@Sylvana: Die Christen, die ich kenne und ernst nehme, behaupten selten, "an die Bibel" zu glauben. Sondern sie glauben an Gott. An die Bibel zu glauben macht sprachlich keinen Sinn - denn niemand bezweifelt ja ihre Existenz.
Man kann an das in der Bibel Niedergeschriebene glauben. Je wortwörtlicher jemand daran glaubt, desto schwieriger wird es, noch vernünftig mit ihm/ihr zu reden.
Du hast als Überschrift dieses Threads "Der Sinn des Christentums" gesetzt. Es wäre eventuell ergiebiger, wenn wir uns darüber unterhalten würden: Inwiefern ist eine von Institutionen organisierte Religion sinnvoll?
Inwiefern ist es sinnvoller, wenn der religiöse Glaube zur reinen Privatangelegenheit reduziert würde?
Sinnvoll - das bezieht sich für mich auf die ethische, gesellschaftliche und politische Betrachtungsweise. Welche Funktion hat das Christentum? Und zwar das real existierende - egal, wie widersprüchlich es in sich selbst sein mag!
Interessant für mich ist, daß Philosophien und Welterklärungen erst dann wirkungsmächtig sich verbreiten, wenn sie Handlungsanweisungen zum "richtigen Leben" enthalten, zum richtigen Miteinander derjenigen, die ihnen anhängen. Sie müssen also dazu taugen, eine Gesellschaft zu organisieren, zu strukturieren. Dafür müssen sie bestimmte psychologische Bedürfnisse der Menschen erfüllen, beispielsweise, sich in einer größeren Gruppe geborgen zu fühlen, dazuzugehören, in der eigenen Betrachtungsweise der Welt bestätigt zu werden usw.. Sie müssen ermutigende Antworten auf die immergleichen Fragen nach dem Tod oder der Entstehung dieser Welt geben. Sie müssen immer wieder auftretende Konflikte innerhalb der Gesellschaften erklären und mit Sinn füllen können. Beispielsweise jenen, daß es Herrscher und Beherrschte gibt, Reich und Arm, Krank und Gesund... Dies ist der Sinn einer jeden institutionalisierten Religion, dies war auch der Sinn des Christentums.
Wesentlich klarer wird dieser Sinn - ich würde es lieber die Natur nennen- beim Islam, welcher noch wesentlich weltgewandter ist, noch akribischere Handlungsanleitungen gibt. Auch beim Judentum finden wir eine stärkere Wendung hin zum Konkreten.
Im Christentum hat sich nun die hellenistische, durch nah - und fernöstliche Einflüsse geprägte Denktradition mit der semitischen Denktradition gemischt. Paradigmatisch kann man das an der Figur des Juden/Griechen Saulus (später: Paulus) erkennen. Von aussen betrachtet ist ja nicht Jesus die wirklich interessante Figur des Christentums, sondern das, was Paulus aus ihm und seiner im Grunde genommen nationaljüdischen Message machte. Wenn man Spaß an bösen Vergleichen hat, dann könnte man sagen: Paulus machte das jüdisch-mosaische Brötchen reif für den Weltmarkt, für die religilösen Fastfood-Tempel. Indem er ihm all jene Ingredenzien entzog, die allzusehr auf den lokalen Geschmacksvorlieben beruhten, und es dafür mit dem Glutamat jener Lehren anreicherte, über deren Leckersein sich alle Kinder dieser Welt verständigen können.
Jesus, der gesalbte (Christus) Messias, eindeutig eine politisch-jüdische Königs-Figur wird massenmarktkompatibel gemacht, indem man wegschneidet, was für die Vermarktung als inopportun erscheint: die strengen jüdischen Essensvorschriften beispielsweise, das Beschneiden der Männer, die Exklusivität der Verbindung zwischen Jahwe und "seinem Volk Israel". Vor allem aber der politische Befreiungsanspruch, der eigentlich mit der Figur des Messias untrennbar verbunden war, wird ausradiert aus dem Bild.
Eingefügt werden politische Weichmacher (Gib Cäsar, was des Cäasars ist... Mein Reich ist nicht von dieser Welt...), aber auch tiefsinnige Gedanken und in paradox-magische Formulierungen geronnene Meditationen über das Opfern (über das Abendmahl und dessen komplexe Symbolik kann man wohl meterdicke Wälzer verfassen) oder die Natur Gottes an sich.
Egal, wo welche Ingredenzien jenes Jesusbildes, das uns durch die kanonisierten Evangelien, Paulusbriefe und Apostelgeschichten überliefert ist, auch herstammen mögen - interessant ist, wie erfolgreich dieses Rezept letzten Endes war. Aber ebenso interessant ist, wo die Wirkmächtigkeit dieses religiösen Exportschlagers zu enden begann.
Einmal haben wir den Totalitätsanspruch des Christentums: Nicht mehr ein einzelnes Volk ist Vertragspartner im Bund mit Gott. Sondern es wird behauptet, durch Jesus sei ein Vertrag Gottes mit allen Menschen dieser Erde geschlossen worden. Und die Gültigkeit dieses Vertrages muß dementsprechend auch allen, die davon betroffen sind, klar gemacht werden. Das, was unsere Regierung mit der HartzIV-Reform jetzt gerade versucht, nämlich den Beschluß an die Bevölkerung zu "kommunizieren" - das versucht die Kirche seit sie angeblich von ihrer Gründerfigur damit beauftrag wurde. Ja, ich spreche vom Missionierungsgebot.
Der jüdische Glaube war durch und durch nationalistisch: Gott und wir vereint gegen den Rest! Unter diesem Aspekt machen all die blutspritzenden Details des Alten Testaments durchaus Sinn, denn es ging ja auch darum, den Mitgliedern der Gruppe Israel den Eindruck zu vermitteln, daß man mit Jehova einen an seiner Seite habe, der im Bedarfsfall ordentlich durchzugreifen wisse und der von seinen Exekutivmanagern erwartet, daß sie sich nicht scheuen, die Ärmel zu beschmutzen...
Das Christentum ist in seinem Anspruch transnational. Alle Menschen! Ohne Ausnahme alle sollen bekehrt werden. Die Kirchenväter waren aber so politisch blind nicht, daß sie gedacht hätten, sie könnten mit einer regionalen Hirtenreligion nun alle Menschen begeistern. Eine neute Botschaft sorgte für den Boom des Christentums: Gott liebt dich! Er liebt dich so sehr, daß er für dein Wohl, für deine Erlösung das geopfert hat, was ihm das Liebste war: seinen eingeborenen Sohn!
"Du selbst", so spricht Gott der Herr, "wirst sicherlich schon gemerkt haben, wie verdammt schwierig es ist, sich immer nett und richtig zu verhalten. Nicht mal zehn einfach auswendig zu lernende Gebote kannst du einhalten, und bei all den Verordnungen und Paragraphen, die sich Rabbiner oder römische Staatssekretäre einfallen lassen, steigt ja eh keiner mehr durch!
Aber macht nix: Zwar verstößt Du andauernd gegen irgendwelche Gesetze und müßtest nach herkömmlicher Betrachtungsweise also auch andauernd dafür büßen und zahlen - aber ich, Gott Jehova, habe die Rechnung schon beglichen, indem ich mit meinem Sohn Jesus dafür bezahlt habe! Und ich habe nicht nur für dich bezahlt, sondern auch für alle deine Mitmenschen - so ihr nur an mich glaubt."
Das ist der Kernaspekt des Christentums, das macht seinen Erfolg aus! Gott ist auf unserer Seite, wenn wir an ihn glauben, dann sind schon alle Schulden und Sünden für uns beglichen! Und jeder wird in diesen Club aufgenommen! Er kann braun oder hellbraun, bronzefarben oder eher sandfarben im Gesicht sein - egal! Gott liebt alle. Und er verpricht allen, daß es ihnen im kommenden Gottesreich gut gehen werde.
Auch dies ist ein wichtiger Aspekt: Einerseits wird anerkannt, daß es momentan in der Welt überhaupt nicht komfortabel ist und allein dieses Verständnis ist ja, wie jeder Psychotherapeut weiß, schon mal etwas, das die Menschen brauchen. Andererseits wird nicht behauptet, man könne durch ein bißchen Opferbrimborium oder Anfrufungen oder Beschwörungen diese Zustände von jetzt auf gleich verändern. Das klappt nicht. Aber es gibt andererseits ja den zweiten Teil dieses Gedankens: In jener verheißenen anderen Welt, da wird alles picobello sein! Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben!
Fassen wir zusammen:
1. Die Leute müssen nicht mehr angesichts ihrer eigenen Unvollkommenheit verzweifeln, denn ihre Sünden wurden durch den Opfertod Jesu beglichen.
2. Ja, die Welt ist ziemlich mies (krank...
@ Elanor), zugegeben. Aber das hat seinen Sinn, den man nicht unbedingt verstehen muß. Gott, welcher höher ist als alle Vernunft, wird schon wissen, warum es so läuft. Wichtig ist: er hat Verständnis für diejenigen, die leiden, er hat ja selbst für uns alle genügend gelitten (siehe unsere letzte Diskussion um "The Passion of the Christ"). Solches Verständnis, gepaart mit Ehrlichkeit - das schafft Vertrautheit.
3. Hinterm Horizont geht's weiter! Ja, jetzt mag es mies laufen, aber nach dem Tod werden wir für alles entschädigt!
Hierin sehe ich den psychologischen Sinn des Christentums: Die Menschen können sich mit ihrer eigenen Unvollkommenheit arrangieren, die Menschen können sich mit der Unvollkommenheit der Welt arrangieren und die Menschen können sich auf eine bessere Zukunft freuen.
Zum gesellschaftspolitischen und ethischen Sinn des Christentums schreibe ich eventuell später was, jetzt muss ich erstmal arbeiten...