Politik-Thread

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Chinasky

Dirty old man
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Zu der Gefängnissache: Habe kürzlich ein interessantes Feature im Radio gehört, wo es um die Entwicklung der Kriminalitätsraten und die Darstellung der Kriminalität in den Medien ging. Interessant hierzu: Während die Kriminalitätsraten bei schweren Delikten wie Mord, Vergewaltigung, Raub usw. in den letzten Jahren kontinuierlich sanken, ist das Bedrohungsempfinden der Bürger weiter und weiter gestiegen. Gleichzeitig hat sich auch der Anteil an der Sendezeit bei sämtlichen TV-Sendern, in welchem über Kriminalität berichtet wird, stark erhöht. Nicht nur bei den Privatsendern (dort allerdings extrem), sondern auch bei den öffentlich-rechtlichen. Die Zahlen habe ich nicht mehr im Kopf, aber wenn ich jetzt mal so sage, daß sich die Kriminalitäts-Berichterstattung in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt habe, ist dies noch weit untertrieben.

Gleichzeitig hat es eine Verschärfung der Bestrafungen gegeben. Das heißt: Während die Verbrechensrate in den vergangenen Jahren sank, wurde der Druck auf die Politiker und auch die Richter, deftigere Strafen zu verhängen, immer größer - und sie gaben ihm nach. Auch hier habe ich die einzelnen Zahlen nicht im Kopf, aber wenn man das Strafmaß in Prozenten angeben würde, handelte es sich um Steigerungen im zweistelligen Bereich.

D.h.: Unsere Gesellschaft sorgt durch ihre Mediengewohnheiten dafür, daß die Gefängnisse heute voller sind als vor zehn Jahren, obgleich die Verbrechensrate abgenommen hat.

In dem Feature wurde ein Vergleich zu den USA gezogen, wo die News-Sendungen zu über 50% von Kriminalitäts-Berichterstattung dominiert werden. Klar, daß somit das Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung Ausmaße annimmt, die man nur noch als kollektive Paranoia bezeichnen kann. Und somit hat das Wegschließen Konjunktur. Das Wegschließen der jungen, farbigen Männer zumeist...
Naja, man schaue sich "Bowling for Columbine" zu diesem Thema an und stelle dann in Rechnung, daß wir hier auf dem alten Kontinent es uns zur Angewohnheit gemacht haben, in unserer gesellschaftlichen Entwicklung den USA mit ein paar Jahren Verzögerung hinterherzutrotten...
 

Caswallon

Chronist
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Das hier ist der frühere Irak-Konflikt-Thread. Wie aus diesem Namen einwandfrei hervorgeht, konnte dieses Topic für alle politischen Diskussionen verwendet werden, ob sie nun mit dem Irak zu tun hatten oder nicht. :D

Diese Inkarnation des Threads trägt nun einen allgemeinverständlicheren Namen. Möglicherweise eine direkte Auswirkung des Geisteswissenschaftler-Topics. :D

Cas
 

Karn Westcliff

"Die Geschichte"
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@Cas

Ein Schelm, wer hinter dem Wort In-Karn-ation eine Anspielung vermutet....... :D:D:D

@Hank

Das ist aber doch eine hiesige Statistik, und bezieht sich nicht auf die hohen Zahlen der USA (sowohl Taten wie Inhaftierte), oder?
 
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Chinasky

Dirty old man
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@Karn: Welche Statistik meinst Du? Ich hatte die Zahlen nur im Radio gehört, wobei ich sie samt und sonders wieder vergessen habe. Das einzige, was mir im Gedächtnis blieb, waren die Tendenzen und der Umstand, daß in usamerikanischen News-Sendungen durchschnittlich 50% Kriminalitätsberichtserstattung betreffen. Mir schwirrt noch eine andere Zahl im Hinterkopf, nach welcher bei den deutschen öffentlich-rechtlichen Sendern circa 10% der Sendezeit Kriminalität zum Thema haben, und daß bei RTL der Anteil drei bis viermal so hoch sei. Das umfaßte allerdings auch alle Krimis, Gerichts-Soaps usw. usf.

Was die USA angeht, so blieb mir vor allem Michael Moores "Bowling for Columbine" im Kopf, daß ich vor kurzem hier im Fernsehen sah (nach 24. Uhr im norddeutschen Dritten... :rolleyes: ). Die Zahlen, die er da nannte, waren so krass, daß es schon wieder (aber-)witzig war: Morde durch Schusswaffen in Deutschland pro Jahr: irgendwas um die 150-200* herum. Morde in Großbritannien pro Jahr: ca. 80-90. Morde in den USA pro Jahr: über 20.000 :eek:. Interessant war dann halt der Vergleich mit Kanada, wo ja pro Bewohner kaum weniger Schußwaffen existieren, die Mordrate dennoch im europäischen Rahmen liegt.

Moores im Film entwickelte These: Es ist die durch die Medien transportierte Verunsicherung der US-Bürger, welche sie so aggressiv macht. Während die Kanadier ihre Schußwaffen haben, weil sie so viele passionierte Jäger haben, und ihre Gewehre also nur gegen Hirsche oder was weiß ich für Wild einsetzen, benutzen die US-Bürger ihre Waffen gegen Menschen. Naja, ich will jetzt nicht den ganzen Film nacherzählen, aber selbst wenn man den demagogischen Faktor aus Michael Moores Werk mal herausrechnet, blieb doch als Basis die sehr einleuchtende Erkenntnis: Die US-Bürger werden systematisch in Angst voreinander gehalten, das Mißtrauen gegenüber Fremden ist wesentlich höher als in vergleichbaren Nationen...

Und wenn man dies dann vergleicht mit dem Beobachtungen, die jenes Radiofeature bezüglich der deutschen Kriminalität- und Medienentwicklung machte, dann kann einem schon etwas mulmig werden.

Man könnte diese Phänomene unter dem Begriff Alarmismus zusammenfassen: Andauernd wird uns vorgehalten, was da draussen für Gefahren unserer lauern, das schafft einen Angststreß, und damit wird ein gesellschaftlich-politisches Klima geschürt, welches ganz bestimmten Law-and-Order-Leuten entgegenkommt. (Sherrif Schily...) Diese Entwicklung wiederum macht mir persönlich Angst, weil ich nicht weiß, wie man dieser Entwicklung Richtung von Mißtrauen getränktem Polizeistaat entgegenwirken kann. :(

*auch hier habe ich die Zahlen nicht mehr im Kopf, nur noch die Relationen zwischen ihnen.
 

Karn Westcliff

"Die Geschichte"
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@Hank

:D Ich meinte nur die statistische Tendenz, die du im vorherigen Beitrag aufgeführt hattest (Anzahl der Taten sinkend, Ruf nach härteren Maßnahmen steigend).
Dies ist doch eine Tendenz, die so doch nur hier zutrifft, und nicht in der USA (Ich denke da auch an Moore's Beitrag), oder?
 

Fabian

Hefti
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Ich denke du hast recht mit dem was du sagst, Hank.
Zu dem Thema gibt's übrigens auch ein Buch, das Moore auch in seinem Film erwähnt (er spricht mit dem Autor des Buches über Gewalt in einem Stadtvirtel von Los Angeles bzw. wie die Medien darüber berichten).
Hier ein Link zum Buch, A culture of fear. :)

Wobei ich noch anmerken möchte, dass es wohl weniger die Angst vor Fremden ist, schließlich haben die USA eine sehr heterogene Bevölkerung, sondern eher die Angst, ja Parnoia vor allem irgendwie Aggressivem.
Die Amerikaner sind ja (manche würden sagen oberflächlich) sehr gastfreundliche Menschen, so lang man sich an die Gepflogenheiten hält. Sobald es aber intim wird sind sie sehr kritisch und vorsichtig. Ich denke alles was irgendwie aufdringlich und aggressiv wirkt wird stark abgelehnt.
Da Gewalt natürlich die stärkste Form von Aggresivität ist, wird diese konsequenterweise am härtesten bestraft. Wobei das wahrscheinlich oft zu einer masslosen Überreaktion führt. So könnte man auch die Todesstrafe als eine Überreaktion auf die Gewalt die bei einem Mord entsteht bzw. den Irakkrieg als eine Überreaktion von Wut die (durch die Beeinflussung der Bush Regierung) auf den Irak glenkt wurde.

Allerdings scheint der "Trick" von Bush mehr und mehr nach hinten los zu gehen, so wird die Situation sowohl im Irak als auch die Stimmung in den USA selbst immer schlechter, wie dieser Spiegellink darlegt.
 

Chinasky

Dirty old man
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Das weiß ich nicht. Aber es sollte mich wundern, wenn in den USA die Entwicklung, was das Rufen nach härteren Maßnahmen angeht, schon wieder in die andere Richtung ginge. Zu hoffen wäre es. Wie die Verbrechensentwicklung dort ist, dazu habe ich nicht mal eine Ahnung.

@Fabian: Naja, den SPIEGEL-Prognosen bezüglich der US-Entwicklungen traue ich nicht mehr, seit sie sich vor der letzten Präsidentschaftswahl prächtig verrechnet hatten. Die Spiegel-Leute wollen, daß es mit Bush zuende geht.

Daß er im Gegenteil zumindest innenpolitisch seine Agenda durchdrückt, ist der Tenor so manchen Beitrags in der NYT. Ich kopiere hier mal einen Artikel bezüglich des Einflußes des konservativ-religiösen Vorgehens rein, weil das direkte Verlinken für Leute, die dort nicht angemeldet sind, ja nix bringt:

The disappearing wall

To the dismay of many mainstream religious leaders, the Senate majority leader, Bill Frist, participated in a weekend telecast organized by conservative Christian groups to smear Democrats as enemies of "people of faith." Besides listening to Senator Frist's videotaped speech, viewers heard a speaker call the Supreme Court a despotic oligarchy. Meanwhile, the House majority leader, Tom DeLay, has threatened the judiciary for not following the regressive social agenda he shares with the far-right fundamentalists controlling his party.

Apart from confirming an unwholesome disrespect for traditional American values like checks and balances, the assault on judges is part of a wide-ranging and successful Republican campaign to breach the wall between church and state to advance a particular brand of religion. No theoretical exercise, the program is having a corrosive effect on policymaking and the lives of Americans.

The centerpiece is President Bush's so-called faith-based initiative, which disregards decades of First Amendment law and civil rights protections. Mr. Bush promised that federal money would not be used to support religious activities directly, but it is. The program has channeled billions of taxpayers' dollars to churches and other religion-based providers of social services under legally questionable rules that allow plenty of room for proselytizing and imposing religious tests on hiring. The initiative even provides taxpayers' money to build and renovate houses of worship that are also used to offer social services.

Offices in the White House and federal departments pump public money to religious groups, but provide scant oversight or accountability to make sure that the money is spent on real services, not preaching. Indeed, Mr. Bush's goal is to finance programs that are explicitly religious.

A recent want ad posted by a taxpayer-financed vocational program of the Firm Foundation for inmates in a Pennsylvania jail stipulated that a job seeker must be "a believer in Christ and Christian Life today" and that the workday "will start with a short prayer." A major portion of inmates' time is spent on religious lectures and prayer, according to a lawsuit filed by two civil liberties groups.

The Bush administration and Congress have turned over issues bearing on women's reproductive rights to far-right religious groups opposed not just to abortion, but to expanded stem-cell research, effective birth control and AIDS prevention programs. The Food and Drug Administration continues to dawdle over approving over-the-counter access to emergency contraception for fear of inflaming members of the religious right who deem any interference with the implantation of a fertilized egg to be an abortion. This foot-dragging may be good politics from one narrow view, but it harms women and drives up the nation's abortion rate.

The result of this open espousal of one religious view is a censorious climate in which a growing number of pharmacists feel free to claim moral grounds for refusing to dispense emergency contraception and even birth control pills prescribed by a doctor. Public schools shy away from teaching about evolution, and science museums reject scientifically sound documentaries that may offend Christian fundamentalists. Public television stations were afraid to run a children's program in which a cartoon bunny met a lesbian couple.

In a recent Op-Ed article in The Times, John Danforth, the former Republican senator and U.N. ambassador who is also a minister, said his party was becoming a political arm of the religious right. He called it a formula for divisiveness that ultimately threatened the party's future. With the nation lurching toward the government sponsorship of religion, and the Senate nearing a showdown over Mr. Bush's egregious judicial nominees, it is a warning well worth heeding.
 
Zuletzt bearbeitet:

Fabian

Hefti
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Ich denke ich habe mit "mehr und mehr zurückgeht" die falschen Worte gewählt.
Denn ich meinte mehr, dass es mit Bushs Beliebtheit seit einiger Zeit nicht so gut steht, nicht so sehr die Verbrechensrate.
Wohin die politische Richtung der USA aber letzten Endes führen wird, ist wieder eine andere Frage.

[edit]
Mit deiner Einschätzung zum Spiegel Artikel hast durchaus recht, das selbe beobachte ich auch an mir. :(

Um noch mal auf den obrigen Punkt zurück zu kommen, vielleicht ist nur indirekt die Aggressivität sondern mehr das Brechen von Regeln, dass so verpönt ist und so starke Gegenreaktionen auslöst.
Das würde auch insofern passen, da die Amierkaner ja immer die Entscheidungsfreiheit (freedom of choice) hochhalten, aber mit großer Freiheit auch große Verantwortung einher geht.
Tja, und wenn man trotz der größeren Freiheiten die Regeln bricht dann muss man, laut amerikanischer Auffassung, auch die Konsequenzen tragen.
So nachdem Motto, du darfst dir zwar ein Sturmgewehr und einen Raketenwerfer kaufen, wenn du damit aber jemanden verletzt wirst du auch hart bestraft.
Ist zumindest jetzt mal meine Interpretation. :)
*grübel*
[/edit]
 
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Lisra

Schmusekater
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Kurze Spam-Nachricht:
(zitat) Die Spiegel Leute <b>wollen</b> das es mit Bush zu ende geht (/zitat).

Na und? Du etwa nicht? ;)
 

Chinasky

Dirty old man
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Jo, aber deswegen rede ich mir die Welt nicht schöner, als sie ist... ;)
 

Lisra

Schmusekater
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Gibts sowas wie <i>Journalistische Freiheit</i> :shine: ?
 

Dathor

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Was die steigende Kriminalitätsangst trotz sinkender Kriminalitätsrate angeht, so ist eine klassische soziologische Erklärung, daß in Zeiten sozialer Polarisierung, also der weiter aufgehenden Schere zwischen Arm und Reich, die abstiegsbedrohten unteren Mittelschichten ihre Abstiegsängste umwandeln in Kriminalitätsängste. Also ein Fall von Projektion. Unterstützt wird dies durch diejenigen sozialen Gruppen, die Sündenböcke brauchen können, um von eben dieser Polarisierung abzulenken. - Ob diese Erklärung völlig ausreicht? Wer weiß. Jedenfalls spielt dieser Mechanismus in meinen Augen durchaus eine Rolle.

Was Moores (in meinen Augen an sich sehr guten) Film angeht, hat sich da bei ihm am Ende der gleiche Denkfehler eingeschlichen, den er bei seinen Kontrahenten entlarvt. Er geht ja von der Brutalität in den USA aus, von der enorm hohen Zahl an Toten durch Schußwaffen, und stellt auf seine wunderbar naiv-eulenspiegelhafte Art diese Fragen an diverse Leute. Deren Antworten zerpflückt er argumentativ (m.E. völlig zu Recht), z.B. den Erklärungsversuch mit der "besonderen Geschichte" der USA (das war glaub ich der Waffenfanatiker Charlton Heston), indem er auf eine nicht weniger gewalttätige Geschichte anderer Länder verweist. Nachdem er auf diese Art einige falsche Erklärungen widerlegt hat (durchaus zum Mißvergnügen seiner Gesprächspartner), versucht er nun selbst einen Erklärungsversuch: die von Chinasky genannte Manipulation durch die Medien. Damit hat er aber selbst wieder einen leider völlig ungenügenden Erklärungsversuch geliefert. Denn erstens müßte man genau prüfen, daß die Medien in den USA manipulativer als in anderen Ländern. Zweitens: selbst wenn das stimmen sollte, fängt hier ja die eigentliche Erklärungsnot erst an: warum ist das dann so? An der Frage laboriere ich schon eine Weile rum. Es könnte von Bedeutung sein, daß die Bevölkerungsmehrheit USA erst vor relativ kurzer Zeit die Eroberung des Kontinents und die Staatsbildung abgeschlossen haben, und viele Menschen über lange Zeit im Zustand der "frontier" lebten, d.h. in ständiger Kampfbereitschaft und relativ schwachem staatlichen Gewaltmonopol, mit der Tradition, daß jeder Farmer Waffen daheim haben mußte. Vielleicht auch, daß ein großer Teil der ersten Einwanderer Leute waren, die in Europa religiös verfolgt waren (was damals durchaus harte Folgen haben konnte). Man könnte spekulieren, daß die ebenfalls sich in einer verhärteten Verteidigungsmentalität befunden haben.

Am meisten habe ich drüber nachgedacht, ob die Rolle der USA (die nach dem zweiten Weltkrieg erreichte Spitzenposition in der globalen Machtpyramide) dafür wichtig sein könnte.

Vor einiger Zeit bin ich dann auf einen interessanten Baustein gestoßen, der hier das "missing link" sein könnte: das Buch "Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie" vom kalifornischen Politikwissenschaftler Chalmers Johnson. In seiner spannenden Analyse des US-amerikanischen Imperialismus der letzten 100 Jahre zeigt er unter anderem die stetig wachsende Rolle des militärisch-industriellen Komplexes innerhalb der us-amerikanischen Gesellschaft auf. Er zeigt u.a. auf, wie die USA immer militaristischer wurden. Das war schon ziemlich beeindruckend, und auch beunruhigend. Jedenfalls könnte das einen Beitrag leisten zur Antwort auf die von Moore aufgeworfene Frage, warum die USA intern so viel gewalttätiger sind als vermutlich alle anderen Industrieländer.
 

Chinasky

Dirty old man
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Klingt plausibel - zumindest teilweise. Die Frage wäre ja, warum sich da die Gewalt nach innen richtet? Wenn ich da z.B. mit dem Militärstaat Preußen vergleiche - gab's dort ebensoviel Gewaltverbrechen?

Deine soziologische Erklärung bezüglich der Abstiegsängste der unteren Mittelschichten, die ihre Unsicherheit dann in Kriminalitätsängste umwandeln, hat auf jeden Fall etwas für sich. Allerdings müßte man dann auch mit anderen Zeiten und Regionen vergleichen.

Für mich bleibt die Frage, ob derlei Entwicklungen von den Medien nur forciert oder doch tatsächlich auch initiiert werden können? Wenn man erstens konstatiert, daß "bad news good news" für denjenigen Medienanbieter sind, der Quoten machen will, dann könnte man schließen: Je quotenabhängiger (also profitorientierter, kurz: privater) Medien sind, desto mehr tendieren sie dazu, sich auf Gruselstories zu konzentrieren. Was die Unsicherheit des Medienkonsumenten auf Dauer selbstverständlich vergrößert, denn niemand kann sich dem Dauerbombardement mit bad news völlig entziehen.
Insofern wären dann die USA eventuell wieder mal lediglich ein paar Jahre voraus, und die Gewaltbereitschaft könnte sich hierzulande in der Zukunft ähnlich steigern, wie es jetzt schon die Bereitschaft, strengere Strafen zu verhängen, tut. Daß es mit der Brutalisierung hierzulande wohl nicht so rasch vorangehen dürfte wie in den USA, könnte dann durchaus an dem simplen Faktum liegen, daß hierzulande die Schußwaffen längst nicht so verbreitet sind.
Allerdings sind dies sehr viel "könntes", "wäres", "denkbars" und "möglicherweises"...
 

Chinasky

Dirty old man
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Wenn Du auf die genauen Zahlen schaust, ist die starke Zunahme vor allem bei den Propagandadelikten zu verzeichnen. Zwar haben da auch die Gewaltdelikte zugenommen - aber es wäre nun doch noch genauer nachzufragen, welche Gewaltdelikte da gemeint sind.

Damit will ich gar nicht behaupten, daß man hier nicht aufpassen soll, und es wäre schlimm, wenn hier tatsächlich eine steigende Tendenz zu verzeichnen wäre.

Aber Statistiken sind so eine Sache... Beispielsweise wäre zu fragen, ob nicht nur das Anzeigeverhalten sich - im Zuge der Diskussionen um NPD-Verbot usw. usf. verändert hat? Mir fällt dazu nur ein, daß z.B. nach der Einführung von gesetzlichen Regelungen, nach denen prügelnde Ehemänner aus ihrer Wohnung verbannt werden können, plötzlich wesentlich mehr Anzeigen gegen prügelnde Ehemänner verzeichnet wurden. War unter deutschen Männern die Prügelitis ausgebrochen? Nein, aber jetzt erst machte es für die geprügelten Frauen überhaupt Sinn, ihre Männer anzuzeigen. Vorher zeigten sie ihre Männer nicht an, weil es ihnen nix gebracht hätte (ausser eventuell noch mehr Prügeln...)

Auch wurden nach den Folterungen von Mitschülern irgendwelcher (hildesheimer?) Berufsschüler und dem gewaltigen Medienecho plötzlich viel mehr solcher Delikte angezeigt - und fanden so Eingang in die Statistiken. Wurden die deutschen Schüler innerhalb kurzer Zeit zu Monstern? Nein, aber vorher waren die Opfer gar nicht auf die Idee gekommen, daß ihnen eine Meldung der Schikanen aus ihrer Misere helfen könnte...

Will sagen: Kriminalstatistiken sind mit Vorsicht zu genießen und man sollte immer auch die Dunkelziffern mit berücksichtigen. Die liegen bei Morden recht niedrig, bei Vergewaltigungen in der Familie recht hoch, und wenn man generell von Gewaltdelikten spricht, fällt darunter so manches von der Kneipenrempelei bis zum systematischen und brutalsten Quälen eines Entführungsopfers...

Wenn nun in diesem Artikel schon steht, daß Schily demnächst mit diesen Zahlen an die Öffentlichkeit gehen wolle, also schon mal öffentlich kund tut, daß er demnächst etwas öffentlich kund tun wolle, dann riecht das für mich nicht ganz koscher. Diese Zahlen scheinen ihm auf irgendeine Weise ins Konzept zu passen, und das Konzept sieht dann so aus: Wir brauchen noch schneller die biometrischen Daten in den Ausweisen, wir brauchen Gen-Analysen jedes Ladendiebs, wir brauchen erweiterte Befugnisse für die Strafverfolgungsbehörden - alles natürlich nur, um die bösen Neonazis, (deren Partei zu verbieten leider nicht gelang, weil der Verfassungsschutz inkompetent war) in Schranken zu halten...
 
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Gala

Labyrinth-Leichnam
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Chinasky

Dirty old man
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@David: Auch hier wieder weiß man so gut wie gar nichts über die befragten Gruppen, die Arten der Frage, die Vergleichszahlen usw. Derartige Meldungen fallen für mich immer unter 0-Info-Gelaber...
 

Falk

ChickenWizzardwing
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@Hank: Habe mir über dieses Thema auch schon öfters Gedanken gemacht. In deinem ersten Post hast du erwähnt, dass das Bedrohungsempfinden der Bevölkerung immer weiter zunimmt. Gleichzeitig nahm dann auch die Berichterstattung über Kriminalität im Fernsehen zu und hat heute, zumindest in meinen Augen, extreme Ausmaße erreicht. Es beginnt ja schon mit den Richtershows, die heute für fast jeden größeren Sender eine Selbstverständlichkeit sind. Weiter geht es mit irgendwelchen Real-Doku-Soaps über Kommisare. Hinzu kommen fünfzig verschiedene Fernsehdetektive und Fernsehreviere.
Außerdem hat sich meiner Meinung in der Berichterstattung der Medien einiges zum negativen verändert.

Nehmen wir als Beispiel die Tsunami-Flut Ende letzten Jahres und den 11.September 2001. Die Berichterstattung mancher Fernsehsender hörte gar nicht mehr auf. Da wurde tagelang fast im Viertel-Stunden-Takt alles immer wieder wiederholt. Denn irgendwie muss man ja die Sendezeit füllen, auch wenn man nichts neues Interessantes zu berichten hat. Und man stürtze sich auf jede noch so kleine Neuigkeit, die dann sofort berichtet wurde. Die Folge davon war, mir kam es zumindest so vor, das dies dann häufig in unkoordinierter Weise passierte, was sich hin und wieder in der kurzen Verwirrung der Nachrichtenmoderatoren zeigte, wenn diese improvisieren mussten.

In der Spätanalyse wurden dem Zuschauer dann in weiteren Sondersendungen alle Theorien über Ursachen/Folgen/usw. aufgetischt, und wenn diese noch so wild und unwahrscheinlich waren. Hauptsache man konnte das Ereignis immer noch für Zuschauerzahlen ausnutzen, auch wenn sich der Staub schon längst gelegt hatte.

Natürlich war jetzt einiges von dem, was ich geschrieben habe, ziemlich überspitzt ausgedrückt. Dies soll aber verdeutlichen, das die seriöse Berichterstattung immer mehr auf Kosten der Sensationspräsentation verloren geht. Hauptsache man sendet am schnellsten das Aktuellste vom Geschehen. Ob es stimmt, kann man auch noch später sehen.

Diese Bombardierung von "bad news" hat sicherlich zur Verstärkung des Bedrohungsempfindens geführt. Als am 11. September die Flugzeuge ins WTC flogen, hörte man plötzlich überall von der Angst vor Terroranschlägen. Natürlich kann soetwas auch Deutschland passieren, dass konnte es aber auch schon vor dem 11.September. Terroranschläge sind schließlich nichts Neues. Genausogut kann ich aber auch morgen vom Auto überfahren werden.
Prompt reagierte auch die Politik darauf, denn nun mussten schnell Lösungen her, um der Terrorgefahr zu begegnen. Als Beispiel nehme man dann Schilys Vorschlag, die Kontonummern aller deutschen Kontoinhaber zu speichern, um Terroristen besser auf die Schliche zu kommen. Das die deutschen Behörden damit auch besser an die Kontoinformationen kommen, interessierte in diesem Moment fast keinen.

Kann man das Ganze allerdings auch in Bezug auf das Bedrohungsempfinden gegenüber Kriminalität so sehen? Sicherlich ist die Dauerbestrahlung von Gerichtsshows nicht gerade förderlich für das Abflauen des Bedrohungsempfindens. Ob Barabara Salesch & Co dabei allerdings eine aktive Rolle spielen, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Denn auch wenn die Medien heutzutage sicherlich eine beeinflussende Wirkung haben, so soll man sie auch nicht für alles verteufeln.
 

Chinasky

Dirty old man
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@Falk: Ähnlich sehe ich die Entwicklung ja auch. Verteufeln sollte man die Medien nicht - denn auch wenn an manchen Stellen sicherlich Programmverantwortliche vorsätzlich an dieser Schraube drehen, so gibt es m.E. keine konzertierte Aktion der Medien. Gesendet wird, was Quote bringt - und wenn nun mal ganz bestimmte Themen Quote bringen und tiefergehende Analysen der Tod der Quote sind - dann kriegt der Konsument also das, was er nachfragt. Er fragt das Falsche nach!

Ich sehe hier einen Teufelskreislauf: Die sozial schwächeren und bildungsferneren Schichten sehen besonders viel TV. Fernsehgucken verblödet aber auf Dauer, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Das Fernsehen ist ein Medium der Oberfläche, nicht der Tiefe, mit Bildern werden zuallererst Emotionen transportiert, nicht Einsichten oder Verständnis. Zusätzlich werden die Bilder noch von den Medienmachern dramatisiert und choreographiert, um die "emotionale Wucht" zu verstärken (weil das mal wieder Quote bringt). Sei es, daß in den Nachmittagstalkshows Leute mit ihren Problemen regelrecht aufeinander gehetzt werden, sei es, daß die Berichterstattung über den Tsunami sich darin erschöpft, stundenlang irgendwelche heulenden Touristen auf den Flughäfen abzufangen und zu "interviewen".
Wie auch immer - aus Selbstversuchen weiß ich, das exzessiver Fernsehkonsum abstumpft, blöd macht, das eigene Denken verdrängt... Die Leute, die ohnehin schon "geistig hinterherhängen", glotzen besonders viel TV und verdummen so zusätzlich - weswegen sie immer hirnloseren Mist "nachfragen". Und solange die Medienmacher auf die Quote schielen müssen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Mist anzubieten: Sonst werden sie vom Markt gefegt.
Manche meinen, man müsse auf die Selbstreinigungskräfte des Marktes vertrauen, und wenn das Niveau zu tief falle, werde es schon eine Gegenbewegung geben, weil die Zuschauer irgendwann genervt von dem Müll sein würden und wieder hochwertigeres Fernsehen nachfragen...

Ich glaube an diese Selbstheilungskräfte ungefähr so sehr wie daran, daß man das Drogenproblem dem freien Markt überlassen sollte. Hier ist eigentlich der Staat gefragt, dem daran gelegen sein muß, daß seine Bürger nicht immer weiter regredieren (sich geistig zurückentwickeln).
Nur weiß ich nicht, wie man hier seitens des Staates Einfluß nehmen sollte, denn auf der Kehrseite lauert freilich die Hydra der Zensur. Das Einzige, was ich mir vorstellen könnte, wäre eine Einflußnahme über den Geldbeutel: Eine Art Qualitätssteuer auf Medien, die umso höher ausfällt, je dämlicher das Medienprodukt ist. Aber: Wer sollte da entscheiden?

Jedenfalls ist die extreme Kommerzialisierung/Privatisierung des Meinungs- und Bildungsmarktes in meinen Augen eine Gefahr. Wie ihr zu begegnen wäre, dazu fällt mir aber auch kein Patentrezept ein. :(
 
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