Alltagshelden

Chinasky

Dirty old man
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01.10.1999
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Ich weiß nicht, wie es Euch geht: Aber immer wieder einmal erlebe ich im Alltag, wie andere Leute sich irgendwie... Nun ja: löblich verhalten. Während man, um auch ja alle Klischees zu erfüllen, sofort loszuschimpfen gewohnt ist, sobald sich Leute dusselig, nervig, egoistisch, störrisch... verhalten, hab ich für Momente, in denen sie das Gegenteil tun, noch keine Standardreaktion gefunden. Soll man sie direkt darauf ansprechen? Ist das nicht irgendwie komisch, kommt das nicht peinlich rüber?
Naja, ich hab mir zumindest vorgenommen, mal etwas genauer darauf zu achten, wo sich die Leute im Alltag gut, vorbildlich, fair, freundlich, hilfsbereit verhalten oder einfach nur einen guten Job hinlegen, für den sie normalerweise wahrscheinlich nicht mal'nen anerkennenden Klaps auf die Schulter kriegen. Und vielleicht findet Ihr in Eurem Alltag ähnliche Begebenheiten, wo sich Eure Mitmenschen einfach löblich verhalten.

Mal zwei völlig unterschiedliche Beispiele von mir.
Beispiel 1: Bürokratie.
Nachdem ich Ende letzten Jahres gekündigt wurde aus meinem Illustratorenjob, fand ich mich als "normaler Arbeitsloser" wieder. Für mich neu, denn früher hatte ich immer als freier, selbständiger Künstler gearbeitet. Aber jetzt kriegte ich haufenweise Post vom Arbeitsamt, von den Versicherungen usw. Im Gespräch mit meiner zuständigen Sachbearbeiterin hier im Arbeitsamt (oder Arbeits-Center oder wie sich das grad schimpft) wurden wir uns beide recht schnell einig, daß Festanstellungen in dem Metier, in welchem ich arbeite, sehr, sehr selten sind und in meiner Umgebung praktisch nicht vorkommen. Illustratoren/Künstler arbeiten freiberuflich (Freelancer). Tja, was tun? Sollte ich, um berechtigermaßen mein Arbeitslosengeld einzustreichen, monatlich so und soviele Bewerbungen für Stellen schreiben, die ich eh nicht bekommen würde - nur, um den bürokratischen Anforderungen gerecht zu werden?
Viel sinnvoller war es, daß ich mich wieder selbständig machte. Mein "Arbeitslosengeld" würde mir dann inform eines Gründerzuschusses ausgezahlt. Soweit, so normal. Aaaaber: Rechtlich standen dem die Anforderungen, die für die Gewährung eines Gründerzuschusses gestellt wurden, entgegen. Man mußte nachweisen, an einem Existenzgründer-Seminar teilgenommen zu haben (kostenpflichtig), man mußte einen Geschäftsplan abliefern, man mußte sein Business-Konzept von den örtlichen Kammern absegnen lassen usw. Naja, alles machbar - aber da ich familiäre Verpflichtungen hatte und weil es schon kurz vor Jahresende war, nicht sofort. Ob ich das Erfüllen der ganzen Voraussetzungen nicht erst in den Januar verschieben könne, wollte ich wissen. Und ja, das ging. Aaaber...

Intern hatte meine Sachbearbeiterin gehört, daß sich die Gesetze demnächst ändern sollten. Höhere, strengere Anforderungen für die Gewährung eines Gründungszuschusses wurden erwartet, und außerdem eine Art Quote, über die hinaus die Stadt/der Bezirk keine weiteren Gründunszuschußbewilligungen geben dürfe. Es sei noch nicht sicher, aber sie habe da so etwas aufgeschnappt...
So schlug sie mir vor, ich solle mich zum letzten Werktag im Dezember als Freiberufler beim Finanzamt melden - damit also die "alten" Vorschriften für mich noch Gültigkeit hätten, falls im neuen Jahr die gesetzlichen Änderungen einträten, von denen sie "so ein Gerücht gehört" habe.
Diese Sachbearbeiterin machte ihren Job so, wie es Sinn machte: Sie war davon überzeugt, daß die Selbständigkeit für mich die beste Option sei, und deswegen berichtete sie mir von der anstehenden Gesetzesänderung, obwohl sie dazu wohl eigentlich nicht befugt war. Sie tat das auch eine augenzwinkernd legale Weise, indem sie etwas von Gerüchten, daß sich etwas ändern könnte berichtete - so vage, daß man ihr, falls jemand böswillig gewesen wäre und sie wegen der Verletzung irgendwelcher Dienstpflichten vor Gericht gezerrt hätte, nichts Eindeutiges hätte nachweisen können. Aber ich verstand und sie verstand, daß ich verstand... Und so lief es rund. Ich meldete mich zum 30 Dezember als Freiberufler im Finanzamt an - und gut.

Dachte ich. Als ich nach meinem Familienbesuch über die Feiertage wieder daheim war, fand ich mehrere, immer dringlichere Anrufe dieser Sachbearbeiterin auf meinem AB: Die Gerüchte hatten sich als wahr herausgestellt, die neuen, wesentlich rigideren Regelungen waren inkraft getreten. Aber nicht erst im Neuen Jahr, sondern am 28. Dezember, also zwischen den Feiertagen. Tja, kalt erwischt! Nun hatte ich es inzwischen vom Finanzamt schwarz auf weiß, daß ich mich 2 Tage zu spät selbständig gemeldet hatte - und die Bewilligung des Gründerzuschusses (dessen Konditionen, selbst für den Fall der Bewilligung, inzwischen schlechter waren) wahr eher unwahrscheinlich. Ich sprach diesbezüglich mit meiner Sachbearbeiterin, und sie empfahl mir, doch mal "mit denen im Finanzamt" zu sprechen, ob man sich da nicht auf einen Datierungsfehler einigen, der mit wenig Aufwand behoben werden könne? Es müsse nur jetzt wirklich ziemlich fix gehen... Also rief ich beim Finanzamt an, es war später Freitagvormittag... Der Sachbearbeiter war nicht erreichbar, eventuell auch schon ausser Haus...
Ich rufe wieder meine Arbeitsamt-Dame an. Sie schlägt vor: "Fahren Sie da doch einfach mal vorbei und schauen Sie, ob sie noch jemanden auf den Fluren erwischen!"
Also setzte ich mich auf's Rad, fuhr zum Finanzamt, kurz vor zwölf... Fragte mich durch, wurde von einem Sachbearbeiter zum nächsten geschickt, bis ich dann der - tatsächlich noch anwesenden - Dame, die für meine Buchstabengruppe zuständig war, gegenübersaß. Ich schilderte ihr die Situation genau so, wie sie war: daß ich mit meiner Meldung zum 30. Dezember mich um 2 Tage verschätzt hatte, bzw. das Gesetz mich gewissermaßen "überholt" habe und ich nun darum bitte, ob sie nicht meine Selbständigkeits-Meldung um ein paar Tage zurückdatieren könne?
Die Frau guckte mich streng an, und meinte: "Nun, Sie müssen schon selbst wissen, welche Zahlen Sie uns hier angeben. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns um Ihre Einhaltung irgendwelcher Fristen zu kümmern!" Tja, ganz toll, da war ich also der Dumme. Ich war schon im Begriff, abzuschieben, da fragte sie mich: "Haben Sie denn unsere Bestätigung mit dabei?" Klar hatte ich die dabei, schließlich hatte ich ja gehofft, die könne irgendwie korrigiert werden.
"Geben'se mal her!", raunzte die Dame mich an. "Setzen'se sich mal kurz draußen hin, ich überprüfe das mal..." Also setzte ich mich auf den Finanzamtflur und guckte mir schlechte Fotos an, die dort im tristen Graulicht die Wände - nein, nicht direkt zierten, sondern eher: bedeckten... Nach fünf Minuten wurde ich wieder reingerufen. Die Finanzamtsdame drückte mir die Bestätigung wieder in die Hand. "Handelte sich um einen Tippfehler, eindeutig! Kann schon mal vorkommen... ", beschied sie mich. Statt der 30 stand da jetzt eine 20. :)
Ich hätte sie ja knutschen können, wäre da nicht ihr strenger Blick unter dem streng geföhnten Grauhaarschnitt hervor über die strenge Lesebrille und den Schreibtisch zwischen und hinweg gewesen.
So lobe ich mir Sachbearbeiterinnen: Keine Korinthenkackerei, sondern pragtmatisches Helfen. Beide Damen hätten mir richtig viel Ärger/Umstände bereiten können, wenn sie sich hundertprozentig an die Vorschriften gehalten hätten. Ohne daß jemand was davon gehabt hätte. Statt dessen versuchten sie tatsächlich, mir zu helfen (was ja auch der eigentliche Zweck ihres Jobs ist) und ließen in diesem Zusammenhang auch mal Fünfe gerade sein. Ich fand das richtig Klasse und hatte noch das ganze Wochenende danach gute Laune. Also: zwei Heldinnen des Alltags!

Beispiel 2:
Warum starte ich diesen Thread ausgerechnet heute? Weil eben gerade die Sperrmüllabfuhr hier bei uns durch die Straße fuhr. Ich wohne in einer Gegend, die... nun ja, Stichwort "sozialer Brennpunkt". Direkt gegenüber hausen ein, zwei oder drei Großfamilien rumänischstämmiger Zigeuner (Roma? Sinti? Kenn mich da nicht so genau aus), die sich bemühen, sämtliche Negativklischees zu erfüllen. Dei Straße sieht also oft "wie Sau" aus. Und an Tagen, bevor die Speermüllabfuhr kommt, multipliziert sich das Problem. Denn dann ziehen miteinander rivalisierende Müll-Ausschlacht-Sippen (vor allem Nach Altmetall suchen die) durch die Straßen und schon bald sind die Sperrmüllhaufen, egal, wie sehr die Leute auch bemüht waren, sie ordentlich und halbwegs "geschlossen" an den Straßenrand zu stellen, Schlachtfelder. Natürlich werden auch Tüten oder Kartons mit kleinteiligem Mist mit rausgestellt - und diese Tüten und Kartons werden dann auf der Suche nach Brauchbarem gefleddert - und der Rest bleibt dann halt schön verstreut liegen. Ein wenig erinnerte also heute früh morgens unsere Straße an die Bilder, die man nach dem WTC-Attentat sah: Dreck, Brocken, Plastik- und Papierfetzen allüberall...
Wenn man bei den Stadtwerken sich mal die Hinweise zu der Sperrmüllabfuhr ansieht, dann weiß man: die brauchen diesen ganzen Kleinkramkrempel gar nicht mitnehmen. Die brauchen auch keine Eimer mit Farbresten mitnehmen, auch keine Waschbecken usw. usf. Es ist direkt erstaunlich, was alles nicht zum Sperrmüll gehört... :D

Aber: Jetzt, nachdem der Sperrmüllwagen hier durch ist, sieht die Straße piccobello aus! :eek: Jeden Sch*** haben sie mitgenommen. Ich konnte sie, als sie den Haufen gegenüber einpackten, durchs Fenster beobachten. Zwei junge Männer, die da ohne viel Traraa fett schwere Schränke ebenso locker in den Wagen wuchten, wie sie klaglos die ganzen Papier- und Plastik-fetzeneinsammeln, sich die ganze Zeit dabei angeregt unterhalten - was allein schon eine echte Leistung ist bei so einer körperlichen Schwerarbeit. Es ist kalt draußen und feucht, sie müssen gleichzeitig schwitzen und an den Ohren frieren, nach einer knappen Stunde solcher Maloche wäre ich komplett fix und fertig und reif für's Wochenende. Sie aber rufen sich launige Sprüche zu, lachen, sammeln Neonröhren auf, die auseinandergerollt waren, zerbrochene Spiegelscheiben und eklig nasse Kleidungs-Klumpen aus dem Rinnstein, dann wieder eine dicke Federkernmatraze (schön vollgesaugt mit Regenasser)... Die arbeiten hart wie Kutschgäule, zack, zack, zack, ohne einen Ansatz von Schlendrian, nach vielleicht fünf Minuten haben sie diesen großen Berg hier schon weggeschafft und auf geht's zum nächsten Haufen. Und nachher ist die Straße sauber. So sauber, wie schon lange nicht mehr.
Echte Männer, echte Malocher, echte Alltagshelden! :)

Wo und wie trefft Ihr deren Kollegen?!
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

Cheech

Senior Member
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28.01.2003
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361
Sehr schöner Beitrag - kann ich gut nachvollziehen und ich stimme dir in der Sache zu. :)
 

Blue

Kleptomanische Hexe
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10.07.2000
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2.627
Meine persönlichen Helden sind seit einiger Zeit die Ärzte und Schwestern/ Pfleger im Krankenhaus und den diversen Arztpraxen :)

Nach dem jetzt selber erfahren, gesehen, erlebt, beobachtet habe was die so alles leisten müssen, unter Zeitdruck, mit Patienten denen ich schon ihre Infusionschläuche um den Hals gewickelt hätte.... oder schlimmeres :shine:
Ist schlicht einfach richtig gut wenn man genau mitbekommen hat was der Pfleger alles tun musste....und man selber muss trotzdem auch noch zum xten Male nach Schmerzmitteln rufen....und die sind immer noch freundlich dabei, erklären auch zum 10x geduldig das man erst in einer Stunde die nächste Dosis haben darf.... ein Job den ich niemals so machen könnte.
Die machen das täglich.
 

Darghand

Einer von vielen
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30.07.2001
Beiträge
6.016
Ist das nicht irgendwie komisch, kommt das nicht peinlich rüber?

Ich denke nicht. Prinzipiell ist es doch sehr schön, eine Bestätigung für sein Bemühen zu bekommen, auch von einer Person, bei der man nicht drauf angewiesen ist.

Ist auch Abwägungssache... die beiden Malocher hätt ich wohl nicht drauf angesprochen, weil mir die Chance für ein Missverständnis zu groß erscheint. Deren Tätigkeit hat ja weniger direkt mit dir zu tun gehabt als die der kompromissbereiten Fachfrauen vom Amt, und jemanden für Tatkraft und gute Laune im Job zu belobigen kann auch schnell als Großkotzigkeit verstanden werden... wie der Bauunternehmer, der den Gerüstbauern morgens so ätzend jovial auf die Schulter klopft. Bei allen Sprüchen bleibt's ein öder, mistiger Job, der Miete und Essen bezahlt.
 
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