Fussball-Thread für die Saison 09/10

Ulan Batur

Mohnblume
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Toran, das "Theater" das jetzt gemacht wird kann auch seine guten Seiten haben. Die Leute werden über Depressionen aufgeklärt, sie sehen, dass es nicht um "faule Kerle" geht, sondern dass an dieser Krankheit auch sehr erfolgreiche und talentierte Menschen leiden können. Im besten Fall verändert es den Umgang mit Leuten, die an Depressionen erkrankt sind. Dadurch wird es für die Kranken auch leichter, sich und anderen die Krankheit einzugestehen und sich Hilfe zu holen.
Und zum Mut, die Kranheit zuzugeben: Schau wie du auf die Nachricht des Todes reagierst. Du verurteilst den Mann, du weigerst dich, anzuerkennen, dass er an einer echten Krankeit litt und sein Verhalten nicht mit normalen Masstäben zu messen ist, du würdest ihn am liebsten im Dunkeln verschwinden lassen. Und du beschimpfst ihn. Mit dieser Haltung bist du nicht alleine, und gerade für kranke Menschen, die doppelt verletzlich sind, ist es so fast unmöglich, sich öffentlich die Hilfe zu holen, die sie eigentlich bräuchten. Im besten Falle kann der Tod Enkes dazu beitragen, Vorteile auf die Seite zu räumen und einen neuen Umgang mit Kranken anzuregen.
 

Artus

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@ Toran

Halt mal den Ball schön flach. Mit der Titulierung A.... wäre ich schon vorsichtig.
Der Mann war depressiv und auf Grund von Schicksalsschlägen am Ende und wollte oder konnte nicht mehr.
Ich finde es schade um ihn. Auch seine Frau tut mir leid. Sie hat wohl alles versucht ihm zu helfen, ist aber leider gescheitert.

Zum Thema Medientheater: Die leben nun einmal von der Einschaltquote. Und schockierende Nachrichten verkaufen sich immer am besten.
Im übrigen denke ich nicht, dass die Reaktionen von DFB und Verein geheuchelt waren. Die Anteilnahme kam schon glaubwürdig rüber.

Erschreckend ist eigentlich, dass man sich in der heutigen Zeit keine Schwächen leisten kann, da die Karriere sonst schnell zu Ende ist.
Vielleicht hat man dann auch deswegen Angst, sich in solcher Situation jemanden anzuvertrauen?
Vielleicht sollte man sich aber auch in unserer Gesellschaft überlegen, wie man miteinander umgeht?

Die "überflüssigen" Länderspieltermine standen wohl schon länger fest, da an diesen Tagen die Relegationsspiele für die WM stattfinden.
Zum Glück haben wir damit nichts mehr zu tun. Russland, unser Gruppenzweiter spielt jedenfalls gegen Slowenien.
 

Wedge

Wedgetarian
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@ Toran, aber auch generell zum Thema
Das "Problem" bei der Krankheit Depressionen ist, dass es für Leute, die sie nicht haben, so gut wie unmöglich ist sie zu verstehen, ohne sich jahrelang damit zu beschäftigen. Vielleicht können sie es sogar dann noch nicht mal.

Jeder kann nachvollziehen, wie es ist, sich ein Bein zu brechen, selbst wenn man das noch nie gemacht hat, weil jeder von uns reine physische Schmerzen kennt. Und jeder kann nachvollziehen, wie das ist, wenn eine Beziehung zerbricht oder jemand geliebtes stirbt oder ein Lebensabschnitt endet, weil das jeder von uns durchgemacht hat.

Aber nur die allerwenigsten von uns können sich vorstellen, wie es ist, gegen Sonnenlicht allergisch zu sein. Oder an dieser Krankheit zu leiden, bei der man nichts spührt, weil da im Hirn keine Sensorinformationen ankommen. Das sind dann die Leute, die sich die Fingernägel bis auf die Knochen abknabbern, weil sie nicht merken, dass sie sich verletzen. Den Namen der Krankheit weiß ich nicht mehr, da hab ich mal eine Dokumentation gesehen.

Und genauso ist das auch mit den psyschichen Erkrankungen. Wenn du nicht an Depressionen leidest, dann weißt du ganz einfach nicht, wie das ist. Wenn du nicht am Gegenteil, der Manie (oder gar einer der vielen Bipolaren Störungen die beides vereint), leidest, dann weißt du nicht, wie das ist und wenn du nicht an Zwangsstörungen leidest, weißt du nicht, wie es ist.

Normale Maßstäbe anzulegen funktioniert da einfach nicht. Aber wieso das öffentliche zugeben so schwer ist, siehst du ja an dir selbst.

Du würdest vermutlich niemals über den reichen, erfolgreichen, berühmten, beliebten Menschen schimpfen, der sich umgebracht hat, weil er die drei Krebserkrankungen, die zeitgleich seinen ganzen Körper zerfressen und ihn dazu zwingen, sich mit dutzenden Medikamenten und Behandlungen total kaputt zu machen, um irgendwie am Leben zu bleiben. Und warum nicht? Eben, weil der Mensch totkrank war.

Nicht das Wiki eine allgemein vertrauliche Informationsquelle darstellt, aber dort steht, dass von den 12k Selbstmördern pro Jahr in Deutschland der größte Teil sich im Zuge der Depressionen umgebracht hat. Was auch immer "der größte Teil" nun genau bedeuten soll.

Krebs kann eine Krankheit sein, die mit dem Tod endet. Depression ist ebenfalls eine solche Krankheit.




EDIT:
Vielleicht kann man da auch anders rangehen. Schonmal daran gedacht, dass es vielleicht besser wäre, dich umzubringen? Schon mal beschlossen, dich umzubringen? Schon mal akkute Pläne ausgearbeitet, wie du es machst? Schonmal nen Abschiedbrief fertig gehabt? Schonmal mit dem Messer in der Hand im Bett gelegen? Oder mit dem Bein über der Brüstung im 20. Stock gestanden? Schon mal die Tabletten besorgt? Schonmal zurückgeschaut und nichts gesehen, was dich hält? Oder nach innen geschaut und nicht die Kraft gefunden, das Messer zurückzupacken oder den Fuß zurückzuziehen?

Wie bei so vielem im Leben hilft es sehr, wenn man sich in die Schuhe des anderen denkt und eine Runde in ihnen läuft. Aber manchmal, manchmal geht das einfach nicht, weil einem die Erfahrungen fehlen.
 
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Karn Westcliff

"Die Geschichte"
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@Hank

Der Selbstmord dient dazu, die Aufmerksamkeit auf die Lage des Selbstmörders zu lenken, oder diese sogar anzuprangern (absolut verständlich, wenn Enke vorher über seine Depressionen so massiv die Decke drüber gehalten hat. Irgendwann knallt ein Ventil auf, um den aufgestauten Druck rauszulassen.) Der Brief erklärt dass, und dient gleichzeitig auch als Entschuldigung an die Angehörigen.
Ein fehlender Brief bei einem Selbstmord, erhebt bei der Polizei z.B. zunächst erst mal Zweifel an der Lage, da dies unüblich ist.
 

Toran

Schattenritter
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Quatsch, niemand muss oder soll sich umbringen weil er arm ist. Da sollte man mal richtig lesen.

Wenn sich alle umbringen würden, die mal Existenzängste hatten oder haben gäbe es wohl keine Überbevölkerung. Die hat(te) wohl jeder mal in seinem Leben.

Auch Schiksalsschläge gehören für uns alle zum Leben. Ob das der Tod von Freunden und Verwandten oder was anderes ist sei dahingestellt. Da muss jeder irgendwann durch. Die Frage ist nur wie man damit umgeht

Deshalb ist es für viele Leute nicht nachvollziehbar wenn sich jemand der erfolgreich, populär, körperlich gesund, beliebt und finanziell abgesichert war umbringt. Viele Leute (erst recht die denen es schlechter geht) fragen sich: "Weshalb ist so einer depressiv?"

Wenn er den Stress nicht mehr ausgehalten hat, hätte er auch offen von der Showbühne Bundesliga zurücktreten können. Stattdessen klammheimlich ab und zu mal zum Therapeuten damit es auch ja niemand mit kriegt. Seine Frau hat es selber als Wahnsinn bezeichnet.

Nach seinem Tod stellen sich dann die Leute hin und sagen, wir hatten ein tolles Verhältnis, aber gemerkt haben wir nix. Wie geht denn das? War der so ein guter Schauspieler dass er jeden täuschen konnte?

Haben die Leute, die jetzt so betroffen sind wirklich nicht mitbekommen wie es in ihm aussieht oder hat es sie nicht interessiert?

Warum er dann aber einen öffentlichen Selbstmord vorgezogen hat, wenn er doch alles unter den Tisch kehren wollte verstehe ich absolut nicht.

Dann war er noch zu feige sich selber umzubringen und hat den Lokführer mit reingezogen. Für mich das allerletzte. Oder gibt es dafür eine Entschuldigung?
Seiner Vorbildfunktion als fairer Sportler ist er damit nicht gerecht geworden.

Ob die Veröffentlichung über seine Depression und den Selbstmord jetzt zu einer positiven Diskussion über Depressionen oder zu Nachahmungstaten führt? Ich halte beides für möglich, befürchte aber eher letzteres.

Schlechte Nachrichten und Skandale verkaufen sich leider besser als gute Nachrichten. Allerdings bezweifele ich, dass die Presse über jeden Selbstmord berichtet, den jemand der nicht im Rampenlicht steht bzw. stand in seinen eigenen 4 Wänden begeht.

Enkes Frau kann einem leid tun, auch in der Hinsicht ihrer Adoptivtochter später erklären zu müssen, dass ihr Adoptivvater nicht mehr leben wollte, weil er Angst hatte sie zu verlieren. Wie sie dass schaffen soll ist mir unbegreiflich.
 

Sternenlicht

Waldelf, badoc
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Was mich an der Sache echt schockiert ist, wie sehr der Sport da den Mantel des Schweigens drüber gelegt hat. Wenn Robert Enke seit 6 Jahren unter Depressionen litt, hätte es nicht mal irgendwem auffallen müssen? Mannschaftskollegen? Trainer? Und die haben alle kein Wort darüber gesagt? :confused:

Wie sehr kann einen der Sport und der damit verbundene Leistungsdruck kaputtmachen? Vor einigen Jahren gab es ja schon einen Fall in der Bundesliga, wo ein Spieler an Depressionen litt. Sebastian Deisler hat deswegen auch seine Karriere beendet, und ihm geht es zum Glück heutzutage schon wieder sehr viel besser.
 

Toran

Schattenritter
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Ja Sebastian Deissler hat den Ausstieg für sich rechtzeitig geschafft. Auch wenn er noch ein oder zwei Versuche gestartet hatte. Als er merkte dass es nicht mehr geht, hat er eben auf den Sport und das Geld verzichtet.
 

Bragi

Meister der Mütze
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@Toran

Da liegt ja gerade das Problem: Du kannst es nicht verstehen, genausowenig wie ich oder alle anderen hier, die noch nicht versucht haben, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Dazu kommt, dass jeder Mensch anders mit Problemen umgeht. Das gilt auch für scheinbar ausweglose Situationen. Deshalb kann man hier auch gerne das Beispiel Deisler anführen, aber es hilft einem nicht weiter, weil Enke nicht Deisler war.
 

Toran

Schattenritter
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@Bragi
Da stimme ich dir ohne Zögern zu.
 

Chinasky

Dirty old man
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@Karn: Als eifriger Tatort-Gucker ist mir das alles schon durchaus bewußt, und mit einem bißchen Küchenpsychologie hab ich mir das auch schon zurechtgereimt, daß jemand, der sich tötet, noch Rücksichten auf das nimmt, was nach seinem Tod geschieht. Es kommt mir dennoch irgendwie seltsam vor - ich kann mich da eben nicht in denjenigen hineinversetzen.

Über Selbstmord hab ich ja durchaus schon ein paar Stündchen nachdenkend verbracht. Ich entsinne mich eines nächtlichen Gesprächs beim ersten Forumstreffen, wo wir mit einigen Forumlern am Rhein saßen und die doofe Weinflasche nicht geöffnet kriegten - da ging's genau um dieses Thema und ich vertrat die Ansicht, daß jeder halbwegs denkfähige erwachsene Mensch wohl schon mal über Selbstmord als Handlungsoption für sich selbst nachgedacht - und halt nur in den allermeisten Fällen verworfen hätte. Ich glaube, es war Tex (Ttsl), der mir da widersprach und meinte, er habe noch nie im Leben auch nur im Entferntesten an Selbstmord gedacht. Das erstaunte mich damals, denn zumindest in Zeiten des Liebeskummers waren solche Gedanken für mich schon mal akut gewesen und ich hielt das für "ganz normal"...

Außerdem haben sich viele Philosophen, die ich zu meinen geistigen Vorbildern zähle, mit dem Thema auseinandergesetzt. Camus nennt den Selbstmord sogar die einzig relevante philosophische Frage, und auch Schopenhauer geht auf die Problematik "warum sollte man sich nicht (!) umbringen?" ausführlich ein. Tatsächlich hängt der Selbstmord ja eng mit dem Thema "Sinn des Lebens" zusammen, und für jemanden wie mich, der keinen "objektiven" Sinn im Leben erkennen kann, stellt sich die Frage: "Warum bringe ich mich dann nicht gleich um, wo doch Leben nach Buddha (in dem Punkt stimme ich ihm zu) immer Leiden bedeutet?" besonders dringlich.

Aber alle philosophischen Betrachtungen über den Freitod haben eben andere Voraussetzungen als sie ein Depressiver hat. Deswegen lassen sich die Motive dessen, der sich aufgrund einer Depression tötet, wohl nie "vernünftig nachvollziehen" - sie sind nun mal irrational.
 

skull

Thronfolger
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@Toran
Ob die Veröffentlichung über seine Depression und den Selbstmord jetzt zu einer positiven Diskussion über Depressionen oder zu Nachahmungstaten führt? Ich halte beides für möglich, befürchte aber eher letzteres.

Schlechte Nachrichten und Skandale verkaufen sich leider besser als gute Nachrichten. Allerdings bezweifele ich, dass die Presse über jeden Selbstmord berichtet, den jemand der nicht im Rampenlicht steht bzw. stand in seinen eigenen 4 Wänden begeht.

Nein, das tut die Presse nicht, denn wir haben in Deutschland rund 10 000 Suizide im Jahr; davon ca. 500 auf die Art und Weise, die nun auch Enke gewählt hat. (Suizidversuche ~100.000 - 150.000)
Dass Enkes Tod 'Vorbildfunktion' haben könnte ist also ausgemachter BS; die Methode ist leider Gottes ausreichend 'etabliert'. Ich saß schon oft genug in Zügen, die aufgrund eines 'Personenschadens' mitten auf der Strecke gestoppt werden mussten.
Und schwere klinischen Depressionen guckt sich auch niemand aus dem Fernsehen ab...
In Hinblick auf die Lokführer finde ich den Selbstmord-durch-Zug auch recht schäbig (habe Familie in der Branche), aber es käme mir nie in den Sinn, Enke, oder einen der anderen Selbstmörder, derart plump zu verdammen, wie du es hier tust. Der Mann ist tot - das sollte Strafe genug sein, oder?
Eine Depression ist eine Krankheit, die nicht nur psychische sondern auch physische Ursachen hat / haben kann, und keine bloße Laune. Mit Einkommen und sozialem Status hat das alles herzlich wenig zu tun. Aber meine Vorredner haben eigentlich schon alles Notwendige zu dem Thema gesagt. Und wie Enkes Familie und Freunde auf seinen Tod reagieren, und ob und wie sie ihm Vorwürfe machen, ist allein deren Sache.

Einer meiner Dozenten meinte einmal: "Jeder Suizid ist ein gescheiterter Suizidversuch." Hm.
 
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Toran

Schattenritter
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@skull
Jemand ist bestraft, weil er seinen Willen durchgesetzt hat? Das ist der absolute BS.

Bestimmte Krankheiten mögen mit der Zeit von alleine heilen. für andere muss man sich eben in Behandlung begeben.

Wer sich aus falschen Stolz oder Angst nicht helfen lassen will, hat kein Mitleid verdient.

Er war ein Vorbild und wird von den Verantwortlichen nach seinem Tod so dargestellt. Deshalb finde ich seine Tat extrem krass.

Dass sich diese Todesart bereits so etabliert hat dass die Zahl der Toten gar nicht mehr steigen kann wie du behauptest war mir nicht bewusst.
 

Mindriel

Traumläufer
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Enkes Frau kann einem leid tun, auch in der Hinsicht ihrer Adoptivtochter später erklären zu müssen, dass ihr Adoptivvater nicht mehr leben wollte, weil er Angst hatte sie zu verlieren. Wie sie dass schaffen soll ist mir unbegreiflich.
@Toran, wie kommst du darauf, dass sie der Grund war? Der Kommentar ist mir in deinen beiden Beiträgen aufgefallen. Ich denke, man kann ihr durchaus begreiflich machen, dass ihr Adoptivvater an einer schweren Krankheit litt, und das am Ende nicht mehr ausgehalten hat. Das größte Problem bei Deppressionen ist nun mal die Psyche, klar hätte er sich in Behandlung geben können, hatte er ja auch. LEider gehört die Angst hier zum Krankheitsbild, sie ihm daher vorzuwerfen, und ihm deswegen das Mitleid abzusprechen ist nicht gerechtfertigt.

@skull: Der Dozentenspruch gefällt mir :up:

Angenehme Träume,
Mindriel
 

Toran

Schattenritter
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@Mindriel
Seine Frau erzählte er habe Angst dass das Jugendamt ihm die Adoptivtochter wegnimmt, wenn rauskommt, dass er an Depressionen leidet. Das Jugendamt hat dies in einer Stellungsnahme weit von sich gewiesen.

@generell
Ich denke ich habe meine Meinung zu dem Fall klar und deutlich gemacht. Mehr gibts davon in diesem Thread nicht mehr.
 

Wedge

Wedgetarian
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Das ist falsche Logik. Bzw. Unverständnis für die Situation. Das Jugendamt kann sagen was es will und die Realität kann sein, wie sie will, dass hat nichts mit dem zu tun, was in einem vorgeht und vor was man Angst hat, wenn man an Depressionen leidet.

Jemandem der Todesangst vor Spinnen hat, kann der Zoologe auch sagen, dass die Hausspinne nichts tut und überhaupt nicht gefährlich ist. Ändert trotzdem nichts an der Angst.
 

Timestop

Running out of Time
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Ich vermute schon das Enke seine Angehörigen und das Umfelds wichtig, und ihm die Folgen seiner Tat und das Leben nach seinem Tod noch als weiter präsent bewusst waren. Ich denke mal er hat sich aber zuletzt in einem Zustand befunden in dem die eigene Verzweiflung und Leidensdruck größer war als die Verantwortung aufgrund der er sich jahrelang zum Leben gezwungen hat. Zumindest könnte ich es mir so vorstellen (Spekulation, Spekulation), was wirklich in ihm vorging kann keiner sagen. Das er aber nichtmehr an den Zugführer gedacht hat und den noch mit reinreißen musste statt eine Alternative zu suchen, verwundert mich da etwas. Ebenso das er scheinbar keine weitere Hilfe annehmen wollte, weil er eine "Bestrafung" durch die Gesellschaft befürchtete.

Inwieweit man das ganze überhaupt verurteilen kann bei psychischen Erkrankungen, finde ich schwer zu beurteilen. Einerseits würde wohl niemand einem Gewalttäter oder Pädophilen die Absolution erteilen weil er diese "Fehlfunktion" im Gehirn nicht unterdrücken kann. Bei Depressionen, die zu Selbstzerstörung führen und das Umfeld mit hineinreißen weil man damit nicht mehr klarkommt, sind wir (inzwischen) eher dazu bereit.
Persönlich finde ich es aber schon ziemlich kalt jemanden pauschal das Recht auf Beendigung seiner eigenen Existenz abzusprechen weil er Verantwortungen in seinem Umfeld trägt. Da macht man es sich zu einfach.
Zwischen Mitleid mit den Angehörigen und Wut auf jemanden dem man nicht wirklich kennt ist da noch ein großer Freiraum für mich.
Schliesslich weiß niemand wie schlimm die Depressionen wirklich waren und die können mit Sicherheit eine Art des Schmerzes einer schweren körperlichen Krankheit erreichen, auf andere Weise, aber nicht weniger schrecklich.
Aber wie gesagt, alles spekulativ, da maße ich mir kein echtes Urteil an.


Seine Depressionen müssten seinem Umfeld schon aufgefallen sein, zumindest Leuten mit etwas mehr Empathie (die nicht jeder besitzt), aber zwischen Depressionen und klarer Selbstmordabsicht ist noch ein dicker Unterschied, scheinbar konnte er sogar seine direkte Umgebung und Therapeuten da täuschen, und für einen Teamkameraden oder Bekannte ist es dann noch schwerer zwischen schlechter Stimmung, Ängsten und echter Todesabsicht zu unterscheiden, vor allem wenn es vielleicht noch Menschen sind die mit einem lächeln "Quatsch, ich tu mir nix an." sagen können.


Zum Thema Tod und Selbstmord selbst:
Wir haben ja einen Selbsterhaltungstrieb der viele von uns ziemlich bestimmt.
Ich selbst bin mir z.B. ziemlich sicher das mit dem Ende meines Gehirns nichts mehr von meiner Persönlichkeit da ist, dass meines gesamtes Selbst welches genau mich ausmacht ausgelöscht ist und mein persönliches Universum und damit alles wichtige endet.
Dennoch kann ich mich nicht einfach auf einen hohen Vorsprung (obwohl ich soweit Schwindelfrei bin) in dem es tief hinunter geht stellen. Dabei wäre bei einem Sturz nur minimaler Schmerz da und dann Ende. Also kein Grund zur Angst. Aber die Angst ist da und hält mich davon ab. Keine Not diese Angst für einen grandiosen Ausblick und einen coolen Moment zu überwinden.
Mein Bruder konnte das und mit einem Sprung a la Tom Cruise in Vanilla Sky auf eine Mauer hüpfen und im Wind stehen während unten ein mehrere hunderte Meter tiefe Schlucht auf einen Sturz wartete. Ein für mich beeindruckendes Bild bis heute (nein, er ist nicht gefallen).

Was ja rational eigentlich etwas seltsam ist, aber irgendwie ist man unterbewusst an diesen gewissen "Unsterblichkeitswahn" gekettet. Wenn man davon ausgeht das nach dem eigenen Tod alles vorbei ist müsste man sich ja um die Zukunft nicht kümmern. Umwelt, der gepflanzte Baum, das Erwachsenwerden der Kinder, Erbverteilung, Verantwortungen...alles egal. Aber irgendwie greift da etwas, so dass einen auch das Leben nach dem Tod interessiert.
Und nicht nur den Selbstmord als spontane Tat in einer Krise verhindert, sondern auch Planungen für die Zeit nach dem eigenen dahinscheiden machen lässt.
Gefangen vom eigenen Gehirn.
 

Antracis der Rote

Forumsbakterium
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Torans Ausführungen wirken sicher wegen der daraus erkennbaren Verweigerung von Empathie auf viele so befremdlich, sind aber leider auch für den betreffenden Sachverhalt vom logischen Ansatz her nicht zielführend.

Eine Depression ist nicht nur irgendeine Krankheit sondern, als psychiatrisches Krankheitsbild, halt eine Krankheit des Denkens. D.h., neben typischen Symptomen wie anhaltend gedrückter Stimmung, Freud- und Interessenlosigkeit, Antriebsmangel, Konzentrations- und Schlafstörungen ,Appetitlosigkeit und vielfältigen körperlichen Symptomen bestehen regelmäßig typische formale Denkstörungen. Das Denken ist beispielsweise oft extrem verlangsamt und auch oft eingeengt. Der Kranke kann sich nicht mehr von "seinem" Thema lösen, muß zunehmend grübeln bis hin zu Zwangsdenken und Gedankendrängen, infolgedessen er nur noch sehr eingeschränkt oder gar nicht mehr fähig ist, "Klar" zu denken.

In besonders schweren Fällen treten auch inhaltliche Denkstörungen auf, sprich wahnhafte Überzeugungen, die aber eine krasse Fehlbeurteilung der Realität sind und an denen der Erkrankte dann auch mit subjektiver Gewissheit festhält - die Unkorrigierbarkeit ist ein Diagnosekriterium des Wahns. Die häufigsten Formen bei Depressionen sind Schuldwahn, Verarmungswahn, Versündigungswahn (die religiöse Dimension) bis hin zum nihilistischen Wahn. Beim Verarmungswahn ist der Kranke beispielsweise wirklich davon überzeugt, total verarmt zu sein - mit allen denkbaren schlimmen Folgen. Und das bei gut gefülltem Sparbuch. Das diese Formen kongruent mit der depressiven Grundstimmung sind, dürfte auffallen. Bei Enke sticht nun die Sache mit der Angst, seine Tochter vom Jugendamt weggenommen zu bekommen, ins Auge. Die Gefahr bestand offenbar in keinster Weise, war aber für ihn offenbar ganz real. Ich werte das noch nicht als wahnhafte Idee, aber es zeigt schon, dass da offenbar die Realitätsbeurteilung deutlich verzerrt war.

Deshalb ist es letztlich so, dass eine moralische Verurteilung, die argumentativ einen ungestörten Denkprozess beschreibt, nicht stichhaltig sein kann. Selbstverständlich ist auch nicht jeder depressiv Erkrankte für sein Handeln (im moralischen Sinne betrachtet!) schuldunfähig. Das erfordert natürlich immer eine Einzelfallbetrachtung - im Gegenzug ist aber auch eine Pauschalverurteilung nicht sinnvoll.

Diejenigen, die solchen kranken Menschen außer Vorwürfen und Beleidigungen nichts geben können, sollten sich zumindest vor Augen halten, dass eine suffiziente Behandlung des Krankheitsbildes nicht nur Enke, sondern auch seiner Familie und dem Lokführer (und dessen Familie) viel geholfen hätte.

Bezüglich des medialen Effektes bin ich unschlüssig. Einerseits besteht die Hoffnung, dass - wie auch schon bei Deissler - psychische Krankheiten etwas aus der Verdrängung gerückt werden. Dabei ist es schlicht nur noch zynisch, wenn man betrachtet, wie oft gerade "anerkannte" Leistungsträger unserer Gesellschaft an Depressionen und auch Suchterkrankungen erkranken, die leider noch oft mit "(Leistungs)Schwäche" verwechselt werden.

@skull: Mir bietet sich da leider ein etwas anderes Bild, ich hatte heute den "Werther-Effekt" live. Wir haben das in unserer Abteilung in der Morgenkonferenz thematisiert und ich bin jetzt gerade mit 3 1/2 Überstunden aus der Klinik rausgekommen. Tatsächlich hatte ich heute Gespräche mit einigen (meist depressiven) Patienten, die mir dann erzählten, dass der Enke es ja geschafft habe und seit sie das gehört hätten, wären auch wieder konkrete Suizidgedanken da. In der Rettungsstelle gab es auch einige Fälle. Ich habe das nicht immer als bedrohlich eingeschätzt ( und mich hoffentlich nicht geirrt), es gab aber sogar einen eskalierenden Fall, der eine Zwangsunterbringung inklusive richterlicher Anhörung und allem Pipapo erforderlich machte. So ganz ohne Wirkung bleibt das also nicht. Aber in der Tat wird es jetzt auch nicht die Statistiken gravierend verändern.

Gruß
Anti
 
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Rote Zora

Pfefferklinge
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Ich bin mal wieder stolz auf dieses Forum, weil ich finde, dass hier sehr sehr schwierige Fragen, verhältnismäßig sachlich verhandelt werden. Depressive Leute habe ich natürlich auch regelmäßig in der "Praxis". Es ist tatsächlich sehr schwer, im Einzelfall zu beurteilen, ob man eine Zwangseinweisung mit allem Pipapo in die Wege leiten sollte - und in der Rolle des Seelsorgers, der ja eine Vertrauensperson sein soll, nehme ich das noch mal doppelt schwieriger wahr, weil mir erstens medizinisch-psychiatrisches Fachwissen fehlt. Und andererseits möchte man nur ungern zulassen, dass es heißt: ich bin zu Pastor gegangen, um über meine Probleme zu reden, und fand mich danach plötzlich in der geschlossenen Abteilung wieder. (Ich habe umgekehrt auch schon mal jemanden da rausgeholt, der mal wirklich dummes Zeug geredet hatte, und dann da gelandet ist, aber eine ernsthafte Suizidgefahr bestand dann doch nicht).
Eine echte Depression ist dagegen (anders als eine depressive Verstimmung, die wohl jeder von uns kennt) eine wirklich lebensgefährliche Krankheit. Manchmal ist sie ganz gut behandelbar, aber manchmal - wie in unserem prominenten Fall - scheitert die Behandlung, und der Patient stirbt.
Mit einem innerlichen Seufzen nahm ich die Stellungnahmen der Mediziner zur Kenntnis, die natürlich sagen *mussten* dass sie alles richtig gemacht haben, alles andere hätte sie den Job und einen Riesenhaufen Geld gekostet. Insofern kann man die getrost unter Leerformeln buchen - selbst wenn sie ernst gemeint waren. Keiner kann vor die Kamera treten und sagen: ich hatte schon meine ernsten Zweifel, ob das gut geht, habe dann entschieden es zu riskieren, und die Entscheidung hat sich heute als falsch erwiesen.
Damit sind wir bei der Schuldfrage, und das ist dann schon mehr so mein Metier, nähmlich gerade dann, wenn es nicht um juristische Kategorien geht. Und in der Tat ist so ein Selbstmord immer mit Schuldfragen verknüpft, die weit über das hinausgehen, was sich gerichtsfest machen lässt. Das liegt, lapidar gesagt, schlicht auch daran, dass weder Täter noch Opfer ja in Personalunion definitiv tot sind und nicht befragt werden können. So bleibt es ein Rätselraten, was Motive und dergleichen angeht. Die üblichen Spekulationen, die über die Schuld und Verantwortung von persönlichem Umfeld bis zur Gesellschaft als Ganzem reichen treten hier weit massiver auf als bei normalen Mordprozessen.
Vor allem entsteht ein merkwürdiges Vakuum. Selbstmord ist eben eine Gewalttat, bei der ein Mensch getötet wird - und der Täter sozusagen mit dem Tode gleich schon bestraft ist. Ich sehe das hier auch im Thread: Einem Toten kann man ja wohl keine Vorwürfe machen. Und in der Tat, das ist ein Zeichen von Kultur und guter Sitte: de mortuis nihil nisi bene sagte man schon in der Antike: Über die Toten nur Gutes.
Doch dadurch hängen die in der Luft, die juristisch gewissermaßen die Nebenklage vertreten würden: Die Angehörigen. Ihnen wurde ein geliebter Mensch gewaltsam entrissen - und doch verbietet der Anstand es ihnen, den Täter dafür zu hassen, denn er war es selber. Es entsteht ein schwer zu bewältigender Gefühlscocktail: Trauer um einen lieben Menschen, berechtigter Zorn auf den "Täter" - und schließlich natürlich Schuldgefühle: was habe ich falsch gemacht? Ich bewundere Teresa Enke für ihren unglaublich mutigen Auftritt bei der Pressekonferenz. Sie hat sich damit gegen die übermächtigen Gefühle gestellt, und einen Schritt weg von der Wand geschafft. Wir - sie hat "wir" gesagt! - haben geglaubt, wir schaffen alles. Ein Satz, der ein Eingeständnis ist und andererseits keine Schuldzuweisung zulässt.
Eingestanden, wir haben uns überschätzt, aber wir waren es, wir zwei, nicht ich oder er, sondern wir. Und gerade jetzt kann keiner den einen gegen den anderen ausspielen. Das ist Größe, und ich kann es (jedenfalls von dem öffentlich sichtbaren Bild) tatsächlich nur mit der von Anti beschriebenen Fehlwahrnehmung der Welt kapieren, dass ein Mann so eine Frau auf so eine Weise allein lässt.

Es ist und bleibt eine Tragödie
ZORA
 

Ulan Batur

Mohnblume
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821
Ich denke seine Angst vor einem Outing war nicht nur durch seine krankheitsbedingte Weltsicht begründet, sondern auch durchaus berechtigt. So sehr ich Fussball liebe, mir fällt ausser dem Militär kein anderes Gebiet ein, in dem so eine Macho und Chauvinisten Kultur gepflegt wird, die keinen Raum für Abweichungen vom Idealbild lässt. Oder kennt ihr z.B. einen Fussballer, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekennt? Bei dem Thema wird immer dieser junger supertalentierte englische Spieler erwähnt, der dachte, gut und beliebt genug zu sein, um sich als schwul outen zu können. Er hat danach auch Selbstmord begangen.
 
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