Kingdoms - About Honor and Traitors

Anora

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~ Anora ~

„Nun…“ Unbehaglich setzte sich Anora in ihrem Sattel zurecht. Ohne es zu wissen hatte Alyndur einen Punkt angesprochen, der ihr schon lange schwer im Magen lag. Bisher war der Weg ihrer Reise immer klar ersichtlich gewesen: Nordwärts, das war das Einzige, das gezählt hatte. Doch nun, da das Gebirge sich vor ihnen auftat, war Anora nicht weniger ratlos als ihr Begleiter. Sie hatte gehofft, irgendwo auf dem Weg hierher, wie etwa in Kahlar’tha, einen Hinweis zu erhalten, wo sie mit der Suche beginnen sollten, doch nichts Dergleichen war geschehen. Der Gelehrte, den sie suchten, konnte überall sein – Falls er überhaupt existierte! – und ohne festen Ausgangspunkt könnte sich die Suche über Monate hinwegziehen. Die Adlerberge waren ein sehr weitläufiges Gebiet…
„Fangen wir also mit der Winterkrone an!“ Die Elfe lächelte matt. „Das hat immerhin noch den Vorteil, dass wir den schwersten Aufstieg gleich am Anfang bewältigen müssen.“
Bei allem, was sie bisher durchgemacht hatten – Der weitaus schwierigere Teil der Reise lag noch vor ihnen! Doch immerhin war das Ziel nun in Sichtweite gerückt. Die Berge, die sich schemenhaft am Horizont vor ihnen abzeichneten, waren mehr als nur ein willkommener Anblick. Sie symbolisierten für Anora hauptsächlich den Wendepunkt ihres Weges – Auch wenn dieser noch lange nicht erreicht war. Daraus schöpfte sie neue Kraft und Entschlossenheit, und seit die Kontur des Gebirges am Horizont aufgetaucht war mochte sie den Blick kaum noch von ihr abwenden. Das musste sie jedoch nun, hatte Alyndur doch noch einen weiteren Punkt angesprochen, der ihr kaum weniger unangenehm war als ihre Ratlosigkeit bezüglich des weiteren Verlaufs ihrer Reise.
„Das Weite Reich… Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“
Sie sträubte sich innerlich gegen den Gedanken, Ulbruns Heimat zu durchqueren. So sehr sie den Seher auch zu schätzen gelernt hatte, was den Rest seines Volkes anbelangte hatte sie bisher nur wenig positive Erfahrungen gemacht. Und obwohl sie sich immer wieder selbst sagte, wie irrsinnig es sei anzunehmen, ihr Gesicht sei im gesamten Nordreich bekannt und am Ende noch wegen der Taten, derer man sie beschuldigte, ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt, blieb dennoch ein bitterer Geschmack auf ihrer Zunge, wenn sie auch nur daran dachte, das Volk des Weiten Reiches aufzusuchen.
„Aber wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass wir vom Nordvolk Informationen und Ausrüstung bekommen, die uns weiterhelfen, dann müssen wir diese auch nutzen.“, brachte sie es auf den Punkt. Sie hatten die Wahl zwischen einer anhaltslosen Suche in den Weiten der Adlerberge oder dem zugegebenermaßen sehr geringen Risiko, noch einmal den Mitgliedern der Karawane über den Weg zu laufen. Diese Entscheidung zu fällen war eine Sache der Vernunft, nicht jedoch des Herzens. Sie hoffte nur, sie würde dies nicht bereuen.

Tatsächlich erreichten sie das Gewässer, das Alyndur bereits aus der Entfernung ausgemacht hatte, noch einige Zeit vor der Abenddämmerung. Mit ihrem Ziel vor Augen waren sie deutlich schneller vorangekommen als in den Tagen zuvor, in denen Anoras Verletzungen sie immer wieder zu niedrigerem Tempo und längeren Pausen gezwungen hatten. Die Elfe hatte sich stets bemüht, sich nichts anmerken zu lassen und sich niemals beklagt, doch Alyndur schien ein gutes Auge dafür zu haben, wann sie mit ihren Kräften am Ende war, und so hatte er immer im richtigen Moment seinen Hengst gezügelt oder eine Rast vorgeschlagen. Anora dankte es ihm stillschweigend.
Als sie näher kamen, entpuppte sich das Gewässer zu einem stattlichen See, umgeben von einem lichten Wäldchen von Nadelbäumen. Sie errichteten ihr Lager in Ufernähe und ließen die Pferde frei grasen. Der Boden war karg, doch verglichen mit den Ebenen bot er den Tieren ein üppiges Festmahl.
Alyndur beschloss, die Gegend zu erkunden und vielleicht hoffte er auch darauf, dass ein unvorsichtiges Wild seinen Weg kreuzte. Anora indes wollte am See bleiben und versuchen, ein paar Fische zu fangen.
Als der Waldläufer fort war, zog sie ihre Schuhe aus und watete ein paar Schritte in den See hinein, bis sie etwa hüfttief im Wasser stand, dann verharrte sie in einer gebückten Position. Das Wasser war ungewöhnlich klar – Sie konnte bis zu ihren Zehen hinunter sehen, und wenn sie mit diesen wackelte, konnte sie die aufsteigenden Wirbel von Schlick und kleinen Steinchen beobachten, die von der Bewegung verursacht wurden. Sie musste nicht lange so warten, bis sich ihr die ersten, neugierigen Fische näherten. Sie waren nicht besonders groß, doch das Licht der Abendsonne wurde von ihren silbernen Schuppen reflektiert, so dass sie kaum zu übersehen waren. Anora wartete noch einen Moment, dann packte sie zu – Doch ihre Finger umschlossen nichts als das klare Wasser. Leise fluchend nahm sie wieder ihre Ausgangsposition ein und wartete erneut. Dieses Spiel wiederholte sich noch einige Male, und immer griff die Elfe ins Leere. Sie machte die Verletzung an ihrer rechten Schulter dafür verantwortlich, dass ihre Bewegung zu langsam war, und mit ihrer Linken war sie nicht geschickt genug die wendigen Fische zu fassen. Ein paar Mal streifte sie deren glatte Schuppenhaut, doch das war dann auch schon Alles. Mit der Zeit wurden die Abstände, in denen sie warten musste, größer. Die Fische waren vorsichtiger geworden. Auch die Kälte des Wassers wurde langsam zu einem Problem, denn Anora begann zu frieren, und zitternde Hände erleichterten ihr ihr Vorhaben nicht gerade. Frustriert gab sie schließlich auf und watete zum Ufer zurück.
Doch der Sinn stand ihr noch nicht danach, das Wasser zu verlassen. Prüfend sah sie sich um und vergewisserte sich, dass Alyndur noch nicht zum Lager zurückgekehrt war. Dann entfernte sie sich ein Stück weit von der Uferstelle, von der aus es nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Rastplatz waren. An einer durch Schilf geschützten Stelle machte sie schließlich Halt und sah sich noch einmal über die Schulter um. Dann streifte sie sich ihre Kleider vom Körper. Der durchnässte Stoff hatte sie schon vorher kaum noch vor der Kälte geschützt, doch nun erst spürte sie, wie kalt es tatsächlich war. Langsam aber sicher hielt der Winter Einzug in das Land. Dennoch empfand sie es als angenehm, den leichten Wind direkt auf ihrer Haut zu spüren. Anora schloss für einen Moment die Augen und genoss dieses Gefühl, ein Gefühl der Freiheit. Dann öffnete sie die Augen wieder – Sie hatte noch einiges vor.
Sie kniete sich in das seichte Wasser und begann, ihre Kleidung zu reinigen. Es war nicht einfach, das getrocknete Blut, das zu einem nicht unerheblichen Teil auch ihr eigenes war, aus dem Stoff und dem Leder herauszuwaschen, und als es ihr schließlich gelungen war, legte sie die einzelnen Kleidungsstücke am Ufer ordentlich über großen Steinen aus, damit sie dort von den Strahlen der Abendsonne getrocknet wurden. Als sie fertig war, machte sie sich daran, den Verband um ihre Schulter, den Alyndur ihr angelegt hatte, abzunehmen und ihre Wunden zu begutachten. Sie heilten nur langsam, da sie aufgrund der fehlenden Schonung in den vergangenen Tagen immer und immer wieder von neuem aufgerissen waren, doch zumindest hatten sie sich nicht entzündet. Die Verstauchung in ihrem rechten Bein war schon lange abgeklungen, die Platzwunde an ihrer Stirn kaum noch sichtbar und auch die Verbrennung in ihrer linken Handfläche hinterließ keine Schmerzen mehr, sondern nur noch Narben. Anora lächelte leicht. Ihr Körper begann langsam, sich zu erholen. Vorsichtig reinigte sie ihre Wunden und wusch sich das verklebte Blut von der Haut. Lange hatte sie sich danach gesehnt, dies tun zu können, und tatsächlich war es ein gutes Gefühl, endlich wieder von all diesem Schmutz befreit zu sein. Es war wie eine Last, die von ihr abfiel.
Anschließend ging Anora ein wenig weiter in den See hinein, und als sie nicht mehr stehen konnte, schwamm sie in langen, ruhigen Zügen. Um sie herum war eine herrliche Stille, die nur von vereinzelten Rufen der Vögel des Waldes und dem Wind, der durch die Baumspitzen zog, durchbrochen wurde. Mit der Bewegung kehrte langsam auch eine angenehme, prickelnde Wärme in ihren Körper zurück. Sie hatte sich mittlerweile ein gutes Stück vom Ufer entfernt. Die Elfe fragte sich, wie tief der See wohl sein würde, und beschloss, es herauszufinden. Sie holte tief Luft, dann tauchte sie unter die Wasseroberfläche hinab. Das Wasser war auch hier noch erstaunlich klar, doch je tiefer sie kam, desto dunkler wurde es um sie herum, da das Sonnenlicht nicht so weit zu ihr hinunter vordringen konnte. Den Grund des Sees konnte sie jedoch nicht sehen. Als sie noch tiefer tauchte, versperrte Seegras ihr die Sicht. Große Schwärme an silbernen Fischen, die weitaus größer waren als jene, die sie am Ufer gesehen hatte, stoben vor ihr zurück, formierten sich neu und schwammen dann weiter ihres Weges. Sie entdeckte mehrere Arten von Fischen und auch einige andere Wasserlebewesen, doch dann musste sie auftauchen um Luft zu holen. Anora ging noch einige weitere Male unter die Wasseroberfläche, um die Unterwasserwelt zu bewundern, bis ihr schließlich der Atem ausging. Außerdem wurde es langsam Zeit, zurück zum Ufer zu schwimmen. Ein wenig hatte sie ein schlechtes Gewissen, da es ihr nicht gelungen war, einen Fisch zu fangen und sie somit mit leeren Händen ins Lager zurückkehrte, doch vielleicht würden sie am nächsten Tag mehr Glück haben.
Als sie wieder festen Boden unter ihren Füßen spürte, wandte sie sich noch einmal zur Mitte des Sees hin um. Das letzte Licht der untergehenden Sonne wurde von der Wasseroberfläche reflektiert, so dass der See von einen roten Glanz überzogen wurde. Blutrot… In diesem Moment umgab diesen Ort eine verwunschene, fast magische Atmosphäre. Für einen Augenblick schien der See nicht mehr nur ein einfacher Vorgebirgssee zu sein, sondern ein von den Göttern berührter Ort.
Leicht schaudernd wandte Anora sich von diesem Schauspiel der Natur ab und ging zurück zum Ufer.
 

Alyndur

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~ Alyndur ~

Er schritt vergnügt seines Weges. Es tat gut, sich endlich einmal wieder auf eigenen Füßen fortzubewegen, ohne ständig an den Rücken eines Pferdes gebunden zu sein oder das Gewicht von Gepäck auf dem eigenen zu spüren. Beides hatte Alyndur an dem gemeinsamen Rastplatz mit Anora zurückgelassen, und sich erlaubt, nur mit Bogen, Schwert und leichter Jagdausrüstung in die sporadisch bewaldeten Hügel loszuziehen.
Die trockenen Grashalme bogen sich widerspenstig unter seinen ledernen Sohlen. Hier und da knirschten auch einige Blätter, doch bei den meisten Bäumen in der Nähe seines Pfades handelte es um immergrüne Fichten und um die ein oder andere Lärche, deren Nadeln und Zapfen über das Land verstreut waren. Erst in Richtung des Ufers hin wurden Erlen und Birken zahlreicher und in der Nähe des Wassers waren einige Weiden und sogar ein paar lichte Gruppen von Eichen und Rotbuchen zu erkennen.
Der Waldläufer fragte sich, wann ihm das letzte Mal so leichtfüßig zumute gewesen war, und beschloss, dass es eine beachtliche Weile her gewesen sein musste. Auf der Suche nach Wild begann er, unter dem Licht der Abendsonne den See zu umrunden. Wann immer der Wind eine kalte Böe aus dem Norden brachte, hielt Alyndur inne und forschte darin nach der Spur einer Beute, als sei er selbst ein Raubtier der Wildnis.
Auf dem Kamm eines Hügels fand er die bröckelnde Ruine eines alten Wachturms vor. Die obere Hälfte des einstmals sehr hohen Gebäudes war seit langem eingestürzt und lag nun wie eine eckige Höhle quer neben der unteren Hälfte, die noch immer gerade stand. Im Innern des Turmes erinnerten nur noch die vereinzelten Reste schwarzer Balken an die Holztreppe, die zum Dach geführt haben musste, doch der steinerne Mantel des Wachpostens reichte noch immer ein kleines Stück weit über die Krone einer benachbarten hohen Esche hinaus. Alyndur juckte es in den Fingern und ehe er sich versah, hatte er seine Sachen bei Seite gelegt und prüfte das alte Gemäuer mit Händen und Füßen. Wind, Frost, Regen und Zeit hatten dem Gestein deutlich zugesetzt, aber dennoch hielt es seinem Griff stand. Der Waldläufer stieß sich vom Boden ab und zog sich behutsam von einer Kerbe oder Einhöhlung zur nächsten. Der Grund wurde mit jedem Zug tiefer unter ihm und mit jedem Stück, das er an Höhe gewann, blies der Wind ihm ein bisschen lauter und wilder um die Ohren und durchs Haar. Einmal tastete seine Hand in etwas Weiches und sogleich stieß ein wütender Falke kreischend aus seinem Hort direkt über Alyndurs Kopf hinweg. Ein schauriger Blitz fuhr durch seine Glieder und plötzlich merkte er, dass er nur noch mit einer Hand an dem Gemäuer baumelte. Entsetzt erneuerte er seinen Halt und fand sich unwillkürlich dazu bereit, auf den weiteren Aufstieg zu verzichten. „Dieser Turm hat für uns Menschen ausgedient.“
Der Abstieg war um einiges schwieriger und unangenehmer, da es galt, mit in die Tiefe gesenktem Blick mit den Füßen die richtigen Stellen im abgewetzten Gestein zu ertasten. Einige Nischen und Löcher erwiesen sich als tödliche Fallen und dem Waldläufer gelang es nur mit Mühe und Not, sich wieder auf die letzte Position zurückzubegeben, um einen neuen Halt auszutesten. Schließlich taumelte Alyndur ermattet ins spröde Gras und dankte den Göttern, als ihn der sichere Boden umfing.
Es dämmerte längst und der Waldläufer war auch schon überreif für das Nachtlager, doch noch immer wollte erst etwas gefunden sein, um die kargen Nahrungsvorräte aufzustocken, die er mit seiner Reisegefährtin teilte. Anora hatte sich bereit erklärt, ihr Glück bei der Fischjagd am Ufer zu versuchen, doch angesichts der Verletzungen, die sie noch immer beeinträchtigten wollte er sich davon nicht allzu viel erwarten.
Alyndur setzte seine Suche nach Beute fort, doch was diese Gegend an Wild in sich barg, hielt sich ihm im Schutze der Dämmerung gut verborgen. Am Ufer des Sees hielt er nach Enten, Schwänen und anderen Wasservögeln Ausschau, doch die einzigen Tiere, die er ausmachte, befanden sich zu weit auf dem offenen Wasser, als dass man sie mit den spärlichen Mitteln, die ihm hier zur Verfügung standen, hätte erhaschen können. Eine Schar Graugänse schnatterte über ihn hinweg, doch auch sie flogen in so großer Höhe, dass er bei dem Versuch vermutlich nur einen Pfeil verschwenden würde.
Unterdessen war die Dunkelheit eingetreten, als Alyndur den See, an dem sie rasteten, fast umrundet hatte, ohne sich auch nur mit der kleinsten Beute rühmen zu können. Ein dünner Sichelmond war ans Himmelszelt getreten und dort, wo man bei Tage das Standbild der Adlerberge hatte erblicken können, tanzten nun bunte Lichter in der Ferne. „So schön, wie sie anzusehen sind“, musste er seinem knurrenden Magen beipflichten. „Teurer wären sie mir, wenn man sie essen könnte.“
Als hätten die Götter seine Worte vernommen, trat Alyndur auf etwas Rundes, das unter seinem Schritt nachgab. Er griff verwundert danach und betastete die gebrochene Schale einer Kastanie. Er kniete sich nieder und gewahrte, dass die braunen Herbstfrüchte den ganzen Boden um ihn herum reichlich bedeckten. Rasch löste er seinen Umhang von den Schultern und begann, die unverhofften Schätze wie in einem Bündel darin zu sammeln.

Der Waldläufer hatte bereits einen üppigen Vorrat gehortet, als er das Grunzen vernahm. Erst jetzt schlug ihm die würzige Mischung der Gerüche von Nadelholz, Schlamm, tierischem Schweiß, Nahrungsresten und Aas in einem deftigen Schwall entgegen. Behutsam las Alyndur seinen Sack voll Kastanien vom Boden auf und stahl sich so leise und vorsichtig davon, als ginge er auf Nadelspitzen.
Nach einer Weile atmete er erleichtert auf. Er grinste über sich selbst und seine einstweilige Angst und schaukelte den Umhang mit den braunen Schätzen an seiner Seite lachend hin und her... bis er schnaubendes Hufgetrappel hinter sich hörte.
Auf ein Mal wusste Alyndur, was laufen hieß. Er rannte durch den kleinen Wald und wagte es nicht, hinter sich zu schauen. Hin und wieder floh sein Blick zu den Phantomen der Bäume, an denen er vorbeijagte, doch es war bei weitem schon zu dunkel, um eine Gelegenheit zum Klettern auszumachen. Er rannte, was seine Beine hergaben, doch das unheilvolle Getrabe näherte sich unaufhaltsam. Erst jetzt, bemerkte der Waldläufer, dass er noch immer den Beutel voll Kastanien mit sich führte, die er so mühevoll gesammelt hatte. Er machte Anstalten, sich davon zu trennen, doch es war zu unentschlossen und zu spät.
Schon spürte er, wie der Odem des Biestes kalt und blutlüstern gegen seine Waden brandete und seine Kleidung von den Füßen bis zu den Knien durchnässte... oder war es das steigende Wasser um ihn herum? Alyndur stolperte und überantwortete sich dem kalten See, der ihn empfing. Er wollte tauchen, tief und weit, um der Reichweite des Biestes zu entfliehen. Das tiefe Tauchen fiel ihm nicht schwer, denn in dem Beutel, den er noch immer in der Rechten hielt, waren dutzende von Steinen, die ihn nach unten zogen. Bald war er am Grund angekommen, wo er erkannte, dass der Keiler die Verfolgung im Wasser aufgegeben hatte. Nun erst bemerkte er, wie kalt das Wasser tatsächlich war und die Luft drohte ihm knapp zu werden. Es war nicht leicht, sich samt seiner Ernte an die Wasseroberfläche zurückzukämpfen, aber irgendwie gelang es ihm. Er war nicht weit vom Ufer entfernt, aber trotz der Kälte und dem Gewicht des Umhangs zog er es vor, noch nicht wieder an Land zu gehen, die Begegnung mit dem Keiler steckte ihm noch zu tief in den Knochen. Alyndur tat in seiner nassen Montur ein paar schwerfällige Züge und musste dabei unwillkürlich an den einen oder anderen Herbst seiner Kindheit in Númar zurückdenken. Für seine Schwester Ylma und ihn war es ein Spiel gewesen, sich selbst oft noch lange dann zum Baden in einem der nahegelegenen Seen zu zwingen, als das Wasser schon bei weitem zu kalt war, um es lange darin auszuhalten. Derjenige, der es eines Tages als erster nicht mehr über sich gebracht hatte, hatte verloren und dem anderen im folgenden Jahr irgendeinen großen Gefallen seiner Wahl geschuldet. Obschon Alyndur jedes Jahr gewonnen hatte, hatte er nicht umhin gekonnt, die wachsende Willenskraft seiner kleinen Schwester anzuerkennen. Im letzten Jahr hatte sie es sich streng zum Ziel gesetzt, um keinen Preis wieder zu verlieren und so hatte sich das Spiel seit Ende des Sommers Woche für Woche über den ganzen Herbst hinweg gezogen, bis in den Winter hinein, als die Ufer der Seen schon zu frieren begonnen hatten und sich auf den Schilfskolben Schnee niedergelegt hatte. Schließlich war Ylma jedoch an einer schweren Grippe erkrankt und als ihr Vater dahinter gekommen war, war er aufs tiefste erbost gewesen und hatte ihnen das Spiel für alle weiteren Jahre verboten. „Dazu taugst du also“, hatte er Alyndur angebrüllt. „Deiner Schwester ein Grab zu schaufeln, das ist die Kunst, für die du geboren bist!“
Schließlich wurde es doch zu mühselig, mit all dem Gewicht weiterzuschwimmen und der Waldläufer entschied sich dafür, sich in Ufernähe im niedrigen Wasser weiterzuwaten, bis er das Feuer erkennen konnte, mit dem seine Begleiterin schon das Lager markiert hatte.

Anora staunte nicht schlecht, als sich unweit von ihrer Raststelle jemand prustend durch das Schilf brach. Die Elfe wich einen raschen Schritt zurück, als sei es der Unhold der Tiefen in Person, der da von allen Ecken und Enden triefend mit einem großen Sack über den Schultern auf sie zugestampft kam.
„Heute gibt es fleischlose Abendkost!“, schnaufte die nasse Gestalt und schleuderte den schweren Beutel mit beiden Händen vor sich im Kreis herum, dass es nur so raschelte und spritzte. „An diesem See tragen die Bäume ihre Früchte an den Wurzeln unter Wasser“, erklärte der Wassermann der Elfe mit einem gereizten Tonfall, der weder Fragen noch Widerspruch duldete. „Helft mir, die Dinger in der Glut zu rösten. Und versucht, mich dabei nicht so dümmlich anzuglotzen!“
 
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Darghand

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~ Harmund ~

Als Harmund am nächsten Morgen erwachte war Leki bereits auf und wusch Wäsche in einem Holzbottich. Sie schaute nur kurz auf, ohne zu grüßen, und schrubbte dann weiter an einem besonders hartnäckigen Fleck herum.
Harmund trat zur Tür hinaus und entleerte seine Blase an der Rückseite des windschiefen Hauses. Nun, im Licht der Morgendämmerung, sah das Dorf noch trostloser aus als am Abend zuvor. Alles um ihn herum wirkte feucht und angefault, schmutzig, matschig und elend. Wer immer die Idee gehabt hatte, das Dorf ausgerechnet hier, am Rand des Moores, zu gründen hatte damit keine glückliche Hand bewiesen. Erneut fiel ihm das verwitterte Stammestotem auf. Unter den Schichten von Moosen und Flechten schien es eine übergroße Bisamratte oder einen Otter darzustellen.
Neben dem Eingang fand Harmund ein Faß mit Regenwasser und wusch sich damit Gesicht und Oberkörper. Fröstelnd trat er zurück in Lekis Heim. Auf dem Tisch erwartete ihn eine Holzschüssel voll Buchweizenbrei, der mit saurer Milch zubereitet war. Honig gab es keinen, nur ein paar süße Wurzeln und eine halbe Birne. Harmund schlang das Frühstück dennoch mit Appetit hinunter.
„Bild dir nichts auf die Nacht ein.“ sagte Leki. „Ich hab mit dir die Felle geteilt, weil mir nach einem Mann war. Du bist Grenzläufer - da kann ich mir wenigstens sicher sein, dass du hinterher nicht gleich hier einziehen willst und mir am Rockzipfel hängst.“
Harmund lächelte schwach. An ihren Feuern machten hin und wieder die Geschichten von früheren Grenzläufern die Runde, die wahre Weiberhelden waren. Diese Helden räuberten sich durch dutzende Felllager und bestiegen die vollbusigen Töchter des Häuptlings, während dieser seinen Rausch ausschlief. Die Frauen fühlten sich in diesen Erzählungen stets von der ungezähmten, wilden Natur und der ungeschliffenen Männlichkeit der einsamen Passwanderer angezogen. Lekis Erklärung erschien Harmund weitaus wahrscheinlicher, doch behielt er seine Gedanken für sich. Er murmelte nur ein knappes „Da hast du wohl recht“ und machte sich über den Rest seiner Grütze her.
„Hör mal“ sagte Harmund, nachdem er die Schüssel geleert hatte. „Ich muss mit eurem Seher sprechen, bevor ich weiterziehe. Wo kann ich ihn finden?“
„Ich dachte, deine Sorte versteht sich nicht mit den Sehern.“
Harmund zog eine Grimasse.
„Tun wir auch nicht. Ich muss trotzdem mit ihm sprechen. Also?“
„Wir haben keinen mehr.“ sagte Leki schulterzuckend und warf ein weiteres nasses Kleidungsstück über die Leine. „Der letzte ist vor vier Wintern gestorben, und dann sind Waffe und Umhang verschwunden und dann... ach, wasweißich. Jedenfalls ist seit zwei Wintern die Birke da. Mit ihr musst du reden.“
„Die Birke?“
„Ja. So nennt sie sich. Kam hier irgendwann an, sah, dass wir keinen Seher haben, wir haben ja nicht mal 'nen richtigen Häuptling oder was, und ja, da ist sie halt da geblieben.“
„Und was macht diese Birke?“
„Nicht viel, das kann ich dir sagen. Seit dem Sommer steht sie nur noch am Rand vom Weiher. Manchmal gibt sie Ratschläge, die meisten taugen sogar was. Hat uns gesagt, wo wir Buchweizen aussäen sollen und, tja, soviel haben wir noch nie geerntet.“
„Und warum nennt sie sich so?“
Leki sah ihn an, als könne er nicht eins und eins zusammenzählen.
„Na, weil sie aussieht wie eine Birke. Warum denn wohl sonst?“

Der Weiher lag abseits des Dorfes. Den Weg dorthin zu finden war nicht schwer, zu dem Teich selber vorzudringen hingegen schon, denn man musste sich durch ein Wacholderdickicht kämpfen. Harmund fluchte, trat einen weiteren Schritt und riss seinen verhedderten Fellumhang aus den nadeligen Büschen heraus.Die Stiche der kleinen spitzen Nadeln juckten bereits auf der Haut.
Gerade als er aus dem Buschwerk heraustreten wollte, hielten ihn die nadeligen Zweige abermals fest und er spürte, wie ihm die Axt aus dem Halfter entwendet wurde. Er wand sich in der nadeligen Umklammerung und versuchte die Waffe zu erreichen, doch in diesem Moment löste sich der Wacholder von ihm und schleuderte ihn buchstäblich aus dem Dickicht hinaus.

Harmund erhob sich schnaufend. Vor sich, an der gegenüberliegenden Seite des Teiches, sah er eine zierliche Birke von menschlicher Gestalt. Zwei dünne, knorrige Stämme entwuchsen wie Beine dem Erdboden und vereinigten sich zu einem verdrehten Torso. Die vom Herbst entlaubte Krone bestand nur aus einigen dürren Zweigen, die aus dem Kopf herauswuchsen. Die Äste, die an Arme erinnerten, fischten mit langen hängenden Zweigen im Wasser des Tümpels. Die Birke richtete sich langsam und auf eine Art und Weise auf, die Harmund unwillkürlich falsch vorkam, als wolle sein Verstand die Augen davon überzeugen, dass sie in Wirklichkeit gar nicht sahen, was sich vor ihnen abspielte. Bäume neigten sich im Wind oder unter der Last von Schnee. Diese Birke schien vor seinen Augen zu wachsen und sich in Winden zu bewegen, die von allen Seiten kamen.
In der Borke zeigten sich Falten wie im Gesicht einer alten Frau und schließlich öffneten sich zwei grün leuchtende Augen.
„Wir dulden hier nichts, was uns schaden könnte.“ säuselte die Baumgestalt und es klang wie Pappelblätter, in denen der Sommerwind flatterte. Harmund starrte stumm vor Erstaunen die Baumgestalt an.
„Du... du bist ein Baummensch, nicht wahr?“ stieß er endlich hervor.
Harmund wusste nur wenig über die ebenso seltenen wie seltsamen Baummenschen, und das allermeiste hielt er für Märchen. Die wenigen Baummenschen, denen er begegnet war, waren nicht mehr als harmlose Sonderlinge gewesen, die durch den Wald liefen und pausenlos mit den Bäumen um sie herum sprachen. Da sie häufig jegliche aus Tieren hergestellte Kleidung ablehnten, erfroren viele von ihnen im Winter. Jedenfalls hatte keiner von ihnen über die Fähigkeit verfügt, die Gestalt eines Baumes anzunehmen, wie oftmals berichtet wurde.
„Das ist euer Wort, Passwanderer, nicht unseres. Wir hingegen brauchen keine Namen mehr.“ Die Birke vollführte mit ihrem Astarm eine weit ausholende Begegnung. „Tritt näher, Passwanderer. Wir haben gesehen, wie du den Jungen hergebracht hast. Du hast recht daran getan.“
Harmund machte unwillkürlich einige Schritte nach vorne, ohne den Blick von der Birke lösen zu können.
„Woher weißt... wisst ihr davon?“
Die Birke seufzte und senkte ihre kahlen Zweige ins Wasser.
„Wir haben es gespürt. In unseren Wurzeln, auf die ihr getreten seid, und mit den Spitzen unserer Zweige, die auf eurem Weg gestreift habt.“
Erneut streckte die Birke ihren Arm aus. Harmund spürte, wie ihn da und dort die Zweige streiften und sich um seine Schultern wanden. Ohne es zu merken oder zu wollen war er immer näher getreten.
„Du... willst uns etwas mitteilen.“ wisperte die Baumgestalt. „Etwas, was du für wichtig hälst?“
„J-ja!“ Harmund nahm den Rucksack vom Rücken und holte die in Lumpen gewickelte Tatze des Wargs hervor. Ruckartig schnellten die Zweige der Birke zurück. Die Baumfrau stöhnte leise und krümmte sich zusammen.
„Ja. Ja. Wir... haben es gespürt. Der ungekannte Schatten, der unter unseren Kronen umherstreift. Es... haaaaah! Es hat uns Angst gemacht. Es hat etwas geweckt, was immernoch vergessen ist.“
„Wisst ihr, was es ist? Oder woher es kam?“
„Nein! Wir kennen nur den Wind, der den Geruch von Aas trägt, aber nicht den Ort, von dem er weht. Wir... wissen, dass es nicht hierher gehört.“
Harmund erschauderte. Die Angst der Birkenfrau war förmlich greifbar. Er verstaute die Klaue wieder im Rucksack.
„Nun, wir... wir haben es getötet, ich und meine Kameraden.“ versuchte er die Birke zu beruhigen. „Ihr braucht keine Angst mehr vor...“
„Dass ihr es getötet habt sollte Anlass weit größerer Angst sein, Passwanderer!“ zischte die Birke.
„Was meint ihr damit?“
„Wir... denken anders als ihr.“ Seufzend schloss die Baumfrau die Augen. „Wir sind viele, in uns werden bloß Erinnerungen geweckt. Soviel wurde mit dem Verlauf der Zeiten vergessen! Die Jahresringe sind verblichen. Die stolze Eiche weiß kaum noch etwas von ihrem Dasein als Setzling.“
Die Faszination über die Birke wich langsam Verwirrung und Ärger.
'Herrje,' dachte Harmund, 'genauso ein rätselhaftes Zeug wie die Seher daherfaseln, wenn nicht noch schlimmer. Zu seltsam, dass sie sich mit den Baummenschen nicht verstehen.'
„Zügle deine Wut, Passwanderer!“ fuhr ihn die Birke an. Die grünen Augen blitzten für einen kurzen Augenblick, doch dann fuhr sie sanfter fort. „Trage deine Kunde weiter. Und sei schnell dabei. Sprich mit den Sehern, vielleicht... vielleicht wissen sie mehr als wir nur ahnen können.“
„Viel ist das nicht, aber ich danke dir, Birke.“ murmelte Harmund und verneigte sich leicht.
„Du musst verstehen, Passwanderer. Uns hält nur wenig in eurer menschlichen Welt. Unserer Weg ist ein anderer.“
„Meiner auch.“ sagte Harmund, raffte sein Gepäck auf dem Rücken zusammen. „Leb wohl, Birke.“
Die Baumfrau seufzte und ihr Gesicht verblasste langsam in der Borke.
 

Anora

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~ Anora ~

Anora hob eine Augenbraue und betrachtete den atemlosen und komplett durchnässten Waldläufer mit einem amüsierten Blick. Ihre Mundwinkel zuckten leicht, doch sie biss sich auf die Zunge und hütete sich, einen der recht vielzähligen Gedanken, die ihr bei Alyndurs sonderbarem Anblick durch den Kopf gingen, laut auszusprechen. Er machte auf sie einen mürrischen und gereizten Eindruck, und sie wollte nicht riskieren, den dünnen Faden der Freundschaft – Wenn man es überhaupt so nennen wollte! – , den sie in den letzten Tagen gesponnen hatten, zu zerreißen. Etwas Wein hätte in dieser Situation geholfen und die unbehagliche Stimmung aufgelockert, dessen war sie sich sicher, doch Alyndurs Vorrat war so gut wie erschöpft. So machte sie sich stattdessen stillschweigend daran, bei der Zubereitung der Kastanien zu helfen, die Alyndur von seinem mysteriösen Ausflug mitgebracht hatte.
Nach einem schmackhaften, jedoch recht wortkargen Abendmahl kramte sie aus ihrer Ausrüstung einen Beutel mit Nadel und Faden hervor und nutzte den flackernden Lichtschein des Feuers dazu, um die Löcher, die die Klauen der Kreatur in den Ebenen in ihre Kleidung gerissen hatten, notdürftig zu flicken. Sie war noch nie besonders geschickt in derlei Dingen gewesen, und bald schon musste sie feststellen, dass die Ergebnisse bei dem geschmeidigen, schwarzen Leder ihrer Oberbekleidung recht unbefriedigend ausfielen. Knurrend legte sie schließlich Nadel und Faden beiseite. Es würde Wochen, wenn nicht gar Monate dauern, bis sie wieder die Möglichkeit erhalten würde, einen anständigen Schneider aufzusuchen, um ihre Sachen ausbessern oder sich etwas Neues anfertigen zu lassen. Als sie aufsah, bemerkte sie, dass Alyndur sie mit einem düsteren Blick beobachtete. Einem plötzlichen Impuls folgend stand sie auf und entfernte sich beinahe hastig von ihrem Lager. Ohne dass sie sich über das Ziel ihres jähen Aufbruchs wirklich bewusst war, trugen ihre Füße sie zum Ufer des Sees. Das fahle Licht des sichelförmigen Mondes spiegelte sich in der ebenmäßigen Wasseroberfläche wider und wurde vom flackernden Glanz der Gestirne umrahmt wie von abertausenden von umherschwirrenden Glühwürmchen. Dieser beinahe schon mystische Anblick hatte etwas Beruhigendes an sich. Anora atmete tief durch und ließ sich auf einem Stein nieder. Das unbehagliche Schweigen zwischen Alyndur und ihr zehrte an ihren Nerven, doch Redegewandtheit oder auch nur unterhaltsames Geplapper hatten noch nie zu ihren besonderen Stärken gezählt. Es brachte gewiss Vorteile mit sich, dass sie nun nur noch zu zweit reisten, doch in Augenblicken wie diesem empfand sie die Anwesenheit von nur einem einzigen Begleiter und von Alyndur im Speziellen als unglaublich anstrengend. Auch der Waldläufer zählte nicht unbedingt zu jenen Leuten, die man als redefreudig bezeichnete – Zumindest nicht, wenn es keinen Wein mehr gab. Und dann stand da noch irgendetwas Unausgesprochenes zwischen ihnen, eine Art Barriere, die keiner von ihnen überwinden konnte… Oder wollte. Die fast schon unnatürliche Stille des Sees zog sie in diesem Moment dem Schweigen ihres Begleiters vor, und bereitwillig tauschte sie den Anblick seines mürrischen und verschlossenen Gesichts gegen den des mit milchigem Glanz überzogenen Wassers. Es war eine klare, kalte Nacht, und keine Wolke trübte den Blick auf den Sternenhimmel. Wie unzählige Augenpaare, die niemals blinzelten, blickten die Gestirne auf sie hinab und beobachteten urteilslos ihr Tun. Anora legte ihren Kopf in den Nacken und versuchte in dem Sternenmeer ihr bekannte Konstellationen zu entdecken. Die Nacht war noch lang, und die Müdigkeit schien ihr noch weit entfernt zu sein.
 

Alyndur

Zwielichtiger
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~ Alyndur ~

Der Wind blies leise, als er ans kalte Ufer trat, zerrte sanft an Kleidung und Haar. Es knirschte unter seinen Füßen. Zweige und Äste ringsum ächzten unter einer weißen Last. Schnee war gefallen und bedeckte nun alles, eine schimmerte Matte in der Trübnis der Nacht. Nebel hingen schwer in der Luft, ließen das andere Ufer des Sees nur erahnen. Auch das Wasser war schneebedeckt. Es lud zum Spaziergang ein.
Er setzte den ersten Fuß auf das Eis, mit aller Vorsicht, dann den anderen. Er tat ein paar Schritte mehr und lauschte: Kein Laut. Das Eis hielt, das Wasser trug ihn auf Händen. So setzte er sich in Bewegung.
Je weiter er sich vom Ufer entfernte, desto schwerer wurde es, durch die feuchte Luft zurückzublicken. Wirbelwinde fauchten um ihn her, weiße Spiralen, die über das Eis fegten. Es lag Hoffnung in der kalten Luft. Von irgendwoher vernahm er das Geräusch einer Laute, die den Rhythmus seiner Schritte begleiten, ihn beschleunigen wollte. Er ließ es zu, ließ sich leiten. Der Spaziergang gewann etwas Vergnügtes.
Eine vertraute Furcht zupfte leise an ihm: Was, wenn das Eis doch nicht sicher war? Wegen der Trübnis und des Schnees ließ sich nicht erspähen, wie fest es wohl sein mochte.
Die Stimme der Furcht aber klang schwach und gebrechlich, wie aus weiter Ferne. Er schob sie beiseite.
Die Klänge der Laute drangen fester an sein Ohr, bestimmt und ermutigend. Das kalte Ufer war mittlerweile vollkommen in den Nebeln verschwunden, aber die Wand vor ihm begann zu schwinden. Oben am Himmel konnte er nun Sterne erkennen, in aller denkbaren Pracht. Niemals war er ihnen näher gewesen. Er streckte die Hand weit aus und schien Halt zu finden. Auch vor ihm am fernen Ufer bot sich ein leuchtendes Bild: Bunte Felder wärmten seine Augen. Wälder in frischem Grün thronten auf Anhöhen in weiterer Ferne und erfüllten sein Herz mit Lebenslust. Die Gesänge von Frühlingsvögeln mehrten die Beschwingtheit der Lautenklänge. Hinzu gesellte sich noch eine andere Melodie: Das zarte Summen einer Frau, kaum vernehmbar, sanft und geheimnisvoll. Er vernahm ein Geräusch wie das Knistern eines Feuers, dazu die lachenden Stimmen alter Freunde, munter und ohne Sorgen. Hinter all dem, tief am Horizont, erhob sich die erste Glut der aufgehenden Sonne. Er fühlte, wie eine dunkle Last von ihm abfiel und lief darauf zu. Lachend und leichten Herzens rannte er dem Horizont entgegen.
Dann ächzte es unter seinen Füßen.
Es folgte ein Moment erdrückender Stille. Danach konnte er nicht mehr sagen, ob er das Geräusch wirklich gehört hatte. Vielleicht war es nur die letzte Gliedregung im Todeskampf einer alten Angst gewesen, die seine Wahrnehmung durchzuckt hatte wie ein greller Blitz. Er zwang sich aufzublicken, zwang sich aus dem Angesicht der Hoffnung zu trinken, daraus Mut und Stärke zu schöpfen. Langsam und behutsam setzte er seinen Weg fort, den Blick fest nach vorn in die Ferne gerichtet.
Etwas knackte unter ihm.
Es war ein Augenblick, da er nicht zu atmen, nicht zu
sein wagte. Falls die Laute noch spielte, vernahm er sie nicht länger. Seine Augen wanderten ungebeten zu dem weißen Grund, der ihn zwar noch hielt, aber bei jeder weiteren Regung verschlingen konnte. Atemlos horchte er in die Tiefe. Was er hörte, war der Puls seines Herzens, so laut wie das Pauken einer Kriegstrommel. Er spürte, wie sich eine unsichtbare Schlinge um seine Kehle legte und ihm den Atem von innen abschnüren wollte, wie sehr er auch daran zerrte. Wut kam in ihm auf. Er warf sich gegen die Schlinge, erzwang einen Schritt mehr nach vorn, um den Horizont ringend.
Es krachte.
Etwas hatte die Erschütterung aus den dunkelsten Tiefen der Welt losgetreten. Er konnte den Spalt nicht sehen, der sich die ganze Breite des Sees entlang durch das Eis zog, doch er spürte ihn mit jedem Härchen seines Körpers. Er fühlte, wie das starre Wasser in Bewegung geriet, und er vernahm, wie sich eine Kluft unter ihm auftat, gähnend, stöhnend, wie das schwarze Maul eines Dämonen, der so alt und unversetzbar schien wie die Erde selbst.
Machtlos, willenlos, sank er langsam auf die Knie, um das Altehrwürdige nicht weiter herauszufordern. Er kroch auf allen Vieren, die Augen sicher und fest geschlossen. Er brauchte sie nicht, denn er kannte den Weg zurück.
Irgendwann fühlte er den Boden unter seinen Händen und Knien uneben werden. Seine Rechte versank tief im Schnee und schloss sich um etwas Trockenes, das sofort in seiner Hand zerbröselte. Als er es zum Vorschein brachte, strich der Wind über seine Handfläche und die Krümel eines toten Eichenblattes verflogen in der Nacht. Er hielt Ausschau nach der Ferne und stieß auf eine undurchdringliche Wand aus feuchter Luft. Sein Blick suchte nach leuchtenden Sternen am Firmament, doch der Himmel zeigte nichts als schwarze Wolken.
„Alyndur“, wisperte eine Stimme, traurig und fern; vertraut und fremd zugleich.
„Alyndur“, bekräftigte eine andere.
„Alyndur“, beugte sich seine eigene Stimme.
Alyndur vernahm nichts mehr. Nichts außer dem leisen Rauschen des Windes.

Etwas schreckte Alyndur aus dem Schlaf. Er fand sich fröstelnd und schweißbenässt neben dem Lagerfeuer liegend, die Oberarme mit den Händen umfasst. Sein Hemd war noch klamm, erinnerte an das unfreiwillige Bad des letzten Tages. Er sah sich um: Die Umgebung bot noch das gleiche Bild wie am gestrigen Abend. Kein Schnee war gefallen, weder auf die Bäume noch auf das Gras. Nur der Wind raunte leise vor sich hin. Am Himmel schienen Mond und Sterne in vollem Glanz.
Auf der anderen Seite des Feuers saß Anora auf einem morschen Stück Holz und hielt ihre Nachtwache. Sie ließ ihren Blick von ihm wegschweifen, beinahe unscheinbar und doch um eine Haaresbreite zu schnell. Vorsichtig tastete Alyndurs Hand in dem Beutel, in dem er während des Schlafens das Waidmesser aufbewahrte, fand, wonach er suchte, und verbarg es hinter seinem Rücken. So näherte er sich der Elfe.
„Ich habe vieles erduldet und erdulden müssen“, erklärte er ihr. „Aber diese stillen durchbohrenden Blicke, die Ihr mir in aller Heimlichkeit zuwerft, übersteigen das Maß dessen, was ein Mann ertragen kann. Ihr fragt Euch, wer dieser Mann wohl ist, der mit Euch durch Länder und Gefahren reist, was er ist und warum er so ist, wie er ist. Ich kann Euch wohl Antworten geben auf diese Fragen, die Ihr nicht auszusprechen wagt. Ob sie Euch gefallen werden, nun, das ist freilich nicht gesagt. Aber nichtsdestoweniger ist es das, was ich heute Nacht tun werde. Lieber ist es mir, bis ans Ende unserer Reise, ja bis ans Ende meines Lebens von Euch gehasst und verabscheut zu werden als noch ein Mal mehr einen jener Blicke auf meiner Haut zu spüren. Ich will Euch Antworten geben. Hier und jetzt!“ Ehe Anora etwas unternehmen konnte, schoss Alyndurs Hand nach vorne und stieß ihr den verborgenen Inhalt entgegen, spitz und funkelnd im Mondeslicht.
„Erkennt Ihr es wieder? Ich habe es an mich genommen, als ich Euer zurückgelassenes Gepäck aus dem Lager der Nordleute barg. Bislang scheint Ihr es nicht sonderlich vermisst zu haben.“
Er warf den Gegenstand spielend von einer Hand in die andere und ließ ihn vor Anoras Füßen auf die Erde fallen. „Dieser Stein hat keine außergewöhnlichen Fähigkeiten, so viel ist sicher. Vermutlich war er nur dazu angetan, Euch den Gedanken an eine Flucht von Sir Cerriks Aufgabe zu erschweren. Ich hatte gehofft, er besäße irgendeine Art... magischer Ausstrahlung, die mir helfen könnte, etwas Licht in die Wirren des Lebens und der Vergangenheit zu werfen.“
Der Waldläufer setzte sich der Elfe gegenüber und versuchte, es sich so bequem zu machen, wie es der kaltfeuchte Boden zuließ. Seine Stimme wurde etwas ruhiger und sanfter. „Ich habe meinen Vater gehasst. Ich hatte, so schien es mir, allen Grund dazu, doch ich wollte niemals seinen Tod, niemals wollte ich das. Dennoch war sein Blut das erste, das an meinen Händen klebte.“ Er hielt sich die Finger vor die Augen, als müsste es dort immer noch zu sehen sein. „Es kamen bessere Zeiten auf mich zu, als ich ihrer im Elternhaus erlebte. Das Schicksal hob mich aus der unbedeutenden Rolle eines gemeinen Jägersburschen empor. Ich machte mir Bildung und Denkweise eines höheren Standes zu Eigen, erfuhr und erlebte Dinge, von denen ich niemals zu träumen gewagt hatte.“
Für die Dauer eines Wimpernschlages glaubte er, einen Schatten zu sehen, der sich unweit des Lagers zwischen Bäumen und Buschwerk bewegte. Er hielt einen Moment inne und horchte in die Nacht hinaus, vergebens.
„Doch ich belohnte sie schlecht, die mir all das hatten zuteil werden lassen. Denjenigen, der mich als gebeugten Waisen in seine Obhut nahm, mich lehrte, zu denken, zu lachen und zu leben wie ein Mann, ihn sollte ich verraten und ins Verderben stürzen, aus Gründen, die mir später fragwürdig und nichtig erschienen.“
Er sah der grazilen Frau fest in die Augen, ganz so wie ein Raubtier seiner Beute. „Und als Wotredh starb, schien alles, was ich von ihm erworben hatte, mit ihm aus der Welt zu gehen. Erinnert Ihr Euch, Anora, was ich zu Euch sagte, bevor Ihr mir gestattetet, in Eurer Gruppe zu reisen? Nachdem Ihr es vorgezogen hattet, Euch Eurer Rasse wegen vor den Rittern im Gasthof zu verbergen, erklärte ich Euch, dass es seine Vorteile haben könnte, mit jemandem zu reisen, der die Wege und Schwächen Eurer Feinde kennt. Habt Ihr Euch nie gefragt, was das heißen mag? Die Antwort liegt vielleicht näher und klarer auf der Hand, als Ihr zu denken wagt: Ich war einer von ihnen. Vielleicht bin ich es noch immer, denn es gibt manche, die glauben, dass die Bande des Schwurs, den ein Knappe vor dem Ritterschlag leistet, nicht vor seinem Tod erlischen. Oh, und natürlich habe ich auch einen Namen, einen richtigen Namen meine ich.
,Alyndur’ mag einen hübschen Klang haben, aber so hat man mich erst später genannt. Mein eigentlicher Name ist Turis, wenn Ihr gestattet.“ Mit einem boshaften Grinsen streckte Turis der Elfe die Hand entgegen. Aller Grimm war aus seinem Wesen gewichen. „Sir Turis Harlen, vom Orden der Roten Drachen.“
 

Darghand

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~ Thorreid ~

Am Abend war die Wunde erneut aufgebrochen. Thorreid hatte den Verband mit aller Sorgfalt abgewickelt, doch die unteren Schichten des Stoffes waren geradezu durchtränkt von geronnenem Blut und verhärtetem Eiter. Mit zusammengebissenen Zähnen und einem raschen Ruck hatte er die Stoffreste abgerissen, und nun blutete die Verletzung erneut.
Er besah sie sich. Thorreid verstand nicht viel von Wunden, aber das Wenige genügte um zu wissen, dass er seine Hand verlieren würde. Er erinnerte sich dunkel, dass die Klinge nicht nur in sein Fleisch hineingeschnitten hatte – sie war kalt gewesen, so kalt, dass der Schmerz fast brennend war. Nun waren die Wundränder schwarz, darunter klafften blutig rot Fleisch und Sehnen. Jeder wusste, dass schwarzes, faules Fleisch entfernt werden musste. Andernfalls wuchs es. Es breitete sich aus wie eine Flechte auf einem Fels. Mit Hilfe eines Feuers hätte er die Wunde ausbrennen können, doch überall wuchs nur Heidekraut. Also versuchte er es mit seinem Bärenfänger. Doch mit der Linken war er zu ungeschickt, das Messer war zu groß und ihm wurde schwindelig vor Schmerzen. Das Blut pulsierte schmerzhaft in der Hand.
Mit einem Mal übermannte ihn eine ungeheure Müdigkeit. Thorreid ließ sich der Länge nach ins Heidekraut fallen und fiel in einen schweren, totenähnlichen Schlaf. Die ganze Nacht über suchte ihn derselbe Traum ein. Er sah Freja, nackt wie in dieser unseligen Nacht. Ein entsetzlicher, eisiger Hagelsturm ging auf sie nieder und schälte ihr erst die Haut und dann auch das Fleisch von den Knochen, bis ihn am Ende die Totenmaske ihres blanken Schädels anstarrte und verhöhnte.

Als er erwachte, war es stockfinster und monströse Schatten drangen auf ihn ein. Hagere schwarze Finger griffen nach ihm. Erschrocken richtete sich Thorreid auf, und die Schatten schrumpften auf die Größe des Heidekrauts zusammen, das im nächtlichen Wind zitterte. Sein Kopf und seine Hände fühlten sich an, als seien sie zu einer absurden Größe angeschwollen. Allmählich beruhigte er sich wieder und erinnerte sich, wo er sich befand - und warum. Mit fahrigen Bewegungen wühlte Thorreid Brot und Wasser aus seinem Gepäck hervor und schlang beides hinunter.
Mit einem Mal fühlte er sich unendlich verloren inmitten der Dunkelheit und Ödnis. Den Treck zu verlassen um blutige Rache zu nehmen war eine vorschnelle Entscheidung gewesen, geboren aus überwältigender Trauer und Hilflosigkeit. Er war losgelaufen, um etwas zu tun, um wenigstens
irgendetwas tun zu können, denn so war er es gewohnt. Sein ganzes Leben über war Thorreid als Krieger, Wanderer und Mammutreiter stets in der Lage gewesen, etwas zu tun – und hatte damit Erfolg gehabt. Wenn die Nomadenstämme von weither brandschatzend und mordend die Ostgrenze des Reiches übertraten, bekämpfte er sie. Gefiel ihm eine Frau, schmeichelte er ihr bis sie die Felle mit ihm teilte. Wurde ihm ein Dorf zu eng, oder eine Frau zu anhänglich, schlug er sich in die Wildnis. Seine praktische, unmittelbare Art geriet jetzt auf das schmerzhafteste an ihre Grenzen. Es war das erste Mal, dass dies geschah, und diese Erkenntnis verblüffte Thorreid und versetzte ihn zugleich in eine unbändige Wut.
Mit der Wut kehrten auch die Bilder wieder, die Erinnerungen an jene Nacht. Sie spülten die Trauer erneut empor, aber auch den Triumph, die Befriedigung, Onolf mit bloßen Händen getötet zu haben. Doch der Junge war nur ein Werkzeug gewesen. Thorreid wusste nur wenig über Geisterlegenden, doch er war überzeugt, dass Onolf von etwas unbestimmbar Finsteren besessen war. Ebenso offensichtlich war, dass die Elfe sich mit diesen Kräften verbündet hatte. Den Zweck eines solchen Bündnisses vermochte sich Thorreid nicht ausdenken – er würde ihn noch früh genug von der ivuli erfahren.
'Laufen' dachte er grimmig. 'Du musst weiterlaufen!'
Ohne darüber nachzudenken, welche Richtung wohl die richtige sei, setzte Thorreid seinen Marsch fort. Erst ging, bald lief er. Die Wunde schmerzte gar nicht mehr, zumindest fühlt er sie nicht mehr.

Gegen Mittag des nächsten Tages entdeckte Thorreid die Hufspuren. Sie waren im Schlamm einer kleinen Pfütze deutlich zu erkennen. Er schätzte sie auf kaum älter als einen Tag. Vermutlich mussten die Elfe und ihr Begleiter die Tiere schonen, denn sie dürften kaum Gelegenheit gehabt haben, Futter für die Pferde mitzunehmen. Von dem kargen Graswuchs hier an den Ausläufern der Ebenen überlebte kein Pferd sonderlich lange, die Südpferde schon gar nicht. Ohne Hafer, Einkorn oder Dinkel würden sie irgendwann an Entkräftung sterben.
Thorreid folgte den Spuren, die sich rasch auf dem härteren, grasbewachsenen Boden verloren. Erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr sich seine Umgebung geändert hatte. Das allgegenwärtige Heidekraut und der karge Sandboden waren einer weitaus freundlicheren Landschaft aus wilden Wiesen und sich dicht am Boden duckendem Buschwerk gewichen. Thorreid erkannte Sanddorn und Wacholder, Berberitzen und Brombeeren, Schwarzdorn, Kiefernbüsche und dürre, kleinwüchsige Birken, denen der Herbst bereits die Blätter geraubt hatte. Die Landschaft war nicht mehr so eben wie ein Tisch, sondern wellig und hügelig und in dem lichten Nebel seit Wochen wieder weiter als dreißig Schritt weit zu erkennen. Ganz ohne Zweifel kam er der Südgrenze des Weiten Reiches immer näher. Neben den Rachedurst trat nun noch ein weiterer Beweggrund: er würde diese beiden Südlinge davon abhalten, auch nur einen Fuß in das Reich seiner Vorväter zu setzen.
Der Elfe und ihrem Begleiter zu folgen wurde nun zusehends einfacher. Immer wieder entdeckte Thorreid Abdrücke der eisenbeschlagenen Hufe, in Dornen hängen gebliebene Haare der Pferdemähnen oder einfach Pferdeäpfel. Nach jedem neuen Fund lief Thorreid eine Weile noch ein Stück schneller, so dass er sich bald wunderte, dass in seinem Körper überhaupt noch derart viel Kraft steckte. Doch er beschloss, sich zu schonen. Das Ende der feindseligen Ebenen hatte zwar etwas von der Verbitterung und dem blindwütigen Blutdurst von ihm genommen, doch je frischer die Spuren wurden, je eindeutiger sich abzeichnete, dass er die ivuli und den Südling bald einholen würde, desto mehr steigerte sich die grimmige Entschlossenheit, das Begonnene zu Ende zu bringen und endlich, endlich Antworten zu erhalten.
 

Darghand

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Harmund hockte auf einem toten Baumstumpf und sah zu, wie die zwei Bisamratten über dem Feuer brutzelten. Nach dem Häuten blieb kaum noch etwas von den kleinen Nagetieren übrig. Ihre dünne Fettschicht verflüssigte sich und tropfte zischend ins Feuer. Er nahm den Spieß vom Feuer, riss ein Bein heraus und nagte das angeschmorte Fleisch vom Knochen. Bisamratte schmeckte wie Hasenfleisch, dass mehrere Tage lang in einem feuchten Fass gelegen hatten. Allein hätte es kaum ausgereicht, um seinen Hunger zu stillen, doch Leki hatte seinen Rucksack zum Abschied großzügig mit Dauerbrot, gedarrtem Buchweizen und sogar etwas Trockenobst gefüllt.
Vor zwei Tagen hatte er dem traurigen Dorf und der mysteriösen Birke den Rücken gekehrt. Die Baumfrau hatte ihn in der Absicht bestärkt, die Kunde davon weiterzugeben, was sich in den nördlichen Gefilden herumtrieb, welches Untier über die Pässe gekommen war – von dort, oder von einem Un-Ort, der für Harmund bislang nur in den Legenden existiert hatte. Sein Weg hätte nun wieder fast geradlinig nach Süden in die dichter besiedelten Gebiete geführt, doch er musste das Moor musste in einem weiten Bogen umgehen. Leki hatte ihn deutlich und unmissverständlich davor gewarnt, es zu durchqueren. Hier oben war noch wahre Wildnis, ein unbarmherziger Ort, dessen nichtmenschliche Bewohner nur darauf warteten, dass die Wagemutigen, die sich hier beweisen wollten, einen Fehler begingen. Es gab Gerüchte von Grubenkobolden und Irrlichtern, die tief im Moor hausen sollten, ebenso wie ein namenloses, unterirdisch lebendes Monstrum, das mit seinen langen schuppigen Armen schon etliche Männer aus ihren Kähnen gezerrt und in die Tiefe gezogen hätte. Harmund hatte bereits die Aussicht auf einen tagelangen Marsch durch sumpfiges Gelände abgeschreckt. Also war er einen Tag in westlicher Richtung gelaufen, stets an den Rändern des Moores entlang. Heute gen Mittag endlich hatte sich sein Weg leicht nach Süden verschoben. Erschöpft von der Wanderung saß er nun vor einem kleinen Feuer und briet die gefangenen Sumpfnagetiere.
Der Flammenschein beleuchtete kaum mehr als die silbrig-graue Rinde der eng stehenden Bäume. Zwischen ihnen lag undurchdringliche Finsternis. Von den Kämpfen gegen einfallende Orks wusste Harmund, dass diejenigen, die am Feuer saßen und vom Licht ins Dunkle schauten, immer im Nachteil waren. Sie hatten diesen Vorteil ausgenutzt und die Eindringlinge des Nachts mit Pfeil und Bogen niedergemacht. Nun saß er selbst am Feuer und starrte in die Schatten. Aufmerksam horchte Harmund in die Wildnis hinein. Außer dem Knacken des Feuers und dem fernen Rufen eines Kauzes war nichts zu hören. Der Wald schlief, es war Spätherbst. Bald schon würde es beginnen zu schneien – Harmund spürte die unverkennbare winterliche Kälte in der Luft.
Müde wickelte er sich in sein Bärenfell, die Axt griffbereit neben dem Kopf. Er spürte die Wärme der heruntergebrannten Glut im Gesicht, und nach einer Weile fand er den erhofften Schlaf.

Ein Rascheln weckte ihn. Harmund war schlagartig hellwach. Er spürte, wie sich seine Sinne von einem Moment auf den nächsten schärften. Das schwache Licht einer dünnen Mondsichel reichte ihm, um die Konturen der Bäume deutlich erkennen zu lassen; der sauer-erdige Geruch nasser faulender Blätter stach in seiner Nase. Er fühlte sein Herz dumpf und beschleunigt pumpen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Harmund erkannte diese Zeichen: es waren die Geister, die in ihm wirkten. Irgendetwas geschah. Seine Hand tastete lautlos nach dem Axtstiel und umschloss fest das blankpolierte Holz.
Ein fremder Duft mischte sich unter den Verfallsgeruch des Laubes. Süßlich und stechend, ekelerregend. Harmund erkannte ihn als Aasgeruch. Erneut lief ein Adrenalinschub durch seinen Körper, er fühlte sich, als würde er in diesem Moment so sehr an Größe gewinnen, dass es seine Kleidung zerreissen müsste. Schnell befreite er sich von dem Bärenfell und richtete sich langsam auf. Wie ein witterndes Tier sog er die Nachtluft durch die weit geöffneten Nasenflügel. Der Aasgeruch wurde stärker und er folgte mit einer Körperdrehung der Duftspur. Dort! Er wirbelte herum. Im grauen Dämmerlicht sah er einen undeutlichen Schemen, der sich im Schatten der mächtigeren Stämme verbarg. Der Gestank war fast unerträglich, er drehte ihm den Magen um. Es stank nach Fäulnis und kaltem geronnenem Blut. Der Schemen bewegte sich. Er war groß, viel größer als Harmund zunächst angenommen hatte. Dann bewegte er sich auf ihn auf eine ganz und gar groteske Art und Weise zu. Es erinnerte an ein Raubtier, das sich, die Muskeln gespannt, langsam und geschmeidig an die Beute anschlich – doch dieser Schatten scheiterte an seiner eigenen Unbeholfenheit.
Als es nahe genug heran war und Harmund erkannte, was es war, setzte sein Herz für einen Moment aus. Es war das Vieh. Der Warg. Der tote Warg. Er lief auf den gesplitterten Stümpfen seiner Vorderläufe. Auf dem Rücken bewegten sich dort, wo Skattjy die Haut abgezogen hatte, die blank liegenden, noch immer feucht glänzenden Muskelstränge. Kopf und Gesicht waren eine entsetzliche schwarze Wunde, inmitten des zerfetzten Fleisches und der weißlich glänzenden Sehnen hing schief der hauerbewehrte Unterkiefer.
'Der Kiefer!' schoss es Harmund durch den Kopf. 'Umbar hatte ihn. Umbar hatte ihn an sich genommen. Oh ihr Geister steht mir bei!' Seine Hände umklammerten schwitzig den Axtstiel, doch verspürte er keine Panik und auch keine dem puren Entsetzen geschuldete Lähmung wie bei der ersten Begegnung mit dem Untier.
Der Warg schlich und wankte um Harmund herum, den kantigen Schädel tief heruntergezogen, den hohen und muskulösen Rücken gespannt. Mit einem kurzen Satz griff die Bestie an und führte einen unbeholfenen Schlag mit der nutzlosen Pranke. Harmund sprang mühelos zur Seite und parierte den Hieb mit der Axt. Einige Male wiederholte der Warg diese Attacken, doch dies war nicht mehr als ein harmloses Geplänkel. Die Bestie hatte dazu gelernt und testete seine Fähigkeiten. Erneute vollführte sie einen Satz, diesmal weit genug, um Harmund zu Boden zu reißen. Harmund wich nicht zurück, sondern tat einen raschen Schritt und rollte sich nach vorn ab. Der Warg sprang zu weit und nahm sofort wieder seine lauernde Position ein. Er versuchte zu knurren, doch aus der zerfleischten Kehle des Untiers drang nur ein tiefes Gurgeln.
Erst jetzt bemerkte Harmund, dass ihn der Warg durch das ständige Umkreisen von seiner Lagerstelle und seinem Marschgepäck verdrängt hatte. Er warf einen raschen Blick zu dem heruntergebrannten Feuer und sah noch im Augenwinkel, wie es seinen Rucksack förmlich zerriss. Harmund traute seinen Sinnen nicht, denn über den Waldboden kam, einem bizarren bepelzten Krebstier gleich, mit grotesken Bewegungen die abgetrennte Tatze des Wargs gekrochen. Als hätte der Warg seine kurze Ablenkung gewittert sprang er Harmund an. Diesmal gab es kein Ausweichen. Harmund stolperte rückwärts und schwang die Axt mit präzisen Hieben nach den Pranken, doch zu spät. Das Untier war über ihm, lastete auf ihm mit all seinem Gewicht, dem schweren aufgedunsenen Körper und dem entsetzlichen, überwältigenden Gestank von faulendem Fleisch. Harmund blickte in das entstellte Gesicht des Wargs, er sah, wie sich auf eine mit Worten kaum beschreibliche Weise die Tatze mit dem zersplitterten Stumpf aus Fell und Knochen verband, hörte, wie der Warg röchelte und gurgelte und ein Schwall schwarzen Blutes aus dem Krater von Maul hervorbrach. Er schloss die Augen, unfähig, sich zu wehren, sich auch nur zu rühren, und erwartete das Unausweichliche.
 

Anora

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~ Anora ~

Anora hatte schließlich die erste Wache übernommen. Sie hatte am Lagerfeuer gesessen und dem Spiel der Flammen zugesehen, während sie darauf wartete, dass die Zeit verging. Auch sie wusste nur zu gut, wie töricht das war, denn das Licht des Feuers machte einen blind für das, was sich in der Dunkelheit der Nacht verbarg, doch dieser verwunschene Ort inmitten der Einsamkeit schenkte ihr ein seltenes Gefühl von Sicherheit, so dass sie den Verlust ihres Sehvermögens billigend, fast gleichgültig in Kauf nahm. Der Wald war in eine tiefe Stille gehüllt, die nur von dem leisen Rufen der nachtaktiven Tiere durchbrochen wurde. Die Elfe schloss für einen Moment die Augen und genoss dieses Schweigen. Keine Stadt der Welt hätte sie einem Ort wie diesem vorgezogen. Dennoch, sie brauchte Städte, denn nur dort gab es Arbeit und Lohn für jemanden wie sie, und ohne beides hätte sie nicht gewusst, wohin sie gehen sollte, heimatlos wie sie war. Umso mehr bedeuteten ihr Augenblicke wie dieser, in denen es ihr für kurze Zeit vergönnt war ihren Frieden zu finden.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick unbemerkt auf Alyndur. Der Waldläufer schlief fest, doch es war kein guter Schlaf. Seine Augenlider zuckten unablässig, seine Lippen formten lautlose Worte und seine Stirn war von einem dünnen Schweißfilm bedeckt. Immer wieder schlug er seinen Kopf von einer Seite zur anderen, während seine Arme sich fest um seinen Oberkörper krallten und seine Hände sich zu Fäusten ballten, nur um sich dann wieder krampfartig zu öffnen, die Finger Krallen gleich abgespreizt. Sie beobachtete ihn so eine ganze Weile tatenlos, wie von einer anderen Sphäre herab.

„Wir alle werden von unseren Albträumen heimgesucht.“, flüsterte sie leise in die Nacht hinein, wohl wissend, dass niemand sie hören würde. Um was für einen dunklen Traum es sich wohl bei Alyndur handeln mochte?
Als der Waldläufer schließlich erwachte, atmete er schwer und hatte die Augen weit aufgerissen. Als er zu ihr hinüber sah, wandte sie schnell ihren Blick von ihm ab, doch offenbar nicht schnell genug. Sie konnte den Schein der Flammen in seinen Augen tanzen sehen, während er auf ihre Seite des Feuers hinüber kam, und sie beschlich ein seltsames, unbehagliches Gefühl, welches sie unwillkürlich dazu veranlasste, nach dem Griff ihres Dolches zu tasten, doch ihre Hand langte ins Leere. Ihre Waffen hatte sie ein Stück entfernt abgelegt, im unwahrscheinlichen Falle eines Angriffes noch in Reichweite, doch in diesem Moment für sie unerreichbar fern. Direkt vor ihr blieb der Waldläufer schließlich stehen.

„Ich habe vieles erduldet und erdulden müssen. Aber diese stillen durchbohrenden Blicke, die Ihr mir in aller Heimlichkeit zuwerft, übersteigen das Maß dessen, was ein Mann ertragen kann. Ihr fragt Euch, wer dieser Mann wohl ist, der mit Euch durch Länder und Gefahren reist, was er ist und warum er so ist, wie er ist. Ich kann Euch wohl Antworten geben auf diese Fragen, die Ihr nicht auszusprechen wagt. Ob sie Euch gefallen werden, nun, das ist freilich nicht gesagt. Aber nichtsdestoweniger ist es das, was ich heute Nacht tun werde. Lieber ist es mir, bis ans Ende unserer Reise, ja bis ans Ende meines Lebens von Euch gehasst und verabscheut zu werden als noch ein Mal mehr einen jener Blicke auf meiner Haut zu spüren. Ich will Euch Antworten geben. Hier und jetzt!“
In dem Moment, in dem er seine Hand vorschnellen ließ, erwartete sie darin regelrecht einen Hinterhalt, eine Klinge, irgendetwas, doch sie enthielt nichts weiter als einen winzig kleinen Gegenstand.
„Erkennt Ihr es wieder? Ich habe es an mich genommen, als ich Euer zurückgelassenes Gepäck aus dem Lager der Nordleute barg. Bislang scheint Ihr es nicht sonderlich vermisst zu haben.“
Tatsächlich hatte sie die Träne der Drachen ganz vergessen. Sie wusste nicht einmal, warum sie den kleinen Stein überhaupt mitgenommen hatte, als sie vom Hof ihres Bruders aufgebrochen waren. Vielleicht hatte sie geglaubt, dass er irgendwann noch einmal von Bedeutung sein könnte. Nun, dieser Augenblick war dann wohl jetzt, da Alyndur ihn ihr zu Füßen warf.
Fragend blinzelte sie zu dem Waldläufer hinauf, nicht verstehend, auf was er hiermit hinaus wollte. Das Gefühl des Unbehagens verstärkte sich mit jedem seiner nachfolgenden Worte, verwandelte sich alsbald zu einer düsteren Ahnung und schließlich in eine bittere Wahrheit, die sie wie ein Faustschlag ins Gesicht traf.

„Mein eigentlicher Name ist Turis, wenn Ihr gestattet. Sir Turis Harlen, vom Orden der Roten Drachen.“
Einer Herausforderung gleich streckte er ihr seine Hand entgegen, mit einem närrisch breitem Grinsen auf dem Gesicht.
Einen Moment lang schien die Welt still zu stehen. Sie sah ihn an, suchte in seinen Augen nach einem versteckten schelmischen Funken, der ihr verriet, dass all dies nur ein schlechter Scherz gewesen war… Doch sie fand ihn nicht. Dort lag nur die Gewissheit, dass er diesmal die Wahrheit gesagt hatte. Diesmal.
Impulsiv schlug sie seine Hand beiseite, hoffte darauf, dass ihm dieser lächerliche Schlag Schmerzen bereitete, hoffte, er möge daran elendig verrecken. Was für eine Närrin sie doch war, dass sie ihm sein Schauspiel so lange Zeit abgenommen hatte! Ohne den Grund dafür zu wissen griff sie nach dem Stein, der vor ihr auf der Erde lag, dann sprang sie auf, flüchtete vor ihm, brachte das Feuer als schützende Barriere zwischen sie. Hier endlich fand sie Worte, Worte von denen sie sich wünschte, dass sie ihn verletzen würde, wie ein Schlag es nicht hätte tun können, ihn so zu verletzen, wie er sie verletzt hatte, wie er sie enttäuscht hatte…

„Was wollt Ihr sein?“, fauchte sie ihm entgegen. „Ein Ritter? *Ihr*? Pah… Ein Ritter, insbesondere einer vom Orden der Roten Drachen, würde niemals zusammen mit einer Elfe reisen! Niemals! Ganz zu schweigen von…“ Von was? Sich mit ihr anzufreunden? Oder… Die Ereignisse der vergangenen Tage, die fröhlichen Scherze am Lagerfeuer, das alles kam ihr nun wie bitterste Ironie vor. Sie ließ ihren letzten Satz unvollendet.
„Ihr habt Recht, ich hätte wohl besser daran getan jedes Eurer falschen Worte zu hinterfragen! Denn was für ein Ritter, was für ein *Mensch* mögt Ihr sein, der gegen seine eigenen Ordensbrüder, auf die er einen Schwur geleistet hat, das Schwert erhebt?“ Ihre Stimme ertrank geradezu in Gehässigkeit. Langsam, ganz langsam fügte sich Alyndurs Geschichte zu einem großen Ganzen zusammen und ergab ein Bild, welches ihr nicht sonderlich gefiel. Die Gründe dafür, weshalb der Waldläufer… Ritter… diesen Auftrag angenommen hatte, was er sich davon erhoffte, wurden ihr immer ersichtlicher.
„Ihr solltet Euch Eure Begleitung sorgfältiger auswählen!“, spottete sie. „Eure… *Brüder*… werden Euch vermutlich nie wieder als einen der ihren akzeptieren, wenn sie erfahren, mit wem Ihr reist. Oh, nein, das wissen sie ja schon! Und nun? Was habt Ihr vor, um Euch ihre Gunst wieder zu erkaufen?“ Anora fielen auf Anhieb sehr viele Antworten darauf ein, doch keine davon versprach ein gutes Ende für sie.
Ohne ihn aus den Augen zu lassen ging sie zu dem Ort hinüber, an dem sie ihre Waffen abgelegt hatte. Zügig, doch ohne sichtbare Hast legte sie eine nach der anderen an und warf sich schlussendlich ihren Umhang um die Schultern.

„Ihr konntet meine Blicke nicht ertragen, Turis Harlen? Nun, dann lasst Euch versichern, *diese* Art von Blicken werdet Ihr nie wieder erdulden müssen!“
Verächtlich machte sie auf ihren Absätzen kehrt und ließ den Mann, den sie als Alyndur kennen gelernt hatte, alleine zurück.

Sie wandte sich in die entgegengesetzte Richtung zu der, in die Alyndur… Turis am Vortag aufgebrochen war. Ging sie am Anfang noch erhobenen Hauptes und mit langen, federnden Schritten, so begann sie zu laufen, kaum dass sie sich in sicherer Entfernung zum Lager wähnte, und alsbald rannte sie, rannte, bis ihr die Lungen von der kalten Nachtluft brannten und sie das zehrende Stechen in ihrer Seite nicht mehr ignorieren konnte, rannte weiter, genoss diesen Schmerz, auf den sie die Tränen, die ihr in den Augen standen, zurückführen konnte.
Das Gelände stieg zunächst sachte an, dann wurde es steiler, so dass sie schließlich außer Atem kam und langsamer werden musste. Sie fiel zurück in einen schnellen Gang, der sich nach und nach zu einem schleppenden Gehen verringerte, und blieb irgendwann stehen. Ihr Herz raste, ihre Beine zitterten und sie spürte die Erschöpfung ihres noch nicht wieder ganz genesenen Körpers, doch all das war ihr vollkommen gleichgültig. Wie weit mochte sie wohl gerannt sein, wie viel Abstand zwischen sich und diesen… *Lügner*… gebracht haben?

„Lange nicht genug!“
Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass sie den Schein des Feuers ihres Lagers von hier aus nicht mehr sehen konnte. Ihre Finger schlossen sich fest um den kleinen Stein, den Auslöser dieser ganzen Ereignisse. Mit fest aufeinander gebissenen Zähnen sprang sie vorwärts und schleuderte die Träne der Drachen so weit von sich, wie es ihr möglich war. Weder sah noch hörte sie, wie er auf der Wasseroberfläche des Sees aufkam und in diesem versank, dennoch schenkte ihr der Gedanke daran, dass dieser verfluchte Gegenstand nie mehr ans Tageslicht kommen würde, eine gewisse Zufriedenheit. Sie atmete tief ein und aus, zwang sich zur Ruhe zu kommen und klare Gedanken zu fassen. Nun endlich nahm sie auch ihre Umwelt wieder bewusst wahr. Sie befand sich auf einer Art Plateau. Der Untergrund war felsig und fiel direkt vor ihr steil zum See hin ab. Sie trat einen Schritt nach vorne und versuchte, die Höhe bis zur Wasseroberfläche abzuschätzen. Es mochten einige Meter sein, doch die Dunkelheit machte ihr eine genauere Aussage unmöglich. Hinter ihr hatten einige Sträucher sich mit dem kargen Boden abgefunden, und einige Schritte weiter ragten sogar wieder die dunklen Umrisse einiger anspruchsloser Nadelbäume in den Nachthimmel hinauf.
„Kein besonders geeigneter Ort, um sich zu verstecken!“, spottete die Stimme ihres Vaters.
„Ich verstecke mich nicht!“, rechtfertigte sie sich.
„Nein, du versteckst dich nicht! Du rennst natürlich nicht wieder einmal vor einem Albtraum davon, du nicht! Mutig stellst du dich dem, was auch immer da kommen möge. Dann sag mir doch, du Heldin, was willst du nun tun?“
„Verschwinde!“, rief sie laut. „Lass mich in Ruhe! Dieses eine Mal, lass mich, ich bitte dich!“
Und sehr zu ihrer Verwunderung verstummte die Stimme ihres Vaters tatsächlich.
Nun war sie allein.
Seufzend ließ sie sich auf dem kühlen Boden nieder, umschlang die Beine mit den Armen und starrte auf den schwarzen, schweigsamen See hinaus.
Natürlich würde sie zurückkehren müssen. Sie hatte gar keine andere Wahl. Ihre Ausrüstung und ihre Stute hatte sie im Lager zurückgelassen, und ganz davon abgesehen… Sie *brauchte* Alyndur! Oder Turis! Sie konnte sich nichts vormachen, ohne ihn würde sie es nicht schaffen, auch nur bis in die Adlerberge vorzudringen. Dieser Auftrag unterschied sich entscheidend von allen anderen, die sie bisher angenommen und erfolgreich ausgeführt hatte. Ihre Vorräte waren beinahe erschöpft, ihre Wunden noch nicht vollends verheilt und sie befand sich inmitten der unerbittlichen Einsamkeit des hohen Nordens… Und ihr lief die Zeit davon. Sir Cerrik würde nicht ewig auf ihre Rückkehr warten!
Nein, sie musste umkehren, musste zurück… Doch wie sollte sie weiterhin mit *ihm* reisen, nach allem, was sie nun über ihn wusste, wo er doch der Inbegriff ihres Feindbildes war, und insbesondere bei allem, was sie *nicht* über ihn wusste? Wie sollte sie weiterhin ruhig schlafen, wie ihm vertrauen, wenn sie ständig befürchtete, sein Messer in ihrem Rücken zu spüren? Aber wenn er sie hätte töten wollen, hätte er dies nicht schon längst getan? Oder verfolgte er ganz andere, fernere Pläne? Und dann... Was sollte sie ihm bei ihrer Rückkehr sagen?
Sie wollte es sich nicht recht eingestehen, doch Anora hatte Angst. Angst vor dem Zurück. Angst vor Veränderung. Angst davor, sich ihren eigenen Albräumen zu stellen.
Dennoch…

„Du hast die Ebenen besiegt und die Götter verlacht – Es gibt nichts mehr, wovor du Angst haben müsstest!“ So dachte sie.
Sie lehnte sich zurück, stützte sich mit ihren Armen nach hinten ab, und reckte ihr Kinn trotzig dem Sternenhimmel entgegen.

„Ich will nur noch ein wenig hier bleiben. Alleine sein. Und dann gehe ich zurück!“, sagte sie, zu den Sternen gewandt.
Gleichgültig strahlten sie ihr kaltes Licht zu ihr hinab.
 

Darghand

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„Drauf! Drauf und dran!“ schrie es aus dem Unterholz, und „Die Glefe raus! In den Schädel! In den Schädel, du Hundsfott!“
Harmund riss die Augen auf. Knapp über seinem Gesicht rammte sich das Kopfblatt einer hässlichen, angerosteten Glefe in den Rachen des Wargs. Mit einer schier unmenschlichen Kraft wurde das Untier nach oben gedrückt. Das Gewicht der Bestie lastete nicht mehr ganz so schwer auf seinen Rippen, und Harmund schnappte stöhnend nach Luft. Der Schaft der Glefe bog sich bedrohlich, das Holz knarrte und knirschte. Der Warg fuchtelte unbeholfen mit der zerstörten linken Tatze nach der Waffe, die immer tiefer in das untote Fleisch hineinschnitt. Dann gab der Glefenträger nach, und die tonnenschwere Last des Kadaver begrub Harmund erneut unter sich. Er hörte das nasse Aufklatschen einer Flüssigkeit und dann roch und schmeckte er die schwere, erdige Duftnote von Lampenöl, das in sein Gesicht tröpfelte. Wieder grub sich die Glefe knirschend durch Fleisch und Knochen, wieder versuchte der Waffenträger den Warg von Harmund herunterzuhieven.
„Feuer! Bring Feuer, Umbar, bring Feuer!“
„Nicht!“ keuchte Harmund halblaut. „Kein... Feuer!“
Die Nachtschwärze explodierte im hellen Schein des auflodernder Flammen. Im selben Augenblick wälzte sich der Warg gurgelnd und knurrend von ihm herunter, eine unförmige Masse von Fleisch und Fell, die von den Flammen verzehrt wurde. Eine weitere Tonflasche Öl zersprang, fauchend regnete die brennende Flüssigkeit auf den Waldboden. Harmund spürte plötzlich eine unerträgliche Hitze. Schreiend und panisch kollerte er über den Waldboden und schlug sich die Hände in das brennende Gesicht. Eine riesige Hand packte ihn im Nacken, ein Knie rammte sich schmerzhaft in sein Kreuz und schickte ihn unsanft zu Boden. Mit aller Gewalt wurde sein Kopf in den feuchten Waldboden gedrückt, bis die Flammen erstickt waren.

Als Harmund wieder zu sich kam, brannte der Kadaver immernoch, nun bedeckt von einem Haufen halbwegs trockener Äste. Der Gestank von verbrennendem Fleisch und siedendem Fett war überwältigend. Neben ihm hockte Umbar und sah ihn streng an.
„Kannst du aufstehen?“ fragte der Alte Wolf, was mehr Aufforderung als Frage war, und hielt ihm die Rechte hin. Harmund ergriff sie und ließ sich auf die Beine ziehen. Seine Rippen schmerzten heftig. Als er wieder auf den Füßen stand, bemerkte er, dass Umbar der linke Unterarm fehlte. Der Stumpf endete knapp unter dem Gelenk und war in schmutzige Lumpen gewickelt. In dem Stoff bildete sich ein dunkler Fleck.
„Ist nur 'ne Fleischwunde.“ knurrte der Alte, als er Harmunds Blick bemerkte, und hinkte zu der zweiten Gestalt, die gerade eine weitere Fuhre Äste in das brüllende Feuer warf. Harmund erkannte die bucklige Gestalt: es war Rugnar. Der Köhler bemerkte den Blick und erwiderte ihn. [/i]'Seine Augen sind so klein, dachte Harmund, 'klein und dunkel und... leer.' Er hob an etwas zu sagen, doch der Alte Wolf fiel ihm ins Wort.
„Rugnar gehört jetzt zu uns. Ich hab ihm den Schwur abgenommen.“
„Den Schwur?“ grollte Harmund. Die Benommenheit in seinem Schädel wich einer brodelnden Wut. „Den Schwur abgenommen? Du hast doch gewusst, was... was, bei allen Geistern, Umbar, der Junge war ein Kind! Ein Kind, verdammt!“
„Der Schwur bedeutet Schweigen.“ sagte Umbar. Seine Stimme war sanft wie Meeresrauschen und trug unmissverständlich die Drohung einer Sturmflut mit sich. „Er bedeutet die Vergangenheit ruhen zu lassen.“
„Belehr mich nicht! Ich kenne unsere Bräuche!“ brüllte Harmund. „Und es gibt sie nur noch, weil wir nie nach der Vergangenheit fragen! Nie, verstehst du das?! Ich weiß nicht, was dich zu den Grenzläufern getrieben hat, ich weiß es nicht von Skattjy oder Aarvo oder sonst einem von uns! Deshalb halten wir es miteinander aus! Deshalb halten wir zusammen!“
„Und wenn du es wüsstest? Was würdest du tun? Uns den Rücken kehren?“
„Ich weiß es aber nicht! Wir alle wissen nichts!“
Umbar straffte sich und sagte eine Weile nichts.
„Ich hab die Frau meines Bruders gefickt.“
„Halt dein Maul, Umbar!“
„Ich war besoffen wie dreizehn Mann. Sie hat geschrieen und sich gewehrt, also hab ich sie niedergeschlagen und ihr einen Lumpen ins Maul gestopft. Beim dritten Mal hat sie nur noch gewimmert.“
„Du sollst dein Maul halten!“
„Danach bin ich in die Wälder, zum pissen. Ich konnte kaum noch laufen und bin einen Abhang runtergestürzt. Als ich wieder zu mir kam, bin ich einfach weitergelaufen, immer weiter, hab mich versteckt und verkrochen. Nur um nicht nachzudenken. Das ist dreißig Winter her. Die Schuld werd ich nicht mehr los, aber an den guten Tagen nimmt der Norden sie mir ab und lässt mich vergessen. Die Wildnis des Nordens... und unser Rudel.“
Harmund schwieg. Es gab nichts mehr zu sagen. Was Umbar erzählt hatte, war ohne Belang und war es schon immer gewesen. In ein paar Jahren würde das bei Rugnar, der seine Verbannung gegen eine neue eingetauscht hatte, nicht anders sein. Sie würden darüber schweigen, allein oder gemeinsam die Wildnis durchwandern. Sie würden als Waffenbrüder ihre gemeinsamen Feinde bekämpfen und an den Gräbern der Gefallenen blutige Rache schwören. Die Wahrheit über die Vergangenheit mochte Wunden in den Körper dieser Gemeinschaft schlagen können, aber sie würden sich bald schon wieder schließen.
Er sah den buckligen Köhler an, diese groteske Gestalt aus Muskeln, mit den kleinen schwarzen Augen und Händen wie Schaufeln. Harmunds Gesicht schmerzte. Vorsichtig tastete er danach und zuckte sofort zurück. 'Bei den Geistern, wie muss ich nur aussehen.' Aber das war nicht wichtig.
„Freiheit und Härte.“ sagte er dann in Richtung von Rugnar. Der Köhler hob langsam den Kopf.
„Gemeinsam im Rudel.“ knarrte er.
„Was sind wir nur für ein armseliger Haufen.“ sagte Harmund. „Ein Krüppel, ein Buckliger und ein Verbrannter!“
„Ja“ presste Umbar zwischen den Zähnen hervor und betrachtete sorgenvoll seinen Stumpf. „Wir müssen einen Seher aufsuchen, und zwar schnell.“
„Bei denen war ich schon.“ sagte Rugnar und kratzte sich mit der Glefe am Buckel. „Hat nich geholfen.“
 
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