Lisra
Schmusekater
- Registriert
- 06.02.2004
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So... da war ich auch mal wieder aktiv, für einen Wettbewerb über Burgen und Horror. Viel Vergnügen.
Erlösung
Selbstverständlich erinnere ich mich noch an das erste Mal, als ich die alte Ordensburg am Horizont erblickte. Rotbraun, fast rostfarben stand sie auf dem einzigen Hügel in dieser flachen Landschaft. Sie lag schwer auf der Erhebung, als wäre sie auf Lehmboden gebaut und würde immer weiter in den Morast sinken. Aus den schwindenden Wäldern, die Holz für all ihre Kamine lieferten, liefen vielleicht ein Dutzend Wege auf sie zu. Karren mit Waren für den Markt strömten auf sie zu, leere rollten von ihr weg. Männer zu Pferde mit Bannern und Lanzen griffbereit ritten uns immer wieder entgegen. Alles in dieser entlegenen Ecke des Reichs sammelte sich um die Burg und jeder Bauer blickte zu ihr für Sold und Schutz, ganz wie es sein sollte. Ich konnte nicht widerstehen, mich wieder ein kleiner Junge zu fühlen. Für einen Moment vergaß ich, dass es einen Grund für unser Kommen gab.
Die roten Mauern ragten vielleicht sechs Meter empor und wirkten sehr breit. Scharten und kleinere Türme zeigten sich in geregelten Abständen und überall war geschäftiges Treiben. Banner mit dem schwarzen Kreuz des Ordens hingen für alle sichtbar aus. Unter den wachsamen Augen Bewaffneter passierten wir zwei Torhäuser. Etwas jedoch fiel mir sofort ins Auge: Anders als in den Burgen, in denen ich bisher gedient und mein Tagwerk erlernt hatte, gab es keinen Bergfried. Stattdessen erinnerte mich das gesamte Innenareal mehr an ein Kloster als eine Burg, nicht nur weil ich mehr Brüder im Habit als sonst hinter solchen Mauern sah.
Unser Konvoi wurde freudig empfangen. Anstatt eines pompösen Hausvogtes, mit deren Sorte ich schon Bekanntschaft gemacht hatte, trat uns einer der Mönche entgegen. Wie viele seiner Art war er untersetzt und breit, gezeichnet von einem Leben, in dem die harte Arbeit von Novizen gemacht wurde. Trotzdem gab er freundliche, bestimmte Anweisungen wo wir und unsere Mitbringsel zu verwahren seien. Ich sah keine Furcht in den Augen der Klosterbrüder. Die Ruhe, mit der sie ihrem Werk nachgingen, verunsicherte und beruhigte mich zugleich.
So lebte man sich ein. Wir erkundeten in freien Momenten die Burg und ihre Ländereien, doch befassten uns die meiste Zeit hinweg mit der dankbaren Aufgabe, alle freien Bauern und das bewaffnete Fußvolk zu unterrichten. Noch einige Tage vor unserer Ankunft hatten wir zum Tross des Grafen gehört, auf dem Weg in den Krieg. Doch die schiere Zahl der Feinde machte es nötig so viel kampfbereite Männer wie möglich zu haben. Es war harte, aber notwendige Arbeit und wir erfreuten uns daran, unseren Teil zu tun, bevor es zur Schlacht kam. Niemand, außer den Verrückten, sehnte Kampf und Tod herbei. Die Burg stiftete mit ihrer schieren Masse Ruhe. Sicher, jede Festung ließ sich aushungern und irgendwann bezwingen, aber trotzdem versprach sie ebenso Sicherheit, wie es unser Wappen tat. Obwohl ich auch andere Banner sah, bestickt mit Drachen von ein oder auch zwei Köpfen. Vielleicht waren sie dem heiligen Georg gewidmet, schließlich trug der Kirchenvater hier ebenso seinen Namen.
Die Leiden begannen eine Woche später. Nur wir Ritter waren im Refektorium der Mönche versammelt. Ein Mann stürzte herein, die Kleidung in Fetzen und voller Blut. Vor dem hohen Tisch sank er auf die Knie und sprach die schweren Worte: „Die Schlacht ging verloren. Der Graf ist tot!“
An diesem Abend trafen wir alle in der Kapelle zusammen. Seit meiner zaghaften Erkundung am ersten Tag war ich nicht mehr dort gewesen. Jede verfügbare Kerze schien herbeigeholt worden zu sein. Zwei Reihen von ihnen bildeten einen Gang durch das Kirchenschiff. Vielleicht ein Dutzend säumten die Alkoven und zahlreiche umringten den Altar, sodass trotz der Dunkelheit des Abends alles in gespenstische Halbschatten getaucht war. Irgendwo über uns befanden sich all die Verzierungen und Fenster. Jetzt waren nur noch die groben,verzerrten Umrisse zu erkennen. Jeder fand seinen Platz. Wir Ordensbrüder, auf deren Waffenröcken das Kerzenlicht widerleuchtete. Die Klosterbrüder, die in ihren schwarzen Habiten fast im Kerzenschein untergingen.Sie trugen die Kapuze oben, sodass statt ihrer Gesichter nur Schatten zu erkennen waren. Für einen Augenblick bedauerte ich, mein Haupt nicht auch bedecken zu können. Dies war ein Moment, der nach jedem Zeichen von Demut verlangte. Die Klosterschwestern, schwarz-weiß und genau so bedeckt und formlos wie ihre Brüder. Vereinzelte Bewohner der Ordensburg bildeten den Rest der Versammlung. Alle schwiegen. Nachdem die letzten Schritte verhallt waren, blieb es still. Vater Gregor trat vor den Altar. Trotz des kargen Lichts war zu erkennen, dass er sein weißes Gewand gegen ein anderes getauscht haben musste.
„Brüder, Schwestern..“ sprach er. Ich hätte ein Raunen erwartet, weil er vom üblichen Latein abwich.Vielleicht war es hier Gang und Gebe? Seine Stimme war laut und fest.
„Der Graf liegt besiegt auf dem Feld. Raben picken seine sterblichen Hülle. Der Herr hat ihn zurück zu sich gerufen und ihn doch scheitern lassen. Warum? Während wir uns hier versammelt haben, ziehen sie bereits weiter. Sie sind Hass, Dunkelheit und Verzweiflung.“
Ich fühlte eine Gänsehaut auf meinen Armen. Der Pater war ein geschulter Redner.
„Sie sind angewidert von alledem, was wir verehren. Sie ziehen über die Gräber unserer Ahnen und die Felder, die uns ernähren. Sie schleifen die Mauern, die uns schützen und verachten die Gesetze, die uns binden.“
Er hielt kurz inne.Jeder konnte sehen, wie seine Fäuste sich ballten.
„Und jetzt haben sie den Herrn dieser Lande erschlagen. Er trug ihnen Kreuz und Stern entgegen und sie ließen nur Splitter und gebrochene Körper zurück.“
„Schande!“ rief jemand. Alle Köpfe drehten sich schlagartig,doch wer auch immer gesprochen hatte, war bereits wieder in der dunklen Masse untergegangen. Vater Gregor blieb ganz ruhig.
„Schande … ja … “ fuhr er leiser fort. „Es ist eine Schande. Unsere Schade! Die Schande dafür, dass wir vergaßen!“
Seine Stimme gewann wieder an Feuer.
„Wir haben vergessen, was uns früher zu Siegen über die Eindringlinge verhalf. Wir haben vergessen, was unseren Armen Kraft gibt und unsere Schilde stärkt. Wir haben vergessen, welches Erbe hier in uns ruht.“
Der Vorsteher atmete schwer. Seine letzten Worte waren ein Flüstern.
„Nie mehr!“
Er sank auf die Knie und hob seine Arme empor. Aus der ersten Reihe erhob sich einer der Klosterbrüder und begann zu singen.
Meine Augen weiteten sich. Welches Lied, in unserer vulgären Sprache, hörte ich da nur?Alle schwarz berobten Brüder erhoben sich ebenfalls und stimmten mit ein:
Das Hohelied Salomons? Nein … anders. Dann verstummten die Mönche und die versammelten Nonnen sangen stehend, wie zur Antwort:
Die Gänsehaut blieb auf meinen Armen. Trotz der Kälte in der Kirche, spürte ich Schweiß auf meinem Rücken. Natürlich hatte ich Frauen schon singen gehört. Aber hier, in der Dunkelheit und in Gottes Gegenwart hatte es etwas... verstörendes. Es gab auch immer wieder Bewegung in der dunklen Masse der Sänger und Sängerinnen, aber was sie taten war nicht zu erkennen. Die Stimmen schwankten und brachen, völlig anders die Choräle, die sonst durch diesen Raum hallten. Die nächste Strophe trugen alle zusammen.
„Er gebe mir Halt und mehr als Worte
mehr als den Duft der Öle und Glanz
tiefer als dass Gold der Prinzen
die Stärke dass Schwert zu fassen
zu heben gegen den Vater der Lügen“
Bevor wieder die Mönche allein den Gesang damit beendeten:
Die ganze Zeit hielt Pater Gregor seine Arme empor. Immer neue Lieder wurden gesungen, alle in der gemeinen Sprache der Bauern und Knechte. Pater Gregor erhob sich wieder und predigte, von Feuer und von Stahl. Er wusch sich die Hände mit Wein und Öl, segnete die Krone des toten Grafen mit dem Blut eines Heiligen und beschwor den nahen Kampf.
„Ein Stern brachte Männer einst zum Heiland, ein Stern wird uns zum Sieg führen. Bringt das alte Banner hervor und findet mein Schwert. Bald wird es soweit sein!“
Es ging immer weiter. Ich kann nicht sagen nach wie viel Stunden wir in unsere Schlafstätten zurückfielen, oder welche der Bilder von Klingen, nackter Haut und Schreien nur aus meinen Alpträumen kamen.
Am Morgen kam Hauptmann Karl zu mir. „Martin“, sagte er „ich habe dich ausgewählt, mich zu begleiten.“
„Begleiten, Herr? Wohin?“ Die Morgenmesse der Mönche konnte kaum vorüber sein. Was gab es jetzt schon zu tun?
„In die Katakomben der Burg. Du hast Bruder Georg gehört, oder? Wir werden das alte Banner der Ordensburg holen, sowie sein Schwert.“
„Ich verstehe nicht. Ist das so schwer?“
„Komm. Zieh deinen Waffenrock an und gurte dich fest. Ich erzähle es dir auf dem Weg.“
Noch immer perplex folgte ich ihm so schnell ich konnte, während ich Dolch und Parierschwert in meinem Gürteln verstaute.
„Der Ordnen kam vor vierzig Jahren in diese Gegend.“ fuhr der Hauptmann fort, als er mich aus den Schlafsälen zur zentralen Kirche führte. „Doch diese Burg ist um einiges älter. Hier und da sieht man es noch in der Außenmauer und den Türmen.“
„Und?“
„Pater Gregor ist ein Priester, kein Mann des Schwertes. Das war einmal anders.“
„Er ist eigentlich ein Ordensbruder?“
„Ja. Einst kämpfte er im heiligen Land. Als die Schlachten dort verloren gingen, legte er das Schwert ab.“
„Und er kam hierher, um mehr Ruhe zu finden? Die slawischen Heiden sind doch kaum friedlicher als die Seldschuken.“
Hauptmann Karl würgte meine Fragen mit einer Handbewegung ab.
„Frag den Pater im Zweifel selbst; und jetzt komm.“
Wir hatten die Kirche erreicht. Ihre vorzüglich gemeißelten Steine glänzten im Licht der Morgensonne und die roten Schindeln schienen zu lodern. Der Hauptmann führte mich einmal um das Gebäude herum, zum Eingang der Sakristei. Malthus, der Küster und zwei Gehilfen warteten bereits. Einer von ihnen hielt eine Fackel in der Hand, so dick wie mein rechter Arm und schwer mit geteertem Tuch umwickelt.
„Seid ihr zwei Brüder gekommen, um Banner und Schwert zu bergen?“ fragte Malthus, die Stimme ausgesprochen ernst.
„Jawohl, Vater.“ sagte Karl und beugte den Kopf kurz. Überrascht tat ich es ihm nach. Wieso diese Förmlichkeiten? Der Küster schlug ein Kreuz in die Luft und murmelte irgendwas auf Latein. Karl zog einen schweren Lederhandschuh über, bevor ihm ein Handlanger die Fackel reichte. Der Hauptmann wandte sich zu mir um.
„Martin, wann hast du das letzte Mal zum Herrn gebetet?“ Die Frage kam mir eigenartig vor.
„Gestern Nacht, mit allen zusammen, Herr.“ sagte ich.
„Vielleicht ist es Zeit für noch eins.“ Er zögerte. „Oder mehrere. Halt ein Gebet in deinem Herzen, während wir hinab steigen.“ Malthus war noch einmal zu uns gekommen. Er hielt einen Kelch in der Hand. Er bot ihn uns beiden an und ich nahm einen tiefen Schluck, war ich doch gerade erst erwacht. Karl winkte ab. „Bereit?“ fragte er.
Wir wurden in den rückwärtigen Bereich der Kirche geführt, vorbei an spärlichen Räumlichkeiten, in denen die lokalen Vorsteher lebten und hinter Schloss und Riegel die Reliquie verwahrten. Vor einer schweren Tür blieben wir stehen, während einer der Gehilfen sie aufschloss. Drei von uns waren nötig,um den Riegel zu heben. Schließlich entzündeten wir die Fackel. Erneut verbeugten sich der Küster und seine Helfer und wir wiederholten diese so unnötige Geste. Hauptmann Karl warf mir noch einen Blick zu, dann ging er voraus, den Fackel vorsichtig von sich gestreckt.
Wir gingen zunächst eine Wendeltreppe hinab, die zwar wenig benutzt, aber noch gut in Stand wirkte. Dreck und Staub hatten sich breit gemacht, doch die Luft wirkte nicht schlimmer als jeder Keller und alle paar Meter konnten wir in Pech getränkte Hölzer entzünden, die tief in steinernen Nischen platziert waren. Doch die Treppe ging immer weiter. Stein wich purem Fels und die Nischen verschwanden. Nach einiger Zeit – wie tief mochten wir jetzt gewesen sein? - wurden ihre Stufen wurden immer grober und die Decke tiefer. Die Luft wurde schwerer und lebloser, wie ich es in den leeren Grüften von Damaskus erlebt hatte. Die Stufen hatten aufgehört und es ging schachtartig geradeaus. Plötzlich blieb Hauptmann Karl stehen.
„Schau“ sagte er und leuchtete mit der Fackel zur Wand neben sich. Jemand, etwas, hatte den grauen Fels mit dunkler Farbe markiert. Zwei sich kreuzende Linien, fast wie unser heiliges Kreuz, doch mit zwei Ovalen links und rechts vom Querbalken, wie lauernde Augen in der Dunkelheit.
„Es ist das Zeichen, dass wir wachsam sind.“
„Hauptmann, was geht hier vor sich? Wo sind wir?“
„Wir sind erst den Hügel hinab und dann unter Tage gelaufen. Ich bin nicht sicher, wo wir jetzt sind.“
Bevor ich antworten konnte, war er schon weiter gegangen. Ein Wechsel in der Luft sagte mir, dass wir einen größeren Raum betreten hatten. Nein, dachte ich, als ich den rauhen Boden bedachte. Kein Raum, eine Höhle. Auch der Geruch von Staub, Verwesung und Erdreich war einem feuchterem, drückenderem gewichen.
Ich sah den Umriss von Hauptmann Karl vor mir. Hörte ihn murmeln, dass irgendwo hier etwas sein musste. Dann stieß er einen Stoßseufzer aus. Plötzlich loderte eine Stichflamme auf und ich wich zurück, die Hand auf meinem Schwert.
„Großer Gott, Karl, was war das?
„Ganz ruhig, Martin … es ist nur eine Feuergrube. Vater Georg hat mir geraten, nach ihr zu suchen.“
Er wandte sich zu mir um, das Gesicht rußig und verzerrt von den tanzenden Schatten.
„Jetzt müssen wir es nur noch suchen. Es ist hier irgendwo.“
Der unglaubliche Wahnsinn, zwei vergängliche Gegenstände hier zu verstecken, schien ihn nicht zu stören. „Leitet den Weg“, sagte ich resigniert.
Es dauerte nicht lange zu finden, was wir gesucht haben mussten. Mein Atem stockte mir in der Brust, als jede der kleinen Fackeln, die Karl entzündete, mehr von der Abscheulichkeit preisgab. Auf einem Altar von groben Sandstein, verziert nur mit den gröbsten Schlitzen und Furchen und nur bedeckt von einem Banner mit dem Emblem eines Drachen, ruhte ein Schwert. Meine Hand griff nach dem an meinem Gürtel. Hinter dem Altar ragte eine Statue empor. Nein, nicht eine, zwei. Die erste zeigte eindeutig einen Jüngling, wie er einen Stier die Kehle aufschlitzte Doch jemand hatte mit unglaublicher Kraft Teile der Statue zerbrochen. Über dieser Darstellung von Opfer und Tod, thronte das Ebenbild eines stehenden Mannes. Die linke Hand ausgestreckt und filigran, feiner als jede Statue, die ich je gesehen hatte. Jeder Muskel des Arms war sorgsam geformt. Gleichsam war jedes andere Detail; die vier Augen, der klaffende Mund mit den dutzenden Zähnen, die Haare aus Schlangenköpfen und die klaffende Wunde am Bauch.
Ich fand keine Worte, nur einen kehligen Laut der Abscheu, als ich mein Schwert zog um den faulen Götzen von dieser Welt zu tilgen.
Hauptmann Karls Schlag warf mich rücklings zu Boden. Mein Schwert landete in der Dunkelheit. Bevor ich verstand was geschehen war, drückte mich Karl mit seinem ganzen Gewicht nieder. Der schwere Handschuh drückte mir auf den Hals. Sein Gesicht war fast verloren in den Schatten.
„Du Narr! Verstehst du nicht, Martin? Dies ist unsere einzige Chance.“ Er zog mich an den Ohren empor und schleuderte mich zurück auf den Höhlenboden. Unter dem Schmerz begann sich alles zu drehen.
„Christus hat uns allein gelassen. Er ist zurück zum Vater und hat uns hier auf Erden zurück gelassen! Vom Osten und vom Süden her drängen die Mohammedaner, Heiden, selbst die völlig gottlosen Reiter auf uns ein. Und Christus lässt uns zurück.“
Er schrie wie ein wehleidiges Kind.
„Unser Vater kümmert sich nicht um uns!“ Mit einem Mal ließ er von mir ab und zog mich etwas hoch. Sein Gesicht war ganz nahe an meinem.
„Aber hier, hier, Martin … hier liegt unsere Hoffnung. Wie einst im heiligen Land hat sich Vater Georg einen Weg gesucht, siegreich zu sein … unser Herrgott mag sich nicht um uns kümmern und sein Sohn uns allein gelassen haben … aber ihr Widersacher gibt uns Kraft. Der König hat den Thron verlassen und lässt das Königreich auf Erden verfallen … doch sein ehemals treuster Diener steht zum Reich und steht zu den verlassenen Kindern. Steht zu uns, verstehst du? Nur Luzifer steht zu uns und dem Erdenreich.“
Abscheu gab mir Kraft und ich schlug mit meinem Kopf aus. Wieder umfing mich Schmerz und etwas festes hielt mich auf dem Grund nieder.
Karl fuhr fort, als sei nichts geschehen, voller Inbrunst und kindlicher Freude.
„Jenseits vom rechten Pfand gibt es noch einen … den linken Pfad … den Pfad zum Sieg.“
Schritte ließen mich glauben, dass er sich von mir entfernte.
„Und du Martin … du wirst der Schlüssel zu unserem Sieg sein. Hier …“
Plötzlich war er wieder über mir. Jede Faser meines Körpers sträubte sich, doch ich konnte keinen Muskel bewegen. Trotz des spärlichen Lichts glaubte ich seine weit geöffneten Augen sehen zu können. Sie waren völlig schwarz.
Hände zwangen meinen Kiefer auseinander. Aus Karls Mund schien eine Flüssigkeit in meinen zu tropfen. Ich versuchte mich erneut zu winden, zu kämpfen, doch am Ende konnte ich nichts tun, außer zu schlucken. Ich wollte noch nicht sterben. Dunkelheit umschloss mich, ließ mich mit Karls letztem Schrei allein:
„Baphometh!“
Was dann geschah, ist die Frage die mich noch immer herumtreibt, obwohl Jahre ins Land gegangen sind.
Ich erinnere mich, wie ich durch rote Nebelwolken strich, durch schwarze Täler und über Gebirge aus Eis und durch Flüsse aus Feuer wanderte. Wie sich Schatten versuchten auf mich zu stürzen und ich sie alle niederrang, weil etwas mit mir war. Ich trug das schreckliche Banner auf dieser langen Reise durch Dunkelheit und Wälder aus Knochen, bis ich schließlich erwachte.
Ich erwachte im Sattel, auf einem Schlachtfeld von ungeheurem Ausmaße. Nicht weit entfernt konnte ich die Ordensburg sehen. Was war geschehen? Mein ganzer Körper schmerzte, mein Kopf pochte und mein Herz schien sich durch meine Brust drücken zu wollen. Ich griff mit einer Hand die Zügel fester, um nicht von meinem Pferd zu stürzen. Wie war ich hierher gekommen? Hunderte, nein, tausende mussten hier ihr Leben gelassen haben. Ich sah die Körper von Ordensbrüdern, ihre weißen Überwürfe blutig und zerfetzt. Bauernvolk, einfache Soldaten, Ritter jeder Art, liegend wo sie gefallen waren.
„Martin!“ rief jemand und ich fuhr herum.
„Siehe, der Sieg ist unser! Sie fliehen! Der Herr sei gepriesen!“
Es war Vater Georg. In einer blutroten Tunika, über einen Kettenpanzer geworfen und in der Hand jenes schreckliche Schwert, das ich geholt haben musste. Mein Blick fiel auf die Lanze, die ich in meiner freien Hand hielt. An ihr befestigt, zerissen, aber noch immer zu erkennen, hing das Drachenbanner.
Ich würdigte ihn und niemanden sonst eines Blickes, sondern drehte mein Pferd herum und ritt auf die Burg zu. Karl und ich mussten es geschafft, es getan haben. Aber zu welchem Preis? Was war passiert?
Ich ließ die Toten, unser Heer und die fliehenden Heiden hinter mir. Man ließ mich ohne Probleme hinein und half mir vom Pferd, doch ich ließ alles und jeden stehen und rannte so schnell mich mein gebrochener Körper ließ zur Sakristei. Mit der gepanzerten Hand pochte ich gegen die Tür, bis Malthus mir öffnete.
„Martin? Was ist geschehen? Ich hörte Jubel, haben wir gesiegt?“ Ich stieß ihn beseite. Im nu stand ich vor der Tür, die mich in den Alptraum geführt hatte. Über Malthus Rufe hinweg riss ich sie auf. Nichts als ein Abort befand sich dahinter.
Ich sank auf die Knie, alle Stärke von mir gewichen. Ich weinte und schrie und flehte zum ersten Mal zu Gott, dass er mir offenbaren möge, was geschehen war. Doch ich bekam dann, wie jedes mal über all diese Jahre hinweg, nur Stille.
Erlösung
Selbstverständlich erinnere ich mich noch an das erste Mal, als ich die alte Ordensburg am Horizont erblickte. Rotbraun, fast rostfarben stand sie auf dem einzigen Hügel in dieser flachen Landschaft. Sie lag schwer auf der Erhebung, als wäre sie auf Lehmboden gebaut und würde immer weiter in den Morast sinken. Aus den schwindenden Wäldern, die Holz für all ihre Kamine lieferten, liefen vielleicht ein Dutzend Wege auf sie zu. Karren mit Waren für den Markt strömten auf sie zu, leere rollten von ihr weg. Männer zu Pferde mit Bannern und Lanzen griffbereit ritten uns immer wieder entgegen. Alles in dieser entlegenen Ecke des Reichs sammelte sich um die Burg und jeder Bauer blickte zu ihr für Sold und Schutz, ganz wie es sein sollte. Ich konnte nicht widerstehen, mich wieder ein kleiner Junge zu fühlen. Für einen Moment vergaß ich, dass es einen Grund für unser Kommen gab.
Die roten Mauern ragten vielleicht sechs Meter empor und wirkten sehr breit. Scharten und kleinere Türme zeigten sich in geregelten Abständen und überall war geschäftiges Treiben. Banner mit dem schwarzen Kreuz des Ordens hingen für alle sichtbar aus. Unter den wachsamen Augen Bewaffneter passierten wir zwei Torhäuser. Etwas jedoch fiel mir sofort ins Auge: Anders als in den Burgen, in denen ich bisher gedient und mein Tagwerk erlernt hatte, gab es keinen Bergfried. Stattdessen erinnerte mich das gesamte Innenareal mehr an ein Kloster als eine Burg, nicht nur weil ich mehr Brüder im Habit als sonst hinter solchen Mauern sah.
Unser Konvoi wurde freudig empfangen. Anstatt eines pompösen Hausvogtes, mit deren Sorte ich schon Bekanntschaft gemacht hatte, trat uns einer der Mönche entgegen. Wie viele seiner Art war er untersetzt und breit, gezeichnet von einem Leben, in dem die harte Arbeit von Novizen gemacht wurde. Trotzdem gab er freundliche, bestimmte Anweisungen wo wir und unsere Mitbringsel zu verwahren seien. Ich sah keine Furcht in den Augen der Klosterbrüder. Die Ruhe, mit der sie ihrem Werk nachgingen, verunsicherte und beruhigte mich zugleich.
So lebte man sich ein. Wir erkundeten in freien Momenten die Burg und ihre Ländereien, doch befassten uns die meiste Zeit hinweg mit der dankbaren Aufgabe, alle freien Bauern und das bewaffnete Fußvolk zu unterrichten. Noch einige Tage vor unserer Ankunft hatten wir zum Tross des Grafen gehört, auf dem Weg in den Krieg. Doch die schiere Zahl der Feinde machte es nötig so viel kampfbereite Männer wie möglich zu haben. Es war harte, aber notwendige Arbeit und wir erfreuten uns daran, unseren Teil zu tun, bevor es zur Schlacht kam. Niemand, außer den Verrückten, sehnte Kampf und Tod herbei. Die Burg stiftete mit ihrer schieren Masse Ruhe. Sicher, jede Festung ließ sich aushungern und irgendwann bezwingen, aber trotzdem versprach sie ebenso Sicherheit, wie es unser Wappen tat. Obwohl ich auch andere Banner sah, bestickt mit Drachen von ein oder auch zwei Köpfen. Vielleicht waren sie dem heiligen Georg gewidmet, schließlich trug der Kirchenvater hier ebenso seinen Namen.
Die Leiden begannen eine Woche später. Nur wir Ritter waren im Refektorium der Mönche versammelt. Ein Mann stürzte herein, die Kleidung in Fetzen und voller Blut. Vor dem hohen Tisch sank er auf die Knie und sprach die schweren Worte: „Die Schlacht ging verloren. Der Graf ist tot!“
An diesem Abend trafen wir alle in der Kapelle zusammen. Seit meiner zaghaften Erkundung am ersten Tag war ich nicht mehr dort gewesen. Jede verfügbare Kerze schien herbeigeholt worden zu sein. Zwei Reihen von ihnen bildeten einen Gang durch das Kirchenschiff. Vielleicht ein Dutzend säumten die Alkoven und zahlreiche umringten den Altar, sodass trotz der Dunkelheit des Abends alles in gespenstische Halbschatten getaucht war. Irgendwo über uns befanden sich all die Verzierungen und Fenster. Jetzt waren nur noch die groben,verzerrten Umrisse zu erkennen. Jeder fand seinen Platz. Wir Ordensbrüder, auf deren Waffenröcken das Kerzenlicht widerleuchtete. Die Klosterbrüder, die in ihren schwarzen Habiten fast im Kerzenschein untergingen.Sie trugen die Kapuze oben, sodass statt ihrer Gesichter nur Schatten zu erkennen waren. Für einen Augenblick bedauerte ich, mein Haupt nicht auch bedecken zu können. Dies war ein Moment, der nach jedem Zeichen von Demut verlangte. Die Klosterschwestern, schwarz-weiß und genau so bedeckt und formlos wie ihre Brüder. Vereinzelte Bewohner der Ordensburg bildeten den Rest der Versammlung. Alle schwiegen. Nachdem die letzten Schritte verhallt waren, blieb es still. Vater Gregor trat vor den Altar. Trotz des kargen Lichts war zu erkennen, dass er sein weißes Gewand gegen ein anderes getauscht haben musste.
„Brüder, Schwestern..“ sprach er. Ich hätte ein Raunen erwartet, weil er vom üblichen Latein abwich.Vielleicht war es hier Gang und Gebe? Seine Stimme war laut und fest.
„Der Graf liegt besiegt auf dem Feld. Raben picken seine sterblichen Hülle. Der Herr hat ihn zurück zu sich gerufen und ihn doch scheitern lassen. Warum? Während wir uns hier versammelt haben, ziehen sie bereits weiter. Sie sind Hass, Dunkelheit und Verzweiflung.“
Ich fühlte eine Gänsehaut auf meinen Armen. Der Pater war ein geschulter Redner.
„Sie sind angewidert von alledem, was wir verehren. Sie ziehen über die Gräber unserer Ahnen und die Felder, die uns ernähren. Sie schleifen die Mauern, die uns schützen und verachten die Gesetze, die uns binden.“
Er hielt kurz inne.Jeder konnte sehen, wie seine Fäuste sich ballten.
„Und jetzt haben sie den Herrn dieser Lande erschlagen. Er trug ihnen Kreuz und Stern entgegen und sie ließen nur Splitter und gebrochene Körper zurück.“
„Schande!“ rief jemand. Alle Köpfe drehten sich schlagartig,doch wer auch immer gesprochen hatte, war bereits wieder in der dunklen Masse untergegangen. Vater Gregor blieb ganz ruhig.
„Schande … ja … “ fuhr er leiser fort. „Es ist eine Schande. Unsere Schade! Die Schande dafür, dass wir vergaßen!“
Seine Stimme gewann wieder an Feuer.
„Wir haben vergessen, was uns früher zu Siegen über die Eindringlinge verhalf. Wir haben vergessen, was unseren Armen Kraft gibt und unsere Schilde stärkt. Wir haben vergessen, welches Erbe hier in uns ruht.“
Der Vorsteher atmete schwer. Seine letzten Worte waren ein Flüstern.
„Nie mehr!“
Er sank auf die Knie und hob seine Arme empor. Aus der ersten Reihe erhob sich einer der Klosterbrüder und begann zu singen.
Meine Augen weiteten sich. Welches Lied, in unserer vulgären Sprache, hörte ich da nur?Alle schwarz berobten Brüder erhoben sich ebenfalls und stimmten mit ein:
„Er liebkose mich mit den Trank seiner Lippen
gib mir mehr als nur deine Worte
geb mir mehr als den Duft guter Öle
in denen sich dein Name verbirgt
unter dem Geflüster der Mädchen“
gib mir mehr als nur deine Worte
geb mir mehr als den Duft guter Öle
in denen sich dein Name verbirgt
unter dem Geflüster der Mädchen“
Das Hohelied Salomons? Nein … anders. Dann verstummten die Mönche und die versammelten Nonnen sangen stehend, wie zur Antwort:
„Ziehe mich in deinen Bann
Bringst du uns, König der Könige in dein Gemach
erheben wir alle die Stimme vor Glück
gib uns von deinem Wein und deinen Worten:
Unsere Verehrung ist geradeaus.
Anmutig und Schwarz wir sind
die Töchter Jerusalems
die Zierden deines Tempels, die Gehänge des Königs
doch verberge für Andere
dass ich eine Geschwärzte bin
auf dass mich die Sonne nicht senge
und meine Brüder nicht mit mir brennen
denn wir sind die Hüter deiner Flügel
und hüten unsre eigenen Flügel nicht
sondern spreizen sie für unsre Brüder“
Bringst du uns, König der Könige in dein Gemach
erheben wir alle die Stimme vor Glück
gib uns von deinem Wein und deinen Worten:
Unsere Verehrung ist geradeaus.
Anmutig und Schwarz wir sind
die Töchter Jerusalems
die Zierden deines Tempels, die Gehänge des Königs
doch verberge für Andere
dass ich eine Geschwärzte bin
auf dass mich die Sonne nicht senge
und meine Brüder nicht mit mir brennen
denn wir sind die Hüter deiner Flügel
und hüten unsre eigenen Flügel nicht
sondern spreizen sie für unsre Brüder“
Die Gänsehaut blieb auf meinen Armen. Trotz der Kälte in der Kirche, spürte ich Schweiß auf meinem Rücken. Natürlich hatte ich Frauen schon singen gehört. Aber hier, in der Dunkelheit und in Gottes Gegenwart hatte es etwas... verstörendes. Es gab auch immer wieder Bewegung in der dunklen Masse der Sänger und Sängerinnen, aber was sie taten war nicht zu erkennen. Die Stimmen schwankten und brachen, völlig anders die Choräle, die sonst durch diesen Raum hallten. Die nächste Strophe trugen alle zusammen.
„Er gebe mir Halt und mehr als Worte
mehr als den Duft der Öle und Glanz
tiefer als dass Gold der Prinzen
die Stärke dass Schwert zu fassen
zu heben gegen den Vater der Lügen“
Bevor wieder die Mönche allein den Gesang damit beendeten:
Ziehe mich in deinen Bann
Bringst du uns, König der Könige, an dein Herz
erheben wir alle die Stimme vor Glück
Gib uns Wein und mehr als Worte
für unsre Verehrung aufrecht;
deiner anmutigen Schwärze
und die Töchter Jerusalems
hänge sie zwischen uns, Zierden des Tempels
lass sie nicht verbergen
dass sie Geschwärzte sind
und wir unter der Sonne
sie teilen als Brüder
denn dein sind ihre Flügel
sonst stets wachsam verborgen
doch für uns Brüder gespreizt“
Bringst du uns, König der Könige, an dein Herz
erheben wir alle die Stimme vor Glück
Gib uns Wein und mehr als Worte
für unsre Verehrung aufrecht;
deiner anmutigen Schwärze
und die Töchter Jerusalems
hänge sie zwischen uns, Zierden des Tempels
lass sie nicht verbergen
dass sie Geschwärzte sind
und wir unter der Sonne
sie teilen als Brüder
denn dein sind ihre Flügel
sonst stets wachsam verborgen
doch für uns Brüder gespreizt“
Die ganze Zeit hielt Pater Gregor seine Arme empor. Immer neue Lieder wurden gesungen, alle in der gemeinen Sprache der Bauern und Knechte. Pater Gregor erhob sich wieder und predigte, von Feuer und von Stahl. Er wusch sich die Hände mit Wein und Öl, segnete die Krone des toten Grafen mit dem Blut eines Heiligen und beschwor den nahen Kampf.
„Ein Stern brachte Männer einst zum Heiland, ein Stern wird uns zum Sieg führen. Bringt das alte Banner hervor und findet mein Schwert. Bald wird es soweit sein!“
Es ging immer weiter. Ich kann nicht sagen nach wie viel Stunden wir in unsere Schlafstätten zurückfielen, oder welche der Bilder von Klingen, nackter Haut und Schreien nur aus meinen Alpträumen kamen.
Am Morgen kam Hauptmann Karl zu mir. „Martin“, sagte er „ich habe dich ausgewählt, mich zu begleiten.“
„Begleiten, Herr? Wohin?“ Die Morgenmesse der Mönche konnte kaum vorüber sein. Was gab es jetzt schon zu tun?
„In die Katakomben der Burg. Du hast Bruder Georg gehört, oder? Wir werden das alte Banner der Ordensburg holen, sowie sein Schwert.“
„Ich verstehe nicht. Ist das so schwer?“
„Komm. Zieh deinen Waffenrock an und gurte dich fest. Ich erzähle es dir auf dem Weg.“
Noch immer perplex folgte ich ihm so schnell ich konnte, während ich Dolch und Parierschwert in meinem Gürteln verstaute.
„Der Ordnen kam vor vierzig Jahren in diese Gegend.“ fuhr der Hauptmann fort, als er mich aus den Schlafsälen zur zentralen Kirche führte. „Doch diese Burg ist um einiges älter. Hier und da sieht man es noch in der Außenmauer und den Türmen.“
„Und?“
„Pater Gregor ist ein Priester, kein Mann des Schwertes. Das war einmal anders.“
„Er ist eigentlich ein Ordensbruder?“
„Ja. Einst kämpfte er im heiligen Land. Als die Schlachten dort verloren gingen, legte er das Schwert ab.“
„Und er kam hierher, um mehr Ruhe zu finden? Die slawischen Heiden sind doch kaum friedlicher als die Seldschuken.“
Hauptmann Karl würgte meine Fragen mit einer Handbewegung ab.
„Frag den Pater im Zweifel selbst; und jetzt komm.“
Wir hatten die Kirche erreicht. Ihre vorzüglich gemeißelten Steine glänzten im Licht der Morgensonne und die roten Schindeln schienen zu lodern. Der Hauptmann führte mich einmal um das Gebäude herum, zum Eingang der Sakristei. Malthus, der Küster und zwei Gehilfen warteten bereits. Einer von ihnen hielt eine Fackel in der Hand, so dick wie mein rechter Arm und schwer mit geteertem Tuch umwickelt.
„Seid ihr zwei Brüder gekommen, um Banner und Schwert zu bergen?“ fragte Malthus, die Stimme ausgesprochen ernst.
„Jawohl, Vater.“ sagte Karl und beugte den Kopf kurz. Überrascht tat ich es ihm nach. Wieso diese Förmlichkeiten? Der Küster schlug ein Kreuz in die Luft und murmelte irgendwas auf Latein. Karl zog einen schweren Lederhandschuh über, bevor ihm ein Handlanger die Fackel reichte. Der Hauptmann wandte sich zu mir um.
„Martin, wann hast du das letzte Mal zum Herrn gebetet?“ Die Frage kam mir eigenartig vor.
„Gestern Nacht, mit allen zusammen, Herr.“ sagte ich.
„Vielleicht ist es Zeit für noch eins.“ Er zögerte. „Oder mehrere. Halt ein Gebet in deinem Herzen, während wir hinab steigen.“ Malthus war noch einmal zu uns gekommen. Er hielt einen Kelch in der Hand. Er bot ihn uns beiden an und ich nahm einen tiefen Schluck, war ich doch gerade erst erwacht. Karl winkte ab. „Bereit?“ fragte er.
Wir wurden in den rückwärtigen Bereich der Kirche geführt, vorbei an spärlichen Räumlichkeiten, in denen die lokalen Vorsteher lebten und hinter Schloss und Riegel die Reliquie verwahrten. Vor einer schweren Tür blieben wir stehen, während einer der Gehilfen sie aufschloss. Drei von uns waren nötig,um den Riegel zu heben. Schließlich entzündeten wir die Fackel. Erneut verbeugten sich der Küster und seine Helfer und wir wiederholten diese so unnötige Geste. Hauptmann Karl warf mir noch einen Blick zu, dann ging er voraus, den Fackel vorsichtig von sich gestreckt.
Wir gingen zunächst eine Wendeltreppe hinab, die zwar wenig benutzt, aber noch gut in Stand wirkte. Dreck und Staub hatten sich breit gemacht, doch die Luft wirkte nicht schlimmer als jeder Keller und alle paar Meter konnten wir in Pech getränkte Hölzer entzünden, die tief in steinernen Nischen platziert waren. Doch die Treppe ging immer weiter. Stein wich purem Fels und die Nischen verschwanden. Nach einiger Zeit – wie tief mochten wir jetzt gewesen sein? - wurden ihre Stufen wurden immer grober und die Decke tiefer. Die Luft wurde schwerer und lebloser, wie ich es in den leeren Grüften von Damaskus erlebt hatte. Die Stufen hatten aufgehört und es ging schachtartig geradeaus. Plötzlich blieb Hauptmann Karl stehen.
„Schau“ sagte er und leuchtete mit der Fackel zur Wand neben sich. Jemand, etwas, hatte den grauen Fels mit dunkler Farbe markiert. Zwei sich kreuzende Linien, fast wie unser heiliges Kreuz, doch mit zwei Ovalen links und rechts vom Querbalken, wie lauernde Augen in der Dunkelheit.
„Es ist das Zeichen, dass wir wachsam sind.“
„Hauptmann, was geht hier vor sich? Wo sind wir?“
„Wir sind erst den Hügel hinab und dann unter Tage gelaufen. Ich bin nicht sicher, wo wir jetzt sind.“
Bevor ich antworten konnte, war er schon weiter gegangen. Ein Wechsel in der Luft sagte mir, dass wir einen größeren Raum betreten hatten. Nein, dachte ich, als ich den rauhen Boden bedachte. Kein Raum, eine Höhle. Auch der Geruch von Staub, Verwesung und Erdreich war einem feuchterem, drückenderem gewichen.
Ich sah den Umriss von Hauptmann Karl vor mir. Hörte ihn murmeln, dass irgendwo hier etwas sein musste. Dann stieß er einen Stoßseufzer aus. Plötzlich loderte eine Stichflamme auf und ich wich zurück, die Hand auf meinem Schwert.
„Großer Gott, Karl, was war das?
„Ganz ruhig, Martin … es ist nur eine Feuergrube. Vater Georg hat mir geraten, nach ihr zu suchen.“
Er wandte sich zu mir um, das Gesicht rußig und verzerrt von den tanzenden Schatten.
„Jetzt müssen wir es nur noch suchen. Es ist hier irgendwo.“
Der unglaubliche Wahnsinn, zwei vergängliche Gegenstände hier zu verstecken, schien ihn nicht zu stören. „Leitet den Weg“, sagte ich resigniert.
Es dauerte nicht lange zu finden, was wir gesucht haben mussten. Mein Atem stockte mir in der Brust, als jede der kleinen Fackeln, die Karl entzündete, mehr von der Abscheulichkeit preisgab. Auf einem Altar von groben Sandstein, verziert nur mit den gröbsten Schlitzen und Furchen und nur bedeckt von einem Banner mit dem Emblem eines Drachen, ruhte ein Schwert. Meine Hand griff nach dem an meinem Gürtel. Hinter dem Altar ragte eine Statue empor. Nein, nicht eine, zwei. Die erste zeigte eindeutig einen Jüngling, wie er einen Stier die Kehle aufschlitzte Doch jemand hatte mit unglaublicher Kraft Teile der Statue zerbrochen. Über dieser Darstellung von Opfer und Tod, thronte das Ebenbild eines stehenden Mannes. Die linke Hand ausgestreckt und filigran, feiner als jede Statue, die ich je gesehen hatte. Jeder Muskel des Arms war sorgsam geformt. Gleichsam war jedes andere Detail; die vier Augen, der klaffende Mund mit den dutzenden Zähnen, die Haare aus Schlangenköpfen und die klaffende Wunde am Bauch.
Ich fand keine Worte, nur einen kehligen Laut der Abscheu, als ich mein Schwert zog um den faulen Götzen von dieser Welt zu tilgen.
Hauptmann Karls Schlag warf mich rücklings zu Boden. Mein Schwert landete in der Dunkelheit. Bevor ich verstand was geschehen war, drückte mich Karl mit seinem ganzen Gewicht nieder. Der schwere Handschuh drückte mir auf den Hals. Sein Gesicht war fast verloren in den Schatten.
„Du Narr! Verstehst du nicht, Martin? Dies ist unsere einzige Chance.“ Er zog mich an den Ohren empor und schleuderte mich zurück auf den Höhlenboden. Unter dem Schmerz begann sich alles zu drehen.
„Christus hat uns allein gelassen. Er ist zurück zum Vater und hat uns hier auf Erden zurück gelassen! Vom Osten und vom Süden her drängen die Mohammedaner, Heiden, selbst die völlig gottlosen Reiter auf uns ein. Und Christus lässt uns zurück.“
Er schrie wie ein wehleidiges Kind.
„Unser Vater kümmert sich nicht um uns!“ Mit einem Mal ließ er von mir ab und zog mich etwas hoch. Sein Gesicht war ganz nahe an meinem.
„Aber hier, hier, Martin … hier liegt unsere Hoffnung. Wie einst im heiligen Land hat sich Vater Georg einen Weg gesucht, siegreich zu sein … unser Herrgott mag sich nicht um uns kümmern und sein Sohn uns allein gelassen haben … aber ihr Widersacher gibt uns Kraft. Der König hat den Thron verlassen und lässt das Königreich auf Erden verfallen … doch sein ehemals treuster Diener steht zum Reich und steht zu den verlassenen Kindern. Steht zu uns, verstehst du? Nur Luzifer steht zu uns und dem Erdenreich.“
Abscheu gab mir Kraft und ich schlug mit meinem Kopf aus. Wieder umfing mich Schmerz und etwas festes hielt mich auf dem Grund nieder.
Karl fuhr fort, als sei nichts geschehen, voller Inbrunst und kindlicher Freude.
„Jenseits vom rechten Pfand gibt es noch einen … den linken Pfad … den Pfad zum Sieg.“
Schritte ließen mich glauben, dass er sich von mir entfernte.
„Und du Martin … du wirst der Schlüssel zu unserem Sieg sein. Hier …“
Plötzlich war er wieder über mir. Jede Faser meines Körpers sträubte sich, doch ich konnte keinen Muskel bewegen. Trotz des spärlichen Lichts glaubte ich seine weit geöffneten Augen sehen zu können. Sie waren völlig schwarz.
Hände zwangen meinen Kiefer auseinander. Aus Karls Mund schien eine Flüssigkeit in meinen zu tropfen. Ich versuchte mich erneut zu winden, zu kämpfen, doch am Ende konnte ich nichts tun, außer zu schlucken. Ich wollte noch nicht sterben. Dunkelheit umschloss mich, ließ mich mit Karls letztem Schrei allein:
„Baphometh!“
Was dann geschah, ist die Frage die mich noch immer herumtreibt, obwohl Jahre ins Land gegangen sind.
Ich erinnere mich, wie ich durch rote Nebelwolken strich, durch schwarze Täler und über Gebirge aus Eis und durch Flüsse aus Feuer wanderte. Wie sich Schatten versuchten auf mich zu stürzen und ich sie alle niederrang, weil etwas mit mir war. Ich trug das schreckliche Banner auf dieser langen Reise durch Dunkelheit und Wälder aus Knochen, bis ich schließlich erwachte.
Ich erwachte im Sattel, auf einem Schlachtfeld von ungeheurem Ausmaße. Nicht weit entfernt konnte ich die Ordensburg sehen. Was war geschehen? Mein ganzer Körper schmerzte, mein Kopf pochte und mein Herz schien sich durch meine Brust drücken zu wollen. Ich griff mit einer Hand die Zügel fester, um nicht von meinem Pferd zu stürzen. Wie war ich hierher gekommen? Hunderte, nein, tausende mussten hier ihr Leben gelassen haben. Ich sah die Körper von Ordensbrüdern, ihre weißen Überwürfe blutig und zerfetzt. Bauernvolk, einfache Soldaten, Ritter jeder Art, liegend wo sie gefallen waren.
„Martin!“ rief jemand und ich fuhr herum.
„Siehe, der Sieg ist unser! Sie fliehen! Der Herr sei gepriesen!“
Es war Vater Georg. In einer blutroten Tunika, über einen Kettenpanzer geworfen und in der Hand jenes schreckliche Schwert, das ich geholt haben musste. Mein Blick fiel auf die Lanze, die ich in meiner freien Hand hielt. An ihr befestigt, zerissen, aber noch immer zu erkennen, hing das Drachenbanner.
Ich würdigte ihn und niemanden sonst eines Blickes, sondern drehte mein Pferd herum und ritt auf die Burg zu. Karl und ich mussten es geschafft, es getan haben. Aber zu welchem Preis? Was war passiert?
Ich ließ die Toten, unser Heer und die fliehenden Heiden hinter mir. Man ließ mich ohne Probleme hinein und half mir vom Pferd, doch ich ließ alles und jeden stehen und rannte so schnell mich mein gebrochener Körper ließ zur Sakristei. Mit der gepanzerten Hand pochte ich gegen die Tür, bis Malthus mir öffnete.
„Martin? Was ist geschehen? Ich hörte Jubel, haben wir gesiegt?“ Ich stieß ihn beseite. Im nu stand ich vor der Tür, die mich in den Alptraum geführt hatte. Über Malthus Rufe hinweg riss ich sie auf. Nichts als ein Abort befand sich dahinter.
Ich sank auf die Knie, alle Stärke von mir gewichen. Ich weinte und schrie und flehte zum ersten Mal zu Gott, dass er mir offenbaren möge, was geschehen war. Doch ich bekam dann, wie jedes mal über all diese Jahre hinweg, nur Stille.