Ein ungleicher Kampf
Hoch auf den Klippen oberhalb der Schwertküste stand Vortin Calo, Beschützer der Küstenstraße und Waldgebiete südlich von Baldur’s Tor, und sah auf das Meer hinaus. Die Morgensonne glitzerte auf den Wellen, eine leichte Brise ließ die Baumwipfel rauschen, und Vortin stand einfach nur da, die Augen geschlossen.
Er liebte diese Augenblicke der Stille, die er sich am Morgen und Abend eines jeden Tages gönnte. Das Leben war hart und erschöpfend genug, und er hatte vor einigen Jahren bemerkt, dass er diese Momente der Besinnung brauchte. Tagsüber dachte er nicht über das nach, was er tat und erlebt hatte, schob alle Erinnerungen beiseite und lebte für seine Pflicht, für all jene, die sich auf seinen Schutz verließen.
Nur diese Momente gestand er sich zu. Diese tägliche Routine schaffte eine Illusion der Ruhe, die in seinem Leben nicht vertreten war, eine Illusion des Friedens inmitten all des Leids, das er nicht immer auszugleichen in der Lage war.
Bevor er gedanklich und tatsächlich in seinen Alltag zurückkehrte, nahm er sich die Zeit, um jenen zu gedenken, die er auf seinem Pfad hinter sich gelassen hatte.
Seine Gedanken wanderten zurück zu seinen Eltern, die gestorben waren ohne dass er sich von ihnen verabschieden konnte. Er schloss die Augen und sprach, wie jedes Mal, ein Gebet für ihre Seelen und die seine. Doch dieses Mal schloss er zum ersten Mal auch eine andere Person in sein persönliches Gebet ein. Und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, und ein sonderbares Gefühl sich seiner Eingeweide bemächtigte. Vorfreude.
Nach einem letzten Blick auf die bewegte See drehte Vortin Calo sich um und machte sich auf den Weg, nordwärts.
Er war kaum eine Stunde auf der Handelsstraße am Waldrand unterwegs, als Kampfeslärm zu ihm herüberdrang.
Nicht schon wieder, nicht jetzt, nicht heute.
Egoistische Gedanken – ein brennendes Schuldgefühl überkam ihn. Noch nie hatte er das Bedürfnis gehabt, seine eigenen Bedürfnisse über die von jemand anderem zu stellen, und es wäre ein schlechtes Omen für seine Zukunft, wenn er das gerade an diesem Tag ändern würde.
Vortin legte einen Pfeil auf die Bogensehne und rannte los.
Bald kam er auf einen Pfad, für das ungeübte Auge kaum erkennbar. Ideal, um nichtsahnende Reisende von der Straße zu locken und auszurauben.
Der Pfad führte ihn auf eine kleine Lichtung, und Vortin brauchte kaum mehr als einen flüchtigen Blick, um die Situation einzuschätzen.
Eine Gestalt lag in ihrem eigenen Blut auf dem Waldboden, ihr Kurzschwert noch in der Hand. Die andere Gestalt stand mit dem Rücken zu Vortin über die Leiche gebeugt. Ihre beiden Waffen leuchteten hellrot in der Morgensonne – mehr Anzeichen für das, was hier vorgefallen war, brauchte er nicht. Er spürte Bedauern, dass er nicht rechtzeitig gekommen war um den anderen vor einem sinnlosen Tod zu bewahren, doch er war nicht zu spät, um den Mörder zu richten. Und bei allen Göttern, das würde er tun!
Noch bevor er sich entscheiden konnte, ob er den Fremden anrufen oder ihn ohne jede Warnung erschießen wollte, drehte dieser sich um. Sein Gesicht lag im Schatten einer Kapuze, und auch wenn er sie nicht sehen konnte, fühlte er sich unbehaglich, als würden die unsichtbaren Augen des Fremden ihn durchbohren.
Zorn flammte in Vortin auf. Die meisten Raubmörder ergriffen entweder die Flucht, oder gingen unmittelbar zum Angriff über. Dieser hier blieb einfach stehen, als habe er sich selbst nichts vorzuwerfen, ja, als sei Vortin derjenige, der sich schämen müsste, weil er ihn bei einer wichtigen und erfreulichen Tätigkeit unterbrochen hatte.
„Erklärt Euch und Euer Handeln, Fremder!“
„Nein.“ Kaum mehr als ein raues Flüstern, eine Stimme, als ziehe jemand trockenes Leder über einen Felsen.
Der Mann breitete die Arme aus, drehte seine Waffen nach außen, die Spitzen gen Boden gerichtet. Als wolle der andere ihn damit verspotten, dass er ihm die ungeschützte Brust entgegenstreckte. Oder ihn provozieren.
Wenn dem so war, hatte er sein Ziel erreicht. Vortin zögerte keine Sekunde – er hatte es hier mit einem Mörder zu tun, und er wusste, wie er mit Mördern umzugehen hatte.
Er spannte den Bogen, zielte, schoss.
Warf den Bogen zur Seite und zog sein Schwert.
Der Fremde war dem Pfeil mit einem Satz zur Seite ausgewichen, sodass der Pfeil nur seine Schulter streifte anstatt sein Herz zu durchbohren. Noch immer hatte er seine Schwerter nicht zur Verteidigung erhoben, sondern betrachtete nur die oberflächliche Wunde, sich offensichtlich nicht bewusst, dass der nächste Angriff unmittelbar bevor stand.
Vortin nutzte das aus – im Kampf gegen den Abschaum der Gesellschaft war alles erlaubt, und jeder ungenutzte Vorteil konnte seine Niederlage bedeuten. Dies hier war kein ritterlich-ehrenhaftes Duell um die Ehre, sondern ein Kampf bis auf den Tod – den Tod des anderen, wenn es nach ihm ging.
Er schlug zu, legte sein gesamtes Gewicht in einen Schlag, der den anderen enthauptet hätte – wäre dieser nicht im letzten Moment in die Knie gegangen. Vortin fluchte und setzte nach, nutzte den Schwung für einen weiteren diagonalen Hieb.
Dieses Mal fingen beide Klingen des Fremden Vortins Langschwert ab. Er wappnete sich für einen Gegenangriff, doch nichts passierte.
Vielleicht war der andere nur dann in der Lage zu morden, wenn er nicht in die Augen seiner Opfer blickte? Wie dem auch sei, Vortin würde sein Glück sicher nicht in Frage stellen.
Mit stetig aufeinander folgenden Schwerthieben trieb er den anderen zurück, und als dieser einen hohen Schlag von ihm über seinem Kopf blockte, nutzte er die Gelegenheit und trat ihm mit voller Wucht in den ungeschützten Bauch.
Wie erwartet fiel der Fremde, doch kaum hatte er den Boden berührt rollte er sich rückwärts ab und kam – mit mehr Eleganz als der Situation angemessen war – wieder auf die Füße.
Seine Kapuze war ihm bei diesem Manöver jedoch vom Kopf geglitten und gab nun den Blick auf sein Gesicht frei.
„Drow!“, zischte Vortin. Noch nie zuvor hatte er eine dieser abgrundtief bösen Kreaturen getroffen, doch was er gehört hatte, reichte aus um sich ein Bild zu formen. Ein Bild, das nur zu gut zu der Szene passte, die er auf dieser Lichtung vorgefunden hatte.
Sein Zorn flammte erneut auf. Dieser Drow würde schon bald am eigenen Leibe erfahren, dass diese Region unter seinem Schutz stand – und würde in seinen letzten Atemzügen bereuen, dass er sich jemals aus seinem dunklen Loch hervorgewagt hatte!
Die Augen des Dunkelelfen weiteten sich – aus Furcht? – als Vortin mit neuer Energie auf ihn los ging, und inzwischen schien es ihm deutliche Schwierigkeiten zu bereiten, jeden der Angriffe zu parieren. Vortin grinste. Das war noch nicht alles, was er zu bieten hatte. Geschickt bewegte er sich so um seinen Kontrahenten herum, dass er selbst die Sonne im Rücken hatte und die langsam an Kraft gewinnende Morgensonne dem Drow direkt ins Gesicht schien.
Als der Dunkelelf die Augen mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenkniff, ergriff Vortin seine Chance und sprang nach vorne, schlug mit dem Langschwert in der Rechten die brüchige Abwehr beiseite und stieß mit der Linken eins seiner langen Jagdmesser in die Seite des Drow.
Der Drow schrie auf und taumelte zurück, das Messer noch immer in seinem Körper.
Das Grinsen auf Vortins Gesicht wurde breiter. Er wusste nicht, ob er ein lebenswichtiges Organ getroffen hatte – wer wusste schon, ob die Anatomie der schwarzen Teufel mit der der Menschen übereinstimmte? – doch das war nicht wichtig. Der Drow verlor Blut, viel Blut, und er würde nicht viel mehr tun müssen als zu warten.
Wobei es sicher gnädiger wäre, wenn er seinem Leiden ein schnelles Ende bereiten würde...
Bevor Vortin jedoch zum Gnadenstoß ansetzen konnte, begann der Drow in einer Sprache zu sprechen – nein, zu singen – die Vortin noch nie gehört hatte, und deren Klang einen Schauer über seinen Rücken jagte.
War der andere ein Magier? Verfluchte er ihn mit seinem letzten Atemzug? Was er auch tat, Vortin hatte keine Zeit zu verlieren – er musste es beenden, bevor er selbst einen grausamen Tod erlitt.
Er machte einen Schritt nach vorne, das Schwert zum letzten Schlag erhoben... und hielt inne, als ihm schwarz vor Augen wurde.
Instinktiv sprang er zurück, doch die Dunkelheit blieb. Mit der freien Hand fuhr er sich über die Augen, ohne Effekt.
Von plötzlicher Furcht gepackt schwang er sein Schwert um sich, in der Hoffnung, dass die wirbelnde Klinge den Dunkelelfen in seinem heimtückischen Angriff aufspießen oder zumindest so lang zurückhalten würde bis die Dunkelheit verschwunden war.
Doch als die Dunkelheit nach einer Weile nebelgleich verflog, war der Drow nicht mehr zu sehen.
Nur eine Blutsspur zeigte Vortin, wohin er geflohen war – durch das Dickicht tiefer in den Wald hinein. Er zögerte nicht, sondern nahm sogleich die Verfolgung auf, hoffend, dass der Vorsprung nicht zu groß war.
Vortin folgte der Spur weit in den Wald hinein. Der Drow war Wildpfaden gefolgt und hatte keinerlei Fußspuren hinterlassen, doch das Blut verriet ihn. Vortin musste sich zur Sorgfältigkeit zwingen – auch wenn dieser Drow keinerlei kämpferisches Geschick bewiesen hatte, so bestand doch noch die Möglichkeit, dass er nur auf den geeigneten Moment wartete, um ihn aus dem Hinterhalt anzugreifen. Er musste wachsam bleiben, auch wenn das bedeutete, dass er langsamer voran kam.
Mit einem Mal hörte die Blutspur auf. Verwundert starrte Vortin auf den letzten Tropfen, dann auf den makellosen Pfad, das unberührte Gebüsch zu beiden Seiten des Pfades...
Dann erst sah er sein Jagdmesser, das tief in den Stamm einer jungen Birke getrieben war. Von den Drow keine Spur.
Er stand eine Weile da, betrachtete das Messer und lauschte in die Stille des Waldes hinein, während das Blut auf der Klinge sich langsam dunkel färbte, trocknete.
Nichts. Nur das Rauschen der Blätter.
Er ließ noch ein Dutzend Atemzüge verstreichen, dann drehte er sich um und folgte dem Pfad zurück zur Lichtung.
Nachdem er ein flaches Grab für den unbekannten Toten ausgehoben und ein kurzes Gebet gesprochen hatte, machte er sich erneut auf den Weg, weiter Richtung Norden.
Schließlich wurde er erwartet, und wenn es nach ihm ging, würde er diese Nacht mit weitaus erfreulicheren und vermutlich ungefährlicheren Dingen verbringen als dem Nachstellen von Mördern in der Düsternis.
Als die Sonne erneut durch die Wolken brach und den Wald in ihr Licht tauchte, lächelte Vortin, zum ersten Mal seit Jahrzehnten ohne Bitterkeit.