@Hank: Der Calvinismus macht meines Wissens keine Aussage über die Prädestination menschlichen Handelns. Es geht nicht darum, ob prädestiniert ist, ob ich die blaue oder die gründe Hose kaufe, und auch nicht darum, ob prädestiniert ist, ob ich mich entscheide, die alte Oma über den Haufen zu fahren, oder ob ich anhalte und ihr über die Strasse helfe, sondern eigentlich nur um das Heil. Der Calvinismus macht bezüglich Prädestination nur eine Aussage über die Auserwählung zum Heil. Ist also in dem Sinne keine durchzogene Prädestinationslehre.
Des weitern: Ich hab die Chroniken natürlich nur als besonders markantes Beispiel gewählt (deutliche Sachfehler sind mir übrigens keine bekannt). Bei Evangelien und der Apostelgeschichte sieht die Sache ganz ähnlich aus. Es ist einfach undifferenziert, diese nur symbolisch (tiefenpsychologisch beispielsweise) lesen zu wollen. Man kann die historische Frage doch nicht einfach zum Vornherein als unwichtig abtun. Ich kann gerne kurz darlegen, warum die historische Frage gewissermassen essenziell ist im Christentum (angelehnt an ein Essay von Adolf Schlatter mit dem Titel "Die heilige Geschichte und der Glaube". Seine Zitate sind kursiv).
Setzen wir mal folgende Ausgangslage:
Gott hat Israel aus Ägypten geführt; was habe ich davon? Simson riss den Dagontempel ein; was geht das mich an? Tyrus liess Israel nach Jerusalem heimkehren; das ist ja längst vorbei!
Es geht also darum, dass es für irrelevant erklärt wird, ob diese Dinge etwas mit mir zu tun haben. Und im NT genau dasselbe:
[Jesus] sagte dem Aussätzigen: "Ich will es, sei rein"; was habe ich davon? Er rief den Zöllner in seine Gemeinschaft; wie bin ich dadurch mit einer Gabe beschenkt? Und schliesslich stehen wir vor dem Kreuz und sehen ihn sterben und fragen: Was soll das für mich bedeuten?, und fragen am Ostermorgen: Was hat das mit mir zu tun?
Man hält es also für irrelevant, ob dies alles historische Geschehnisse sind, und bevorzugt einen anderen Umgang mit der Bibel: Tiefenpsychologische Deutungsweisen zum Beispiel, oder man betont vor allem die Wichtigkeit der Ideen, die dahinterstecken:
Die Bedeutung der Bibel haftet nicht daran, was historisch geschehen ist, sondern an den Bildern, die sie vermittelt. Am Bild Jesu erwachen wir zum Glauben, aber es kann uns egal sein, wer er tatsächlich gewesen ist und was er erlebt hat. Das Bibelwort wird hier, wie Schlatter schreibt,
vom Geschichtslauf abgelöst und als dessen Ersatz behandelt.
Die Antwort vieler Christen darauf ist in der Regel, dass es etwa bei den Evangelien rein von ihrer Schreibart her offensichtlich sei, dass sie als geschehene Erlebnisse von Zeitzeugen verstanden wurden, und nicht etwa als tiefenpsychologische Parabeln oder ähnliches.
Dem stimme ich zu. Nur: Mit dieser Argumentation ist noch nicht gesagt, warum es notwendig sein soll, diese literarische Einschätzung zu teilen. Wir glauben es einfach, weil wir die Berichte so verstehen. Aber ist es innerlich notwendig, diese Dinge für historisch zu halten?
Da will ich mich nun an einer Antwort versuchen:
Der Glaube der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Gemeinde hat seinen Grund in der Geschichte gehabt. Über dem ganzen Alten Testament steht das Wort: Ich bin der Herr, der dich aus Ägypten, aus dem Ort der Knechte, ausgeführt hat, und formt den Blick der alttestamentlichen Gemeinde zu Gott.
Wir fassen zuerst noch einmal ins Auge, warum in der Bibel Glaube und Geschichte in fester Einigung beisammenstehen, damit wir nochmals dessen gewiss werden, dass wir mit dieser Gestalt unserer frommen Gedanken nicht nur der lieben Gewohnheit folgen, sondern auf der Wahrheit stehen.
I. Das Gottesbild der Bibel ist voll und ganz *personenhaft bestimmt*. Die Frage die sich uns stellt, ist die nach Gottes *Willen*. Darum gib es für Propheten und Apostel keinen anderen Ort, an dem man Gottes Offenbarung in vollem Sinne finden kann, als die Geschichte. Warum? In der Geschichte handelt die Person. Nur in der Geschichte tritt Gott mit uns *als Person* in Berührung und offenbart uns seinen *Willen*.
... da, wo sich der Wille sichtbar macht, wird der Gott der Schrift offenbar und Gemeinschaft Gottes mit uns gestiftet. Darum besteht Gottes Lob in der Bibel im Preise seiner grossen *Taten*.
II. Dasselbe gilt auch für Christus. Für die Apostel besteht die Bedeutung Jesu nicht in der "Idee", die in seiner Lehre steckt, in nichts Sachlichem, sondern in seiner Person.
Damit ist aber gegeben, dass sich ihnen Jesu *Geschichte* als der Heilsgrund offenbarte, wodurch sie auch zum *Glaubensgrund* wird, weil der Heilsgrund und der Glaubensgrund nicht auseinander fallen. Die Entfernung der Geschichte aus dem Glauben schliesst den Verzicht auf eine wirklich religiös gedachte Christologie in sich. Er würde uns jenen Blick auf Jesus unmöglich machen, in dem ein ganzes Vertrauen, ein ganzer Gehorsam, eine ganze Liebe, ein ganzer Anschluss enthalten ist. Wir haben tatsächlich von ihm keine Gabe, die von seiner Person ablösbar wäre. Als er von der Erde schied, war nichts vorhanden als die von ihm vollbrachte Tat, die von ihm gelebte Geschichte. Darum kann der Glaube, der auf Christus zielt, seinen Inhalt nur aus der Geschichte schöpfen; er gründet sich auf Jesu Tat.
III. Wie wir nun Gott und Jesus als *Person* mit *Willen* und *Taten* in der Bibel entdecken, setzt auch die Voraussetzung dafür, was für ein Bild wir uns vom Menschen machen. Gott kümmert sich nicht nur um unsere Meinungen und unsere Ideen (die losgelöst von der Geschichte existieren), sondern für uns als vollständige Person: "Ich suche nicht das Eurige, sondern Euch." Nach Schlatter:
Wir sind zum willentlichen Dienst Gottes berufen, in den wir ohne Vorbehalt mit unserer ganzen Person eingehen dürfen, und dadurch sind wir zum Träger einer Geschichte gemacht. Und unser eigener Lebenslauf erhält den vollen Ernst derselben, da unsere eigene Tat unser Geschick bedingt und den Verlauf unseres ganzen Daseins bestimmt.
Man kann das also ungefähr auf diesen Nenner bringen: Wenn die Geschichte nicht geeignet wäre, Inhalt unseres Glaubens zu sein, dann dürften wir uns nicht auf Gottes Taten gründen und unsere eigene Lebengeschichte wäre von diesem Verzicht mitumfasst. Wenn die vergangene Geschichte leer ist vom Handeln Gottes, von seinen Gnadenerweisen und seinem wunderbaren Eingreifen, dann ist es auch die Gegenwart, und auch die Zukunft wird es sein.
Wenn wir also die Bibel losgelöst von ihrer Historizität lesen wollen, mit Blick auf tiefenpsychologische Wahrheiten und bildliche Ideen, die nicht an der Geschichte festzumachen sind, dann ist das Bibellesen separatistisch. Wenn wir die Bibel so lesen, dann suchen wir unsere Befriedigung
in einer für den anderen verschlossenen Innerlichkeit und werden gleichgültig gegen deren Lebenslauf, während die Geschichte uns beisammenhält. Durch die Geschichte entstehen geeinigte Reiche und durch die heilige Geschichte Gottes Reich.
Wir stehen mit der Erwägung, ob unser Glaube auf die Geschichte ziele, nicht nur vor einem formalen Problem-. Sie ist die Frage nach dem persönlichen Gott, die Frage nach Christus als dem, der unser Heilsgut ist, die Frage nach dem Sinn unseres Lebens, ob auch uns sich eine Geschichte erschliesse, die zwar nicht eine heilige, wohl aber eine geheiligte zu werden vermag.
Aus diesem Blickpunkt, dass Gott sich in der Geschichte offenbart hat, können wir Gott nicht verlieren, ohne uns selbst auch zu verlieren.
Also, oben beschrieb ich die "symbolische Sicht" so:
"Die Bedeutung der Bibel haftet nicht daran, was historisch geschehen ist, sondern an den Bildern, die sie vermittelt. Am Bild Jesu erwachen wir zum Glauben, aber es kann uns egal sein, wer er tatsächlich gewesen ist und was er erlebt hat. Das Bibelwort wird hier, wie Schlatter schreibt,
vom Geschichtslauf abgelöst und als dessen Ersatz behandelt."
Was ist nun das Problem einer solchen Sicht? Das biblische Wort wird vom Geschichtslauf weggelöst und al dessen Ersatz behandelt. Die "Idee" wird von der "Tat" getrennt, man liest das Handeln Gottes mit seinem Volk als "Idee", die nicht zwingendermassen geschichtlich umgesetzt wurde. Die Geschichten der Bibel sind aber nicht nur eine Beispielsammlung für grosse und wahre Gedanken, sondern in der geschehenen Geschichte begegnet uns Gott als derjenige, der handelt, sich offenbart, Leben schafft. Zwischen dem, was Gott tatsächlich tat, was er heute tut, und was er tun wird, ist ein unauflöslicher Zusammenhang der kräftigsten Art, die ich mir überhaupt vorstellen kann:
Weil Gott Israel berufen hat, *darum* ist auch die Christenheit berufen und wir in ihr. Weil Gott Israels Sünde nicht ungestraft liess, darum widersteht er auch unserer Bosheit. Weil Jesus dem Aussätzigen, der ihn anrief, die Heilandgnade erwies, darum hat er sie heute noch und erweist sie auch uns. Weil er das Kreuz einst getragen hat als der vergebende, darum ist uns heute der Zugang zu Gott aufgetan und in der Kraft der von ihm vollbrachten Kreuzestatist Jesus heute unser Versöhner mit Gott.
Und wo ich mal wieder soviel zitiert habe, ende ich auch mit fremden Worten:
Es hat seine vollkommene Wahrheit, wenn wir auch heute noch vor der heiligen Geschichte stehen mit dem dankbaren Wort: Das tatest du auch für mich. Eben dieses ist das Glaubenswort.
Das Ganze stelle ich mal gleich pragmatisch gegen deine Ausführungen