Enthält Gewalt, Andeutungen zu Sex und so... lest auf eigene Gefahr...
kein Titel.
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Geräusche am Rande des Bewusstseins. In der Nähe oder weit weg? Ein Tier, ein Mensch?
Stimmen. Menschen.
Hilfe.
Rettung.
Untergang.
Zeit.
„Schau da, man kann sie noch sehen, wie sie da liegt. Hat sich schon eine Weile nicht bewegt, Bruder. Nein, wir gehen nicht zu ihr hin. Lass mich doch, dann hab‘ ich halt Angst! Komm, ich helf dir hoch, schau‘s dir selber an; ich sag dir, du willst da auch nicht rein!“
Am Anfang schien noch die Sonne. Sie erinnerte sich an die Sonne, spürte die Wärme im Nacken als sie sich durch zugewachsene Wege kämpfte, bis sie, den Schweiß aus den Augen blinzelnd, dort stand wonach sie gesucht hatte.
Der Spiegel zog sich über die ganze Wand, war vom Zahn der Zeit verschont geblieben, während die hölzerne Decke, der Fußboden, selbst die Wand, in die er eingelassen war, sich bogen und langsam verfaulten.
Sie setzte sich auf einen fleckigen, feuchten Teppich, schlang die Beine in den Schneidersitz und starrte auf den Boden, wusste nicht warum, ob sie nach Tierchen zwischen den nassen Fäden ausschau hielt oder einfach nichts mit dem Blick anzufangen wusste, es war ihr letztlich egal.
Ihre Hände fanden etwas hartes; Plastik. War es das wonach sie gesucht hatte? Was war das überhaupt…
Sie grinste sich selbst an, verewigt auf der Plastikkarte, gefangen unter dem Schutzumschlag, gebrandmarkt mit einem Namen unter dem Schlagwort Personalausweis. Wir wissen wer du bist, es steht genau hier…
Die Sonne verschwand, sie verblieb so regungslos wie zuvor, den Blick versenkt in ihr eigenes Konterfei, so verzerrt es ihr jetzt auch erschien. Lisa ‚Lenya‘ Sjermansvåg… wir wissen, dass du da drin bist. Komm raus wie ein braves Mädchen!
Lenya stand ruckartig auf, schwankte, als ihr Kreislauf protestierte und warf die Plastikkarte fort. Verdammt soll das sein was sie war…
Sie hob den Blick, sah in den Spiegel. Ein wenig Licht gab den Blick frei. Sie starrte sich selbst an, anders als auf dem Bild im Dreck. Lange schwarze Haare hingen ihr in Strähnen im Gesicht, gingen bis über ihre Schultern. Zwei verkrustete Schnitte zogen sich auf der linken Wange entlang, die Haut war dunkel unter den Augen.
Aber Hallo Sonnenschein, was bist du nicht wieder grässlich hell heute… sagte, dachte, murmelte, schrie sie? Ihr Hals fühlte sich rau an, Gänsehaut kletterte ihre Arme hinaus, bis unter die Haut, die sicher verborgen war unter schweren Baumwollshirt und Bluse, als sie die Oberfläche des Spiegels berührte, sich selbst in die Augen sah, mit der Nase an das Glas stieß.
„Und sie stand da, wirklich, minutenlang. Ich dachte schon die würde mal was Richtiges machen… fingern vor’m Spiegel, oder so, aber nichts.“
Die Faust traf zum ersten Mal das Glas, ein zweites Mal. Risse breiten sich aus, verzerren Teile des Bildes. Splitter fallen, bleiben an ihrer Hand, schneiden, reißen.
Wer du bist, das siehst du genau hier, direkt vor dir und du kannst nichts daran ändern. Gar nichts. Es liegt alles hinter dir und was kann da jetzt noch kommen, von jemandem wie dir… schau es dir an, schau dein verdammtes Gesicht an. Die Flecken sind weg, aber du kannst sie noch immer sehen, sie sind in deinem Kopf eingebrannt und du weißt noch wer sie schlug, jeder einzelne, du kennst das Gesicht, die Augen und du weißt wie sich jede Faust anfühlte. Die Schnitte sind geblieben. Du weißt genau woher die stammen. Du weißt genau wer -
SEI STILL.
Beide Fäuste treffen das Glas, dann die Stirn, hart, einmal, zweimal, dreimal.
Haut und Fleisch reißen, als sie den Spiegel hinab rutscht, Blut verschmiert das Spiegelbild, einzelne Splitter fallen heraus. Ihre Augen sind leerer geworden, Hände geballt, die kleinen Glasfragmente tief im Fleisch, und sie drückt die Hände so fest sie kann, verbleibt so bis die Muskeln schließlich nachgeben. Schmerz, körperlicher Schmerz… guter Bekannter, doch unwillkommener Gast…
Achtlos hinter ihr liegt ein Rucksack, abgetragen, aber heil. Sie reißt ihn unwirsch auf, wühlt darin herum, verteilt ihr eigenes Blut auf dem rauen Material. Flasche, Shirt, Messer, Feuerzeug, Reste… gefunden. Schon wieder Plastik, schon wieder eine Hülle, ein Gefäß. Synthetischer Tod blickt sie an, grinsende Gesichter in die Form geritzt. Mit genug Wasser zwingt sie eine Handvoll ihre Kehle hinunter.
„Hab‘ erst gedacht sie fixt, aber dann hat sie nur Pillen geschluckt.“
Schmerz verblasst und mit ihm der feste Rahmen der Welt. Alles zerbricht in lose Farben, Licht und letzten Endes, Dunkelheit. Dunkelheit und dem wagen Empfinden von abwechselnd Hitze und eisiger Kälte. Bewegung setzt aus, die Augen sind hinter den Spiegel gerichtet, verloren, verstoßen.
Du hast dich sicher nach viel gesehnt, nicht wahr? Nach Wärme und Zuneigung, nach einem Ende des Horrors und nach einem grausamen Tod für jene, die über dir standen. Und sieh dich an, ist alles schlecht? Du liegst auf einem stinkenden Teppich, die Arme um dich selbst geschlungen und irgendwann erfrierst du vielleicht, aber du fühlst dich doch warm, fühlst dich doch sicher, stehst nahe am Abgrund und würdest lächeln, wenn du nicht in Starre wärst… ist es alles schlecht? Ist es schlecht wenn du noch mehr nimmst? Ist es nicht ein Segen, wenn du der Wärme nahe kommst, die du nicht bekommen kannst? Es will dich niemand, hilf dir selbst und vielleicht ist dann auch bald alles vorbei.
Körper zuckt. Muskeln kontraktieren, Atmung stockt immer wieder.
Starrer Moment.
Vage Entspannung, nichts Richtiges, nichts Befreiendes, etwas Zurückstoßendes.
Hallo du, ich bin die Welt und noch immer da.
„Das war so krank… gezuckt hat die, immer wieder, dann blieb sie ruhig, vielleicht zwei Minuten lang.“
Was ist das für eine Welt, die sich dir da offenbart? So verzerrt, kalt und doch fühlst du dich warm im Innern, glühst doch fast… was ist das da vorn, das bin ich, haha, ich, ich, ichichichichich.
Lenya schlägt den Rucksack in den Spiegel. Was sie war, was sie ist und was sie werden wird folgt ihr überall hin, selbst in den Drogenrausch.
Du stirbst, du stirbst, langsam, aber du stirbst. Wenn nicht heute, dann beim nächsten Mal. Du wirst dich verkrampfen, irgendwo im Dreck und irgendwann wird dein kaputtes Herz aufhören zu schlagen. Du würdest dann lächeln wollen, aber du wirst nicht können, weil die Überdosis deine Muskeln lähmt. Gefällt dir das? Ja? Und das ist gnädig für dich, das weißt du…
Will diesen Körper nicht mehr, will diesen Körper nicht mehr, will nicht mehr.
Schlanke Finger schließen sich um ein großes Stück Glas. Es wird ruckartig über Lenyas Bauch gerissen, dreimal, viermal. Stoff reißt ein, Haut und Fleisch geben nach. Heißer Schmerz durchdringt sie, unbemerkt und abgedämpft, bis er abgetötet wird. Sie lächelt langsam, die Muskeln sind so langsam, denn Wärme breitet sich in ihr aus, heiße, ungehemmte Wärme. Es ist nicht mehr kalt, nicht mehr kalt.
Nach einer halben Stunde ist der Großteil der Pillen resorbiert.
Schwere Dunkelheit kriecht heran. Bis auf die Wärme ist alles verschwunden. Die Sicht ist Dunkelheit gewichen, Lenya liegt zusammengekrümmt teil in den Überresten des Spiegels, hält die Arme über den Bauchwunden, spürt die Wärme ihres eigenen Blutes. Sie ist glücklich.
Sie kann gar nicht anders.
„Ich weiß nicht was sie dann gemacht hat, es ist so dunkel, aber dann hat sie aufgehört und blieb so liegen“
„Wie lange schon?“
„Vielleicht fünfzehn Minuten, du hast ja etwas gebraucht um herzukommen.“
Stimmen schleichen sich immer wieder an, doch sie erreichen kaum etwas. Was denkst du eigentlich an Hilfe… komm zu mir, komm zu mir. Du kannst dich nicht mehr bewegen und der Schlag deines Herzens in deinem Kopf wird langsamer, du spürst es doch auch.
Empfange die Ruhe, es bleibt dir nichts anderes übrig.
Und es hätte nicht anders kommen können, weißt du? Es war alles doch schon klar, als du das erste Mal zu ihm gegangen bist. Und jetzt ist es gut, so hast du’s dir gewünscht, nicht wahr? Du hast dich selber im Traum gesehen, ich bin du. Ich liege hier bei dir, kann mich bewegen, weil du es nicht kannst, fühle das Blut, was aus dir strömt und teile es. Ich bringe das Lächeln auf dein Gesicht, küsse deine kalte Haut. Ich war immer in dir, wurde mit dir geboren und jetzt hast du mich gefunden. Und zusammen werden wir gehen. Hab‘ keine Angst. Du bist nicht allein. Und du wirst nie mehr allein sein.
„Fuck, was ist das? Blut? Scheiße Mann-“
„Lass. Fass sie nicht an. Du fickst keine Leichen, was man dann mit dir macht...“
„Okok… fuck Mann… lass abhauen!“
Du warst ganz leise, das ist gut. Sie sind weg und stören deine Ruhe nicht mehr. Schau mich noch einmal an…
Die Augen öffnen sich, doch sie schauen in’s Leere. Trotzdem sehen sie etwas. Sie sieht sich selbst, eine Abgrundgestalt in eigenem Dreck und Blut, klammer Körper und verstummendes Herz. Sie sieht den letzten Weg vor sich, den letzten Ausweg.
Doch diesmal hat sie die Dosis richtig hinbekommen.
Lenyas Herz hört auf zu schlagen. Die Muskeln entspannen sich, nur um später zu erstarren.