderhin seinem ältesten Sohn fortgelebt. Lange hatte Arnur vergebens zu begreifen versucht, was es mit dieser tiefen Abscheu seiner Mutter wirklich auf sich gehabt hatte, die er auf irgendeine ihm verborgene Weise auf sich gezogen haben musste... bis es ihm schließlich eines Tages ins Gesicht geschrieben worden war. Seither hatte er von Fürstin Melina nichts mehr vernommen, doch für ihn brauchte es nicht mehr als einen beiläufigen Blick in den Spiegel, um sich ihrer letzten Begegnung vor vielen Jahren zu erinnern.
Ein paar Spatzen stoben aus den Blättern vor ihm auf und von irgendwoher vernahm Arnur das spöttische Krächzen eines Rabenvogels.
Die Wachen am Eingang des Bergfrieds traten einen Schritt weit auseinander und ließen den Heerführer passieren. Hinter der Tür kam es ihm schlagartig wärmer vor als draußen in der offenen Herbstluft, sodass er bald ins Schwitzen kam. Ein Page geleitete ihn ins Innere der Burg, vorbei Wachen und Gesinde und vorbei an Räumen und Gemächern, die er bereits schon früher zu Gesicht bekommen hatte. Schließlich verabschiedete sich der Knabe und Arnur trat in einen Vorsaal hinein, der ihm ebenfalls schon bekannt war. Dort wurde er bereits von den übrigen Mitgliedern des Rates der Vier erwartet.
„San’Guis sei Dank! Es ist gut zu sehen, dass Ihr zu uns gefunden habt.“ Zu ihm sprach ein breitschultriger Weißschopf, bei dem es sich um niemand anderen als den Hochmeister von Nordend selbst handeln mochte. Klare wasserblaue Augen bedachten Arnur mit einem festen und sicheren Blick aus einem offenen und ehrlichen Gesicht. Sir Alrich Reckard war seit seinem letzten Besuch sichtbar gealtert, aber noch ließ sein Antlitz nichts vermissen, das nötig gewesen wäre, um ihn als auffallend wohlgestalteten alten Krieger zu betrachten. Noch immer übte er über jeden Gesichtsmuskel eine solch ungebrochene Herrschaft aus, dass Arnur sich nicht sicher war, ob er es vollends ernst mit seinen Worten meinte oder sich eher einen Spaß aus ihm machen wollte.
Fürst Adonor verneigte sich zum Gruß. „Vergebt mir, Herr. Es war eine dringliche Angelegenheit, die mich von Graufels fortrief, ehe ich dort die Kunde vom Rat der Vier empfangen konnte.“
„Gewiss doch, Sir“, erklärte Raimund Weymar fröhlich. „Wer könnte Euch den kleinen Ausritt in die Ebenen des Schweigens schon verdenken? Ohne Zweifel wird er sich für Euch schon in irgendeiner Weise bezahlt gemacht, nehme ich doch an?“
Aber gewiss doch. Ich bin um die seltene Erfahrung reicher geworden, wie es ist, Auge in Auge mit einem Halunken zu stehen, der meinem Bruder aus purer Belanglosigkeit das Leben nahm, ohne dass ich ihm auch nur ein Haar hätte krümmen dürfen.
Von Sir Raimunds Empfang war Arnur wenig überrascht. Es lag in der Natur dieses Mannes, unermüdlich seinen Spott über andere zu treiben, mochte man ihn dafür lieben oder hassen. Es gab aber jemanden, der sich deutlich besser darauf verstand, ihn in Unruhe zu versetzen. Dieser jemand machte keinerlei Anstalten, mit dem Hohn der anderen zu wetteifern. Er tat nichts weiter, als Arnur mit einem stillen Blick zu fesseln. Mit einem Blick, der mehr Worte verlor als jeder Satz, mehr als jede Bemerkung. Dieser Blick allein schien alles Erdenkliche sagen zu wollen... bis auf etwas Gutes. Sir Heribrand Corvulus war etwa an die zwanzig Jahre älter als Arnur und ein gutes Stück größer. Er trug den mächtigen Bau eines Auerochsen zur Schau und zeigte stark behaarte und wettergegerbte Hände, die wie die Klauen einer Bestie an seinen langen Armen herabhingen. Sein schwarzer Schopf war noch immer vollständig, wenngleich auch an einigen Stellen schon ein wenig ergraut. Die Nase des Mannes war lang und kräftig und lief am Ende zu einer gebogenen Spitze zusammen wie der Schnabel eines Raben. Wenn er nicht gerade seine raue Stimme ertönen ließ, schienen seine Lippen wie hart aufeinander gepresst. Die buschigen Brauen saßen tiefer und bedrohlicher, als ihresgleichen das Recht dazu gegeben war. Die freudlosen Augen, die irgendwo in den dunklen Höhlen darunter hausen mussten, starrten unerbittlich auf einen herab. Als Arnur diese Erscheinung das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, hatte er unwillkürlich einen Schritt zurückzuweichen wollen. Es sollte mich wundern, wenn er je einen Grund gehabt hätte, über den Gehorsam seiner Männer zu klagen.
Dagegen war Raimund Weymar von weitaus augengefälligerer Gestalt. Er war um einiges schmächtiger als Sir Heribrand und fast um einen Kopf kürzer als Arnur, doch dank seiner geschmeidigen und kontrollierten Haltung wirkte er alles andere als schwächlich.
Über seiner Oberlippe entsprangen die sorgsam gepflegten Flügel eines heiteren kastanienbraunen Schnurrbarts, über die er gerne und oft mit einer eleganten Bewegung seiner schlanken Finger hinwegstrich. Auf seiner Stirn tanzten fröhliche Locken von derselben satten Farbe und darunter blickten hellgrüne Augen neugierig und ausgelassen in die Welt.“ Auch er kennt Mittel und Wege, sich Männer gefügig zu machen. Er ist keineswegs der harmlose Zeitgenosse, in dessen Anschein er sich hüllt. Anderenfalls wäre weder er heute im Rat der Vier noch Alrich Reckard auf dem Thron von Nordend.
„Nun seid Ihr ja jedenfalls bei uns“, erlöste ihn der Hochmeister. „Und wir können den Rat der Vier beginnen lassen.“
Auf dem Weg zum Ratssaal nährte sich ihm Sir Raimund wie selbstverständlich und schenkte ihm ein betroffenes Lächeln. „Es ist für wahr ein böses Geschick, dass Ihr nicht schon früher eingetroffen seid, mein werter Adonor“, gab er ihm leise zu verstehen. „Gern hätte ich Euch schon längst mit dem Schmuckstück vertraut gemacht, welches Ihr von mir begehrtet. Ich denke, ich kann wieder ein Mal mehr mit Recht behaupten, den besten Goldschmied weit und breit an meinem Hof zu unterhalten.“
Heribrand Corvulus warf ihnen einen misstrauischen Blick zu und auch Arnur war mehr als nur ein wenig verdutzt. „Was...“
„Oh nein, nicht doch!“ Der andere riss entsetzt die Hände in die Höhe. „Nicht doch, betrachtet es einfach als Geschenk unter Gleichgesinnten Brüdern im Geiste des Herrn San’Guis. Das ist es mir wert, dass Ihr nicht noch an einen Schurken geratet, der Euch Böses will. Es gibt der Metalle viele, die glänzen, auch solcher, die gar nicht weiter von echtem Wert sind. Einige Schmiede, müsst Ihr wissen, sind arglistige Schwindler und hüllen ihre Ware in einen güldenen Schein. Bedenkt aber immer, ganz gleich, mit wem Ihr es zu tun haben solltet, dass bei weitem nicht alles, was gülden glänzt auch aus echtem Gold gemünzt ist! Es ist nur zu Eurem Besten, wenn Ihr diese Worte beherzigt. Wenn Ihr mich später in meinem Turmgemach besuchen mögt, werde Euch Näheres über das Wesen echten Goldhandwerks verraten.“ Damit überließ er Arnur seiner Verwunderung.
„Es gibt eine Frage“, begann der Hochmeister, als sie zu Vieren um eine runde Tafel versammelt saßen. „Die mir von zu großer Wichtigkeit dünkt, als dass ich mich vermessen wollte, nach eigenem Gutdünken darüber zu befinden. Vielmehr habe ich mich dazu entschlossen, in dieser Angelegenheit keine Entscheidung zu treffen, die sich nicht wenigstens um den Segen zweier meiner Heerführer verdient gemacht hätte.“ Sir Alrich warf jedem von ihnen einen abschätzenden Blick zu. „Vor einiger Zeit erreichte mich ein dringliches Schreiben von Sir Fenther, dem Oberkommandanten des Ordens des Lichts. Er bittet um Vergebung dafür, dass er so lange gezögert habe, ehe er schließlich in dieser Weise an mich herangetreten sei, zumal die Beziehungen zwischen seinem Orden und dem unseren bislang nicht von bester Freundschaft geprägt gewesen seien. Nun aber sei ihm ob einer unverkennbaren Not keine andere Wahl geblieben, als das Nötige zu tun.“
„Wie rührend“, schnaufte Heribrand Corvulus.
„Sir Fenther berichtet, dass die Erzmagier des Ordens des Lichts eine große Gefahr für das Reich und möglicherweise für die gesamte uns bekannte Welt erkannt hätten. Es gebe eine Art von Portalen zwischen den Welten, durch die magische Wesen imstande seien, in die jeweils andere einzudringen. Auf diese Weise seien die Dämonen des Schattens vor zwei Jahrtausenden über das Land hergefallen und nun sei zu befürchten, dass es einem ähnlichen, wenn nicht gar dem gleichen Feind erneut gelingen würde, die Schutzbarrieren, die sie zu diesem Zeitpunkt noch von uns fernhalten, zu überwinden.“
„Sie hätten eben robusteres Holz nehmen sollen“, meinte Sir Heribrand.
„Gleiches hätte sich auch vor zweitausend Jahren ereignet. Nichtsdestotrotz sei es aber gelungen, den fremdartigen Feind zurückzudrängen, da all jene, die von der Bedrohung betroffen gewesen seien, ihre Stärke unter einem Banner vereinigt hätten. Sir Fenther bittet uns daher eindringlich, den Pfad der Gegnerschaft, den wir seiner Herrin gegenüber eingeschlagen hätten, in Hinblick auf die düstere Lage zu überdenken. Er lädt uns dazu sein, der Regentschaft seiner Herrin nun im Nachhinein unsere Anerkennung zu gewähren.“
Für eine Weile herrschte berechnendes Schweigen im Rate der Vier, bis Sir Raimund Weymar als erster der Heerführer das Wort ergriff. „Es ehrt Euch, Herr, dass Ihr den Weg der gemeinsamen Eintracht mit uns gewählt habt. Dies zeugt von einem Verantwortungsbewusstsein, welches Sir Eomund zum Ende seiner Zeit hin mehr und mehr vermissen ließ.“
„Kommt bitte zum Punkt Eurer Ansprache“, bat Sir Corvulus gelangweilt. „Ich nehme doch an, es gibt einen?“
„Wenn das Reich sich in Not befindet, so sind auch wir davon nicht ausgenommen. Keiner von uns ist davon ausgenommen. Hat sich nicht ein jeder in diesem Saal dem Gelöbnis unseres Herrn San’Guis verschrieben, dem Volke der Menschen Schutz zu gewähren? Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass dies nur auf dem Wege der Einheit erreicht werden kann. Ich weiß, werte Freunde, Ihr fürchtet um die Interessen des Ordens, wenn wir Lady Lysanei als Regentin über uns anerkennen, doch ich habe noch eine andere Vereinigung im Sinn, die imstande wäre, diese Sorge beizulegen - wenn Ihr mir gestatten mögt, mich näher zu erklären.“
Erst auf das Nicken des Hochmeisters hin unterbreitete Sir Raimund seinen Vorschlag. „Nordend trägt nur noch einen Abglanz seiner einstigen Stärke zur Schau. So betrübend es auch ist, niemand von uns vermag, es zu leugnen. Doch die Macht all derer, die San’Guis dienen, ist noch immer gewaltig. Sie ist nur verstreut und tritt deshalb nur wenigen Augen in ihrer Gänze in Erscheinung. Unbedacht tritt man auf einen Kieselstein, derer es im Land unzählige gibt, vor einem massiven Felsen hingegen, der in den Himmel ragt, senkt man hingegen demütig das Haupt. Uns gilt es heute, tausende und abertausende von kleinen Steinen in den tiefen Feuern der Erde wieder zu einem Fels zusammenzuschmelzen, der über jede andere Schöpfung des Reiches erhaben hinausragt. Wir nennen uns Ritter der Roten Drachen. Unsere Brüder in Elyndorr sind die Ritter der Grünen Drachen. Zwei gleiche Orden gehen getrennte Wege voneinander und dienen doch ein und demselben Herrn, eifern ein und denselben Zielen nach. Es sind nicht mehr als Farben und Äußerlichkeiten, die uns von ihnen trennen. Schmelzen wir zusammen, was aus demselben Fels gemacht ist. Wären Nordend und Elyndorr unter einem Hochmeister vereint, so besäßen sie bei jeder Angelegenheit im Reich ein solch enormes Gewicht, dass niemand darüber hinweg entscheiden könnte. Die übrigen Orden und Fürsten des Reiches werden eine solche Vereinigung jedoch auf Dauer nur tolerieren, wenn wir unseren guten Willen gegenüber Sin’Arcus bewiesen haben. Hierfür müssen wir uns zunächst der Hoheit der gesalbten Regentin unterwerfen, wie es Sir Cerrik schon vor uns getan hat.“
Arnur dachte über den Vorschlag nach. Es schien eine weise Angelegenheit, die Macht aller Diener San’Guis zu bündeln und gemeinsam für seine Ziele einzutreten. Wäre ein einheitlicher Orden erst zustande gekommen, so würde es in der Tat kaum mehr jemanden im Reich geben, der sich seinem Streben widersetzen können würde. Die getrennten Wege im Geiste San’Guis mochten einst zuweilen ihre Vorteile gehabt haben, doch dies versprach, eine Zeit zu werden, da Stabilität und Sicherheit gegenüber Buntheit und Eigensinnigkeit der Vorzug zu geben war.
Doch dann holte ihn die Erinnerung an eine gewisse Begegnung am Rande der Ebenen des Schweigens ein und die dreisten Worte einer Elfe erklangen in Sir Adonors Kopf von neuem: ,Dieser Brief besagt, dass MEINE GEFÄHRTEN UND MICH KEIN RITTER AUFHALTEN DARF, da die Erfüllung dieser Mission oberste Priorität hat! In Sir Cerriks Namen bin ich ermächtigt, für den Erfolg dieser Mission Gefährten frei zu wählen, die mich begleiten und mir zur Seite stehen. Dies steht in diesem Freibrief niedergeschrieben.’ Dieser Freibrief stellte es ihrem Gefährten frei, meinen Bruder zu ermorden. ‚Wollt Ihr Euch den Anordnungen Sir Cerriks widersetzen, so ist Euch der Zorn der Grünen Drachen gewiss.’
Mit einem Male dämmerte es Arnur, von welcher Art die Mission sein musste, die dieser Söldnergruppe aufgetragen worden war, und für die Sir Cerrik so vieles in Kauf genommen hatte. Es konnte ihr keine andere Angelegenheit zugrunde liegen als die Bedrohung, über die Sir Fenther nun auch die Roten Drachen unterrichtet hatte. Es zeigte, dass der Orden der Grünen Drachen schon seit langem von der mutmaßlichen Gefahr für das Reich gewusst haben musste und es nicht für nötig befunden hatte, dieses Wissen mit seinen Bundesgenossen aus Nordend zu teilen. Vielleicht stand er dem Orden des Lichts inzwischen schon weitaus näher als seinen einstigen Brüdern im Geiste San’Guis.
Nein, gelobte Arnur sich. Nie und nimmer werde ich mit Verrätern an meinem Orden gemeinsame Sache machen.
Heribrand Corvulus war es, der an seiner Stelle antwortete. „Das Volk der Menschen“, rief er höhnisch. „Eine finstere Bedrohung... . Je mehr ich über Sir Fenthers Anliegen nachdenke, desto sicherer erscheint es mir, dass es sich dabei um nichts weiter als um einen Vorwand handelt, um den Orden der Roten Drachen unter das Joch von Arxana zu locken. Dieser düstere Feind ist allem Anschein nach nicht mehr und nicht weniger als eine verkleidete Handpuppe. Haben uns Lysanei und ihre Jünger erst in der Hand, werden sie auch Mittel und Wege finden, uns dort zu behalten.“
Hochmeister Alrich Reckard hob fragend eine Augenbraue. „Ihr glaubt den Orden des Lichts einer ruchlosen Lüge fähig?“
„Gibt es denn einen Beweis für die Wahrheit in dieser Botschaft?
„Sir Fenthers Wort bürgt dafür. Mit dem Wort eines Ritters bürgt auch seine Ehre.“
„Vergebt mir, Herr...“
Arnur beobachtete, wie sich der Anflug eines Lächelns auf Sir Heribrands harten Zügen ausbreitete.
„Doch Ihr selbst wart einst unseres letzten Hochmeisters eingeschworener Gefolgsmann. Dennoch habt Ihr Euch schließlich gegen ihn gewandt, als Ihr um die Prinzipien unseres Ordens fürchtetet. Welche Lektion war es, die Ihr das gesamte Reich und jeden einzelnen seiner Ritter an jenem Tage gelehrt habt? Welche Lehre war es, wenn nicht die, dass die Ehre eines Mannes nicht immer an das Wort gebunden ist, das er einem anderen gab?“
Hochmeister Alrich rückte sich auf seinem Platz zurecht. „Es war das Wort, das ich meinem Gott gegeben hatte, lange bevor ich Eomund die Treue gelobte. Ich war zu einer Entscheidung gezwungen und stellte meinen Herrn über meinen Freund.“
Triumph breitete sich auf Sir Heribrands Gesicht aus. „Eine Wahl, die Euch gewiss keiner verdenken könnte. Zumindest keiner, der seine Seele demselben Gotte geweiht hat wie Ihr. Sir Fenther mag ein tadelloser Mann von Ehre sein, doch hätte auch ihn nicht davor geschützt, in eine Zwickmühle wie die Eure zu geraten... Wenn er gezwungen wäre, zu wählen - zwischen der Treue zu der Macht, die ihm heilig ist, oder der Aufrichtigkeit gegenüber einem Widersacher unserem Orden - nun... wie würde er sich wohl entscheiden?“
Sir Alrich strich sich mit dem Daumen übers Kinn. „Und wo denkt Ihr, würde der Orden des Lichts ansetzen, um uns zu schwächen?“
„An einer Stelle, die unser guter Sir Weymar seltsamerweise außer Acht gelassen hat. Ich will Euch genau erklären, was es damit auf sich hat.
Die Macht der Ritter und Landesherren, die es ablehnten, sich der Hoheit eines Ordens zu unterwerfen, war von der Gründung des Reiches an verschwindend gering. So gering, dass sie bei den Regentenwahlen schwerlich eine Partei darstellten, die es zu fürchten galt. Die meisten Herren von Adel sahen es als weise an, sich dem einen oder anderen Orden anzuschließen, um von seiner Macht und seinem Schutz zu profitieren. Mit dem Treueschwur stellten sie ihm auch ihre Ländereien zur Verfügung und walteten fürderhin als Statthalter im Namen ihres Ordens darüber, wie auch ihre Söhne und Erben nach ihnen, so diese sich dazu entschlossen, den gleichen Eid zu leisten. Kam ein Landesherr zu Tode, ohne dass er einen legitimen Erben hinterlassen hatte, wurden seine Güter anderen Rittern zugewiesen, die sich um ihren Orden verdient gemacht hatten.
Vor einigen Jahren begab es sich jedoch erstmals, dass freie Ritter, bei denen es sich offenbar um Abkömmlinge von Blutsverwandten alter Ordensvasallen handelte, Ansprüche auf das Erbe ihrer Familie erhoben. Sir Eomund, der zu dieser Zeit das Reich regierte, erwiderte ihnen hierauf, dass die Ländereien seit langem in den festen Besitz des jeweiligen Ordens übergegangen seien, wie es ein ehernes Gesetz bestimmt habe, doch die Fordernden waren sich über die Angelegenheit genauestens im Klaren. Sie erinnerten den Regenten daran, dass das besagte Gesetz, das die Ländereien eines Neugeschworenen unwiderruflich in den Besitz seines Ordens überführte, erst seit wenigen Jahrhunderten Bestand gehabt habe. Bei allen Gütern, die einem Orden vor dieser Zeit zugefallen worden waren, handelte es sich lediglich um Leihgaben. Daher sei der Anspruch eines legitimen Erben auch über die Jahrhunderte hinweg rechtens und unauslöschlich.
Unerbittlich und auch jähzornig, wie der alter Regent und Hochmeister sein konnte, brachte er es dennoch fertig, die Freien Ritter abzuweisen und stellte damit für eine gewisse Weile die Ruhe wieder her - bis zu dem Tage, da Livia Lysanei ihm auf dem Thron von Sin’Arcus nachfolgte.
Die Lady vom Orden des Lichts zeigte ein offenes Ohr für das Ersuchen der Freien Ritter, die sich nunmehr zum ‚Bund der Freischaffenen’ geeint hatten. Dies sollte niemanden verwundern, der sich vor Augen führt, wie knapp die Mehrheit der Stimmen ausgefallen war, denen sie ihre Wahl als Regentin verdankt hatte. Es waren nur ein paar Stimmen gewesen, die den Ausgang für sie entschieden hatten... etwa von der Anzahl gewisser ordensloser Ritter und Fürsten. Der Orden der Schwarzen Raben hatte seine Stimmen zwar seinem eigenen Kandidaten für den Thron von Sin’Arcus gewidmet, der Siegerin aber dennoch seine Anerkennung ihrer Regentschaft nicht vorenthalten, womit er sich auf Gedeih und Verderb der Hoheit ihres Gerichts unterworfen hatte. Für diesen Fehler zahlte er bald, als er als erster Orden des Reiches einen Teil seiner Ländereien an den Bund der Freischaffenen abtreten musste. Andere mussten seinem Beispiel folgen. Gleiches stünde auch den Roten Drachen bevor, denn mit der Anerkennung eines Regenten ist für die Dauer seiner Herrschaft unwiderruflich.“ Sir Heribrand legte eine Kunstpause ein und ließ das Gesagte eine Weile lang im Raum stehen. „Ich habe mir die Mühe gemacht, selbst ein paar
Nachforschungen über die mögliche Tragweite dieser Angelegenheit für den Orden der Roten Drachen anzustellen und das Ergebnis ist mehr als ansehnlich: Wenn jedes Haus und Geschlecht des Reiches, das seiner Ahnen wegen einen Anspruch auf Rittergüter unseres Ordens erheben könnte, denselben geltend machte, so verlöre Nordend, nun ... mehr als ein Drittel seines jetzigen Hoheitsgebietes.“
Der Hochmeister schürzte anerkennend die Lippen, doch Raimund Weymar machte prompt einen Einwand laut: „Unsere Ländereien in Ehren, Sir, doch von welchem Nutzen sind sie für uns, wenn sie durch eine Fehlentscheidung unsererseits wie alle Welt mit Verderbnis überzogen würden? Schwere Zeiten erfordern schwere Entscheidungen. Auch unser Herr San’Guis musste einst Opfer bringen, um die Reiche des Nordens vor der Vernichtung zu bewahren. Erstreckt sich auch heute vor uns ein hoher Steilpfad, so dürfen wir ebenfalls nicht zaudern. Anderenfalls werden wir gewiss mehr verlieren als nur ein Drittel unserer Landgüter. Das Volk der Menschen wird mehr verlieren, als es zu geben vermag.“
„Habt Ihr die besagten Portale jemals zu Gesicht bekommen?“, forderte Sir Heribrand seinen Widersacher heraus. „Könnt Ihr mir sagen, wo sie aufzufinden sind? Könnt Ihr mir mit Bestimmtheit sagen, ob es sie überhaupt gibt? Es sollte mich reichlich wundern, wenn unser Orden nie etwas darüber gewusst haben sollte, sollten sie denn tatsächlich existieren. Selbst, wenn dies der Fall wäre, kehrte es das Gesicht unseres Bittstellers noch weiter in den Schmutz. Mit welchem Recht hätte der Orden des Lichts das Wissen über solche Artefakte über so lange Zeit hinweg vor uns verborgen gehalten, wenn sie doch über Gedeih oder Verderb der ganzen Welt entschieden?
Herr, Ihr habt Sir Weymars Vorschlag angehört, vernehmet nun den meinen: Blicken wir auf die Vergangenheit zurück, so bietet sich uns das Bild eines starken Nordends. Eines Nordends vor dem jeder Fürst des Reiches in Ehrfurcht das Knie beugte, ohne dass es der gemeinsamen Sache mit Elyndorr oder gar der Oberherrschaft eines dritten Ordens bedurft hätte. Der Rückschläge hat es seither viele gegeben. Die Roten Drachen haben Niederlagen erlitten, Ländereien verloren und mussten ihre Vorherrschaft in Sin’Arcus einbüßen. Das Trauerspiel dauerte an und an, bis Sir Eomund schließlich auf den Thron von Nordend gelangte.“
Sir Alrich zuckte mit den Achseln. „Nicht ohne Grund hätte ich mich seiner Sache angeschlossen.“
„Er befreite unseren Orden erstmals wieder aus dem Joch des Siechtums. Mit seiner beispiellosen Entschlossenheit zwang er viele Widersacher zur Furcht und stellte den alten Respekt der Roten Drachen nach außen hin wieder her. Doch mit dem Ausbau des Handels mit den Stämmen der Wilden und den Menschen des Ostens legte er auch einen bedeutenden wirtschaftlichen Grundstein für das Wiedererstarken von Nordend. Über lange Jahre hinweg haben wir nunmehr Vorräte angehäuft, Reichtümer gehortet und die alten Schatzkammern, die seit Dekaden leer gestanden hatten, aufs Neue gefüllt. Nun ist es wieder für uns an der Zeit, diese Mittel einzusetzen, um eine größere Macht darauf zu gründen. Wir sollten wesentlich mehr Summen in die Ausbildung von Kriegern und Soldaten investieren, wenn nötig auch mehr Söldner als Waffenmeister verpflichten und den allgemeinen Heeresdienst ausweiten. Die Stärke unseres stehenden Heeres muss nach dem Vorbild früherer Zeiten wieder enorm vergrößert werden, es sollten mehr Knappen in der Kunst des Krieges unterwiesen werden, mehr von ihnen in den Ritterstand erhoben werden und verdiente Recken zu mehr Besitz und Würde gelangen. Dafür ist es unabdingbar, neue Ländereien zu erschließen, damit wir zu der Größe unseres alten Machtgebietes zurückfinden. Aus den Tiefen der Wälder und Moore entlang des Schicksalsauges kann fruchtbares Land für Weiden, Felder und neue Siedlungen gewonnen werden. Die ansässigen Wilden werden sich weiter in den Osten begeben und dort die Stämme geißeln, die sich uns noch immer nicht unterworfen haben. Gleichzeitig gilt es herauszufinden, was uns der Norden zu bieten vermag. Seit jeher wurde stets ein furchtsamer Abstand zu den Ebenen des Schweigens gewahrt, doch vielleicht war diese Vorsicht zu hoch gegriffen. Es gibt alte Ruinen von Burgen und Dörfern in diesem weiten Grenzgebiet, die mit wenig Mühe wieder befestigt und als nutzbare Güter an Vasallen vergeben werden könnten. Auch die Stadt Kahlar’tha befindet sich noch weiter nördlich als Nordend und ist bis zum heutigen Tage keiner Verderbnis anheim gefallen. Wir sollten Mut fassen und erkunden, wo das verfluchte Land tatsächlich seinen Anfang nimmt und ob es wirklich noch so unwirtlich ist, wie Tausend Jahre alte Mären es uns glauben machen wollen. Indes wird uns ein mächtiges Heer jeden Widersacher vom Leibe halten, dem das Wiedererstarken unseres Ordens widerstreben könnte - und jeden Regenten, dem es einfallen könnte, das Wachstum unserer Macht zu zügeln.“
Raimund Weymar schüttelte belustigt den Kopf. „Ihr habt Euch in Rage geredet, Sir“, verkündete er nachsichtig. „Tut Euch selbst und allen anderen einen Gefallen und nehmt erst einmal einen Schluck kaltes Wasser zu Euch.“ Er füllte einen Becher und schob ihn Sir Heribrand hin, doch der stieß ihn mit einer zornigen Geste von sich. Das Gefäß sauste über die Tafel hinweg und ergoss seinen Inhalt über Sir Raimunds Haupt.
Der Heerführer verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust und richtete sich vorwurfsvoll den nassen Schnurrbart.
Hochmeister Alrich nahm all dies aufmerksam und stillschweigend zur Kenntnis, ohne auch nur so viel wie eine Miene auf seinem gelassenen Antlitz zu verziehen. Dann wandte er sich Sir Heribrand zu. „Ihr ratet uns, den Weg des Trotzes und der Feindseligkeit zu beschreiten“, sprach er in einem ruhigen sachlichen Tonfall. „Sicher seid Ihr Euch darüber im Klaren, dass er uns in die Nähe des Pfades führte, den Eomund zuletzt zu wählen gedachte.“
„Herr, ich erwarte nicht von Euch, die Trennung vom Reich zu proklamieren“, beteuerte der andere. „Wohl aber, dass wir den Roten Drachen ihren rechtmäßigen Platz an der Sonne wiederbeschaffen.“
Arnurs Gedanken waren unterdessen wieder Sir Fenthers Brief zurückgeschweift. Sir Cerrik hätte sich niemals dieser Söldner bedient, geschweige denn sie mit solch gefährlichen Vollmachten ausgestattet, wenn er nicht selbst an die Wahrheit jener Bedrohung geglaubt hätte. Plötzlich gewahrte er, dass Sir Raimunds Blick auf ihm ruhte. Als der seine Aufmerksamkeit bemerkte, sah er belanglos fort und ließ beiläufig einen Finger über den Schnurrbart gleiten, an dem er einen goldenen Ring trug.
,Nicht alles, was glänzt, ist auch echtes Gold. Es ist nur zu Eurem Besten, wenn Ihr dies beherzigt.’ Ich glaube, ich habe verstanden, dachte Arnur. Doch hinter welcher Maske verbirgt sich wirklich der Schmied und hinter welcher der Schwindler?
„Sir Adonor.“ Als hätte er in seinem Geist gelesen, richtete Hochmeister Alrich seine klaren blauen Augen auf ihn. „Ihr habt die beiden Vorschläge genommen. Wie ist es wohl um Eure Meinung bestellt? Sollte Nordend fortan Hand in Hand mit Elyndorr und dem Reich schreiten oder sollte es zähnefletschend die Mauern seines Machtgebietes verbreitern?“
Unwillkürlich erinnerte sich Arnur an den Rat, den ihm der Seher in Graufels gegeben hatte, und er musste sich fragen, welchen Weg der Hochmeister wohl selbst bevorzugen würde, der es immerhin verstanden hatte, kaum etwas von seinen eigenen Ansichten zu verraten. Während er mühevoll nach einer Antwort suchte, schritten seine Augen den geraden Weg ab, die ihn über den runden Tisch hinweg mit seinem Gegenüber verband. Von ihren Plätzen aus zogen sie gemeinsam eine trennende Linie zwischen den erklärten Widersachern Raimund Weymar und Heribrand Corvulus. Und dann, mit einem Mal, holte ihn die Erkenntnis ein. Sir Adonor hatte seine Entscheidung getroffen.
„Der eine Weg geht arglos von der Wahrheit hinter Sir Fenthers Worten aus“, begann er zu resümieren. „Während der andere fest mit Trug und Täuschung rechnet. Beide dünken mir etwas vorschnell gewählt und beide bergen große Gefahren für die Sache unseres Ordens in sich. Zum einen riskierten wir, Vasallen von Elyndorr zu werden und zu willenlosen Spielfiguren im Machtgefüge eines geeinten Ordens zu verkümmern, wo wir nicht hoffen könnten, unseren Einfluss zu bewahren. Mit unserer momentanen Stärke müssten wir befürchten, im Orden der Grünen Drachen aufzugehen, als dass es uns möglich wäre, einen dauerhaften Zustand des Gleichgewichts zu erstreiten. “ Arnur fühlte Sir Raimunds Enttäuschung schwer auf sich lasten. „Zum anderen würden drohten wir jedoch, uns selbst und jedem anderen in Sin’Arcus ein Grab schaufeln, so wir die Stärke des Reiches in einer Stunde zerrissen, da Einigkeit das dringendste Gebot von allen wäre. Lasst mich Euch daher einen dritten Weg weisen.
So es dem Orden des Lichts ernst mit seinem Ersuchen an uns ist, wird er es uns schwerlich verwehren können, uns von der Wahrheit seiner Worte selbst zu überzeugen. Senden wir einen eigenen Magus der Erkenntnis nach Arxana, der die besagten Portale im Namen unseres Ordens in Augenschein nehmen wird. Sollte er die Wahrhaftigkeit jener Bedrohung bestätigen können, so sollten wir uns dazu durchringen, die Wahl Livia Lysaneis zur Regentin von Sin’Arcus anzuerkennen. Mit einer solchen Erklärung würde Nordend in keiner Weise die Rechtmäßigkeit der Regentschaft der Lady bestreiten und dennoch wären wir - im Gegensatz zur ausdrücklichen Anerkennung ihrer Herrschaft als solcher - im Recht, nach eigenem Belieben darüber zu befinden, inwieweit sich die Roten Drachen ihrer Verfügungsgewalt unterwerfen werden. Für den Kampf gegen einen äußeren Feind bedürfte es zweifelsohne eines gemeinsamen Heermeisters, jedoch keiner Vergabe unserer Landgüter an freie Ritter und Fürsten.
In jedem Fall aber sollten wir unverzüglich mit dem Ausbau unserer Streitmacht beginnen, wenn auch nicht, um die Konfrontation mit dem Reich zu suchen, sondern vielmehr, um für den Angriff des einen oder des anderen Feindes gewappnet zu sein.“
Die beiden anderen Heerführer waren in widersächliches Schweigen verfallen, doch Sir Alrich bekundete seine Zustimmung mit einem leichten Nicken. „Der dritte Weg ist für wahr nicht immer der schlechteste. Insbesondere dann nicht, wenn dort zwei Widersprüche ihre Vereinigung finden. Da dem Anschein nach keiner unserer Herren hier gewillt ist, von seinem Standpunkt abzurücken, werden wir wohl oder übel auf die Zustimmung des zweiten Heerführers verzichten müssen. Gibt es einen Erkenntniszauberer, den Ihr der besagten Aufgabe für fähig haltet, Sir?“
„Magister Xanthis von Graufels ist ein alter und erfahrener Seher. Mit ihm wird der Angelegenheit wohl gedient sein.“ Und sie wird ihn auf andere Gedanken bringen, als Tag und Nacht in seinem dunklen Turm herumzuhocken und vor lauter Langeweile gegen mich zu intrigieren...
„Wohlan denn, es sei somit entschieden! Sir Fenther wird seine Antwort in Kürze erhalten.“
Vor der Tür des Ratssaals hatten Sir Menfried Langschwert und Sir Wilhelm Westwald, zwei Mitglieder der Drachengarde, Wache gehalten,. Die Drachengarde von Nordend bestand seit jeher aus zwölfen der fähigsten Ritter des Ordens, denen die Aufgabe zukam, das Leben des Hochmeisters zu schützen, auch wenn es ihr eigenes fordern sollte. Zahl und Name dieser Elitegarde waren in symbolischer Anlehnung an die zwölf Drachen gewählt worden, die der Sage nach als San’Guis’ treueste und mächtigste Diener gegolten hatten. Im Vorbeigehen grüßte er Sir Wilhelm, den Kommandanten der Garde, mit einem kurzen Nicken. Als sie den Saal verließen, beauftragte Sir Alrich einen Pagen damit, ihm einen Krug Wein zu beschaffen.
Als Fürst Adonor das Turmgemach, das man ihm als Unterkunft zugewiesen hatte, erreichte, war er froh und dankbar darüber, die feste Eichentür hinter sich schließen zu dürfen. Zwei seiner eigenen Männer aus Graufels hielten draußen Wache und würden ihn von jeder Neuigkeit Unterrichten. Die Wände des Zimmers waren mit prunkvollen Gobelins geschmückt, auf denen San’Guis zuerst in sterblicher und später dann in göttlicher Gestalt abgebildet war, als er die Vielzahl an Aufgaben und Hindernissen bewältigte, die ihm das Schicksal aufgetragen hatte. Hinter einem türhohen Fenster befand sich ein kleiner Balkon, der einen Ausblick nach Osten über die Stadt hinweg auf das Schicksalsauge bot. Der Horizont verlor sich schließlich in einiger Ferne in den Nebelschwaden, die von der Oberfläche des mächtigen Sees aufstiegen. Ein dunkler Schatten hatte sich über die trübe Luft gelegt und verriet Arnur, wie lange der Rat der Vier getagt hatte. Hier, weiter nördlich, trat die Dämmerung zwar noch früher ein als in Graufels, doch dadurch verspürte er nicht weniger Erschöpfung. Plötzlich fiel ihm ein, dass er ja erst am Vormittag dieses Tages in Nordend angekommen war, und er beschloss herauszufinden, wie es um die Härte des Federbettes bestellt war, das sich in seinem Gemach befand. Er war bereits im Nachtkleid, als seine Hoffnungen auf Ruhe und Erholung durch ein verlegenes Klopfen an der Tür zunichte gemacht wurden.
„Fürst Raimund Weymar ersucht ein Wort mit Euch, Herr“, teilte ihm eine dumpfe Stimme von der anderen Seite mit.
Er seufzte. „Lasst ihn herein.“
Sir Raimund trug eine zutiefst betroffene Miene zur Schau. „Ich bin schwer enttäuscht, Sir“, ließ er ihn wissen. „Selbst die Einladung in mein Turmgemach habt Ihr so achtlos in den Wind geschlagen wie eine spröde Jungfer den Frühlingstanz. Sagt mir, wie konnte echtes Gold seinen Reiz für Euch verlieren?“
„Ihr müsst verzeihen, wenn ich zuweilen etwas bescheiden aufgelegt bin.“
„Das war schwerlich zu übersehen, mein Guter. Und es war durchaus die richtige Entscheidung, um in der Gunst unseres verehrten Hochmeisters aufzusteigen. Man müsste gar das Haupt vor Euch verneigen, wenn nicht zu befürchten wäre, dass Ihr Eure Entscheidung eines Tages aufs Schwerste bedauern könntet...“
„Wenn Ihr mir drohen wollt...“
„San’Guis behüte, nicht doch ich! Ihr werdet wohl keinen teureren Freund unter der Sonne finden als Raimund Weymar. Gern hätte ich Euch das Messer eines anderen vom Halse genommen, doch Euer Misstrauen hat mich daran gehindert.“
„Ihr dürft Euch näher erklären, wenn Ihr mögt. Von wessen Messer ist hier die Rede?“
„Von dem Eures Sandkastenfreundes Heribrand Corvulus. Seit er denken kann, liebt er Euch dafür, dass sein Großonkel Helfried bei einer Begegnung mit Eurem Onkel Wotredh, seinem damaligen Konkurrenten, auf eine mehr als eigenartige Weise ums Leben kam.
Wie Ihr sicherlich wisst, befindet sich das Landgut Eurer werten Frau Mutter unweit meiner eigenen Burg. Es betrübt mich, Euch mitteilen zu müssen, dass Sir Heribrand seit kurzer Zeit damit begonnen hat... nun, um Ihre Hand zu werben.“
Es traf Arnur wie ein zischender Schlag ins Gesicht. Es traf ihn wie der Schlag einer alten Reiterpeitsche. Ohne, dass er sich dagegen wehren konnte, glitt sein Finger die lange Narbe zwischen Augenrand und Mundwinkel entlang. Wer ihn kannte, wusste, dass zwischen seiner Mutter und ihm keine Liebe verloren gewesen war. Unter seinen Füßen teilte sich der Nebel und gab den Blick auf einen weiten, endlosen Abgrund frei und von irgendwoher hörte er das spöttische Krächzen eines Rabenvogels. Arnur verschränkte die Hände hinter dem Rücken, um das Zittern darin zu verbergen. Er verfluchte sich dafür, dass ihn die Schwäche in Sir Raimunds Gegenwart überkommen war. „Und sie...?“, brachte er heraus.
Raimund Weymar traf seinen Blick mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns auf dem Gesicht. „Zeigt sich von seinen Aufwartungen nicht unbeeindruckt.“
Ermattet ließ er sich in einen Sessel niedersinken und wies seinem Gast, ebenfalls Platz zu nehmen. Die Bedrohung lag klar auf der Hand. Fürstin Melina galt von je an als Dame von ansehnlicher Gestalt, woran ihre sechsundvierzig Lenzen noch nichts geändert haben mochten. Dies allein konnte einem machtgierigen Fürsten wie Heribrand Corvulus allerdings noch nicht Anreiz genug sein, einer Dame von derart geringem Besitz den Hof zu machen. Das Landgut ihrer Familie, auf welches die Fürstin nach dem Tod ihres alten Gemahls zurückgekehrt war, war nicht größer als einige Meilen lang und breit und konnte sich keiner wertvollen Schätze rühmen. Für Wilmund Adonor, dessen reiche Festung Graufels hoch in den kargen Bergen des Tharacus-Gebirges gelegen war, hatte das Landgut im nördlichen Tiefland einen gewissen strategischen Wert besessen, doch derartige Vorteile vermochte es Fürst Corvulus weniger zu bieten. Melina Adonor hatte ihrem Freier zunächst nur eine spärliche Mitgift zu bieten... solange nicht der Fall eintrat, dass der letzte vom Blut ihres Gemahls den Tod finden würde, ohne einen legitimen Erben in die Welt gesetzt zu haben - dann würde das Fürstentum von Graufels an Melina Adonor übergehen. Vom Blute seines Vaters war Arnur nunmehr der letzte.
„Wie hättet Ihr mir zu helfen gewusst?“, fragte er den anderen.
„Niemand hätte Euch helfen müssen, wenn Ihr Euch im Rat der Vier nur meinem Vorschlag angeschlossen hättet. Habt Ihr wirklich geglaubt, meine Empfehlung hätte Corvulus so sehr widerstrebt, wenn er darin nicht eine Gefahr für sich selbst gewittert hätte? Dachtet Ihr ernsthaft, es sei das Wohl des Ordens, dem seine Sorgen galten? Das Fürstentum, das Sir Heribrands aufsteigendem Geschlecht vor etwa einem Jahrhundert zugefallen ist, zählt selbst zu jenen, die von Rechts wegen an bestimmte Erben zurückgegeben werden müssten, die nicht im Dienste des Ordens stehen. Als die Ritter vom Bund der Freischaffenen vor einigen Jahren mit ihrer Forderung vor Eomund Winthorn traten, befand sich auch ein gewisser Sir Lothar Igramor unter ihnen. Er ist der rechtmäßige Erbe von Sir Heribrands gesamten Besitz. Hätten wir uns heute unter die Gerichtsbarkeit des Ordens des Lichts gestellt, dann wäre morgen schon von unserem mächtigen Widersacher nicht mehr übrig geblieben als ein kläglicher Ritter ohne Land und Namen. Ob Fürstin Melina an den Avancen eines Bettlers auch so hinreißenden Gefallen gefunden hätte? Solche Überlegungen sind nun aber nicht mehr als ferne Tagträumereien.“
Sollte ich mich in der Tat selbst gerichtet haben, ohne es auch nur zu ahnen? „Wozu aber das ganze Gefasel vom Widererstarken des Ordens, wenn Corvulus doch nur seiner eigenen Wege geht?“
Sir Raimund zuckte belanglos mit den Achseln. „Vielleicht hofft er, Sir Alrich zu beerben.“
„Wozu er nicht imstande wäre, wenn er meine Mutter zur Gemahlin nähme.“ Nach alter Vorschrift musste der Hochmeister frei vom Bande der Ehe sein. Seine Liebe sollte den Pflichten seines Ordens gelten und sein Leben nur der Sache seines Gottes geweiht sein.
„Zumindest nicht, ehe er sich ihrer wieder entledigt hätte, wenn Ihr mir die Unverblümtheit verzeiht.“
Arnur hatte mit der Zeit fürs Erste wieder an Festigkeit gewonnen, doch er spürte seine Lider schwer werden. Der Ritt nach Nordend, der Rat der Vier und nun auch noch dieses Ärgernis... Es war mehr, als man einem Mann an einem Tag zumuten konnte.
„Und nun?“, fragte er und schaffte es nur mit Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. „Was ratet Ihr... als Goldschmied, mir nun zu tun?“
„Nun?“, wiederholte der Heerführer überrascht und näherte sich beiläufig der Tür. „Was sollte man Euch nun noch raten? Nun, vielleicht das Übliche, was man einem Verdammten eben noch so zu raten pflegt: Genießt die Zeit, die Euch verbleibt. Lasst alle Sorgen und Bürden von Eurem Geist abfallen und besinnt Euch noch einmal des Wesens Eures Daseins. Tut all das, was Ihr schon immer gern in Eurem Leben getan haben wolltet, bevor...“
„Ich bitte Euch, Sir, auch meine Geduld neigt sich dem sicheren Ende zu.“
Der andere zog bereits allmählich die Tür, während er noch zu überlegen schien. Dann drehte er sich wieder zu Arnur um. „Wisst Ihr, es ist im Grunde immer ratsam, auf der Hut zu sein.“ Die hellgrünen Augen warfen ihm einen unschuldigen Blick zu. „Und, wenn die Gelegenheit zurückkehren sollte, auf das Wort derer zu vertrauen, die es gut mit Euch meinen. Mit Euch und mit dem gesamten Reich.“
Ein plötzlicher Argwohn ergriff von ihm Besitz. „Und nicht etwa mit sich selbst?“
Die Augen seines Gegenübers weiteten sich vor Erstaunen. „Ihr zieht meine Absichten in Zweifel, Sir?“ Sir Raimund schüttelte empört den Kopf, ließ die Hand vom Türknopf fallen und ging.
~ Alyndur ~
Die Nebel begannen, sich zu lichten. Langsam, aber sicher gaben sie den Blick auf einen felsbewehrten Horizont frei, der sich nun nicht mehr in allzu weiter Ferne zu erstrecken schien. Auch das Land um sie herum gewann zusehends an Bäumen und sonstigem Pflanzenbewuchs und zeigte mittlerweile deutlich mehr Höhenunterschiede als noch wenige Tage zuvor. Wenn sie sich tagsüber einfach auf den Horizont verließen, dann würde es ihnen nicht möglich sein, die Adlerberge zu verfehlen. Wenn sie erst im Innern des Gebirges waren, würde es wichtig sein, sich nach dem Stand der Sonne und nach den Gestirnen am Nachthimmel zu richten, um nicht in der Weite der sagenhaften Berge die Orientierung zu verlieren. Doch ehe sie die Ausläufer des Gebirges erreichen würden, gab es andere Probleme zu bewältigen. Die ansehnliche Menge an Proviant, mit der sich Alyndur aus der Gesellschaft der Karawane gestohlen hatte, war nun fast zur Neige gegangen. „Seht!“, rief er von Calderions Rücken zu Anoras Stute herüber. „Hinter der Hügelgruppe dort vorne scheint sich ein Gewässer aufzutun. Wenn wir uns beeilen, werden wir es noch vor Anbruch der Dunkelheit erreichen. Dort können wir endlich wieder unsere Wasservorräte auffüllen und vielleicht wird es uns sogar möglich sein, ein paar Fische zu fangen. Mit etwas Glück könnte es sich um einen See handeln, der von einem Fluss gespiesen wird, dessen Lauf wir geradewegs in die Adlerberge folgen können, sodass wir stets mit frischem Wasser versorgt sind.“
Alyndur war einerseits froh, die endlosen Ebenen mit ihren ebenso wenig enden wollenden Nebeln endlich hinter sich zu lassen, doch andererseits lastete jene Nacht, da er seinen Wein mit Anora geteilt hatte, noch immer schwer auf seinem Gemüt. Es war, als hätte er ein Stück von sich selbst an jener Raststätte zurückgelassen. War es wirklich klug gewesen, einen Teil seiner Geschichte so leichtfertig preiszugeben? Zwar hatte Anora es bisher unterlassen, dort mit Fragen anzusetzen, wo er es im Nachhinein befürchtet hatte, doch was bislang nicht geschehen war, konnte ebenso gut später noch eintreffen. Es mochte stimmen, dass die Meinung der Elfe über ihn von geringer Bedeutung war, solange sie auf Gedeih und Verderb auf die Hilfe des anderen angewiesen waren, doch wer vermochte zu sagen, was die Zukunft bringen würde? Hinzu kam, dass der Waldläufer im Gegenzug kaum etwas über seine Begleiterin in Erfahrung hatte bringen können, was seine eigenen Belange hätte aufwiegen können. Selbst ganz davon abgesehen, was Anora über ihn denken mochte, entschied Alyndur, dass ihm die Vorstellung nicht behagte, die Wahrheit jemals wieder ans Tageslicht zu kehren, die er über so lange Zeit hinweg in seinem Innern vor den Augen der Welt verborgen gehalten hatte wie ein Vater seinen entstellten Sohn. Sie preiszugeben war, als ließe er sich sein innerstes Fleisch mitsamt seiner Adern nach außen kehren, sodass seine hautlosen Muskeln schutzlos an der offenen Luft brannten und sein Blut ungehindert aus seinem Körper herausströmte. Lieber sollten all die ungeliebten Erinnerungen bis hin zu seinem letzten Tage im Kerker seines Geistes verweilen und dann mit ihm das Angesicht der Welt für immer verlassen.
Im Reich des Weines galten jedoch andere Regeln als die der Vernunft und der Weitsicht. Es hieß, unter seinem Einfluss verlöre man gar das Empfinden für Schmerz, was Alyndurs Gemüt nunmehr zu bestätigen wusste.
Unwillkürlich schweiften seine Gedanken in eine Zeit zurück, da ein längst vergangener Weiser sein Möglichstes getan hatte, um ihn vor diesen Gefahren zu warnen.
Es war der Abend nach einer bedeutenden Schlacht gewesen, da die Raben schon zu dutzenden auf den Leibern der kläglich gefallenen Feinde gespiesen hatten. Der Plan eines großen Mannes hatte ihm und seinen Mitstreitern einen ruhmvollen Sieg geschenkt, der beinahe lediglich mit dem Blut der überraschten Gegner bezahlt worden war. Die Stimmung im Feldlager hatte ein euphorisches Ausmaß angenommen. Von überall her schallten die Rufe der Männer, die den Namen ihres großartigen Feldherrn ehrten. Aber bald schon, als die Trunkenheit im Lager nicht mehr allein dem Siege zu verdanken gewesen war, hatte Alyndur inmitten der Krüge vergeblich nach dem Manne Ausschau gehalten, dem die meisten Trinksprüche jenes Abends gegolten hatten. Schließlich fand er ihn an einer abgelegenen Feuerstelle am Rande des Lagers, wo die Laute der Krieger meist nur noch aus der Ferne zu vernehmen waren.
Wotredh saß auf einem Stein in der Nähe der Flammen und säuberte die Klinge seines Schwertes von dem Blut, das er am jenem Tage vergossen hatte. Als er Alyndurs Schritte vernahm, blickte er auf und lächelte zuvorkommend. „Nach der Schlacht ist vor der Schlacht. Sie täten gut daran, das nicht zu vergessen.“
„Sie feiern den Sieg - Euren und Ihren. Ist das nichts, worüber man ein paar Fässer vergießen dürfte?“
„Der Feind wurde niedergeworfen“, räumte der Heerführer unbeeindruckt ein. „Aber wollt ihr euch deshalb gleich zu ihm ins Gras legen? Nur zu, er wird es euch danken, wenn er genug Kraft finden sollte, um wieder aufzustehen.“
„Die Späher berichten von keiner weiteren Armee innerhalb von drei Tagesmärschen“, erwiderte Alyndur.
Dem entgegnete Wotredh mit einem herzlichen Lachen. „Es gibt noch andere Gründe, die es dir nahelegen, deine Fässer lieber über Sand zu vergießen.“ Er winkte Alyndur zu sich heran und hielt ihm plötzlich die Spitze seiner Klinge an die Kehle.
„Was ist das?“
„Ein Schwert?“
„Was noch?“
Alyndur zuckte ahnungslos die Schultern.
„Ein Geist. Es könnte deiner sein. Fahr mit deiner Hand über die Seite.“
Er tat wie ihm geheißen und erntete dafür einen Schnitt auf der Handfläche. „Es ist scharf.“
„Ein scharfer Geist also. Mehr fällt dir nicht auf?“
„Es gibt ein paar Kerben entlang der Seite.“ Er überlegte eine Weile, bis ihm klar wurde, was sein Gegenüber hören wollte. „An einigen Stellen ist sie nicht mehr so scharf wie an anderen.“
Wotredh nickte zufrieden. „Rinnsale deiner Fässer. Jedem Krieger steht es frei, im Rausch mit seinem Schwert so lange und so oft auf Fels zu schlagen, wie es ihm beliebt. Doch er sollte sich darüber im Klaren sein, welchen Schaden er damit an seiner Waffe anrichtet. Dieses Bewusstsein ist es, was den wahren Unterschied zwischen einem Waffenknecht und seinem Heerführer ausmacht, nicht die bloßen Titel.“
„Die Klinge lässt sich aber wieder schärfen“, warf Alyndur ein. „Wenn man einen Wetzstein zur Hand nimmt.“
„Das ist richtig“, gab ihm sein Lehrmeister Recht. „Doch ihre Substanz lässt sich nicht wiederbeschaffen. Sie geht für immer verloren. Stück für Stück, bis es dir passieren kann, dass dein Schwert eines Tages unter dem Schlag eines Gegners nachgibt, wenn du es am dringendsten benötigst.“
Alyndur nickte nüchtern. „Ich werde fortan keine Krüge mehr lehren, wenn das Euer Wille ist.“
Wotredh bedachte ihn mit einem amüsierten Lächeln. „Du missverstehst mich. Es ist nicht mein Wille, dass du keine Krüger mehr leerst.“
„Nicht?“
„Nein. Mein Wille ist es, dass du beginnst, deinen Verstand als Waffe zu begreifen. Ob du dein Schwert pflegst und führst wie ein Kämpfer seine Waffe oder wie ein Bauer seine Feldhake, bleibt dir selbst überlassen. Nur sei dir über Eines im Klaren.“
„Ja?“
„Kein Schmied der Welt vermag, dir ein neues zu geben.“
Es war eine jener Lektionen, die man sein Leben lang nicht vergaß, selbst wenn man ihre Mahnung wieder und wieder missachtete. Im Grunde war es doch bedauernswert, dass ein Mann wie Wotredh so früh hatte aus dem Leben scheiden müssen.
Da das Gewässer noch in einiger Ferne lag, nutzte Alyndur schließlich die Muße, indem er das Wort plötzlich auf eine Frage lenkte, die mit jedem Tag, da sie sich den Adlerbergen näherten, dringender wurde. „Das Gebirge ist groß. Wo meint Ihr, sollten wir mit der Suche nach dem Magier beginnen?“ Ihm selbst waren bislang nur ein paar Einfälle gekommen.
„Ihr werdet vielleicht schon einmal von dem Ort gehört haben, den man ,Winterkrone' nennt. Als höchster Gipfel der Adlerberge findet er in vielen alten Sagen und Geschichten als uralter magischer Platz Erwähnung. Wenn nur ein Bruchteil all dieser Legenden der Wahrheit entspricht, könnte sich dort im Laufe der Zeitalter möglicherweise die eine oder andere Spur manifestiert haben, die auf unser Ziel schließen lassen könnte. Diesen Gipfel aufzusuchen, wäre wohl zumindest ein ratsameres Unterfangen, als gänzlich ohne Plan und Vorhaben durch die Berge zu ziehen. Vielleicht könnte es sich auch als lohnend erweisen, an dem einen oder anderen Ort, der von Ulbruns Volk bewohnt wird, Näheres über das in Erfahrung zu bringen, was uns in den größeren Höhen bevorsteht. Vermutlich werden wir das Weite Reich auf dem Weg in das tiefere Gebirge ohnehin durchqueren müssen und können dort auch neue Ausrüstung ergattern. Hoffen wir nur, dass es uns gelingen wird, uns mit den Einwohnern dort zu verständigen...“ Der Waldläufer machte eine Pause und lächelte bitter. „Und lasst uns hoffen, dass ihnen noch niemand von den Geschehnissen in der Karawane berichtet haben wird.“