Kraven
Die Stadt begann zu leuchten, als die Nacht über sie herein brach. Stern für Stern erstrahlte zwischen den irdenen Gebäuden, zwischen den Tempeln, den Palästen des Adels, Waukeens Promenade; sie alle wurden umkämmt von eifrigen Laternenwächtern, die, stets ihr kleines Lichte mit sich tragend, von Laterne zu Laterne gingen, um diese, so sie erloschen, neu zu entzünden. So erstrahlten diese edlen Gebiete der Stadt auch des nachts in majestätischem Glanze, auf dass ihre Bewohner sicher und behütet durch die von Akazien gesäumten Alleen wandeln und sich am süßlich schweren Duft der Rosen unter dem klaren Sternenhimmel erfreuen konnten.
Die Slumbewohner hingegen – ob sie lebten oder krepierten, interessierte kein Schwein, weswegen es hier in einer mondlosen Nacht dunkler war als im jungfräulichen Arsch einer minderjährigen Tempeldienerin.
Meistens roch es auch so ähnlich.
Diejenigen, die sich hier nachts raustrauten, waren entweder Selbstmörder, verzweifelt, oder von der tiefen Überzeugung beseelt, die gefährlichsten Raubtiere in dieser Ecke der Slums zu sein. Manche von ihnen behielten Recht. Andere mussten herausfinden, dass jemand anderes der gleichen Meinung und den entscheidenden Sekundenbruchteil schneller gewesen war, um diese Position zu verteidigen. Der Kampf um die Spitze der Nahrungskette wurde hier jede Nacht aufs Neue ausgetragen.
Gegen eine Hauswand lehnend, dabei immer wieder einen Blick zur löchrigen Wolkendecke über sich werfend, versuchte Calar, die Zeit totzuschlagen. Allzu gut klappte das nicht: die paar Sterne, die zu sehen waren, fügten sich nur höchst widerwillig zu irgendwelchen Bildern zusammen, und er hatte sie in letzter Zeit ein paar Mal zu oft gesehen, um ihnen noch eine wie auch immer geartete Faszination abgewinnen zu können.
Einer der Händler nördlich der Krone, Diego, hatte lange Zeit ein gutes Geschäft damit gemacht, exotische Zeichnungen von exotischen Frauen feilzubieten, die diese bei einer Reihe höchst fantasievoller Tätigkeiten darstellten. Das wäre natürlich eine der angenehmeren Möglichkeiten gewesen, sich das Warten erträglicher zu gestalten, aber dummerweise hatte vor etwa einem Monat eine Gruppe fanatischer Rius-Anhänger von dem Laden erfahren und ihn mitsamt aller Zeichnungen, sowie Diego höchstpersönlich, in Brand gesteckt.
Naja. Bei den gegebenen Lichtverhältnissen hätte man dem billigen Pergament sowieso nicht viel entnehmen können.
Calar seufzte, spuckte Tabaksaft auf den Boden, und wartete. Die Gasse, die er sich ausgesucht hatte, war recht versteckt und nur über eine Reihe von Umwegen zu erreichen, die für sich genommen schon schwer genug zu finden waren, und sie war zusätzlich derart dunkel und verwinkelt, dass niemand, der seine fünf Sinne beisammen hatte, freiwillig durch sie hindurchgegangen wäre. Natürlich hatte sich das bei den Dieben und Schlägern, die sie kannten, herumgesprochen, so dass sie gar nicht erst ihre Zeit damit verschwendeten, hier irgendjemandem aufzulauern.
Somit war sie letzten Endes eine der sichersten Ecken der Slums.
Auf einen der Leute, die das wussten, wartete Calar, aber Rejor ließ sich Zeit.
Verwettete wohl mal wieder die Jungfräulichkeit seiner Tochter.
Calar merkte auf, als er schnelle Schritte sich nähern hörte. Jemand rannte durch die Hütte, deren Hintereingang in die Gasse führte, und es war nicht Rejor. Der Halbling humpelte.
Glas barst, als ein schwarzer Schemen durch das Fenster der Hütte hechtete. Die Gestalt rollte sich auf dem Kopfsteinpflaster ab und war sofort wieder auf den Füßen, in jeder Hand einen Krummsäbel haltend, die Körperhaltung geduckt, das Gesicht so schwarz wie matt poliertes Ebenholz. Rot glühende Augen fixierten Calar, als er nach seiner Axt griff, und die Züge des Drow verzerrten sich.
Er ließ seine Säbel fallen.
Und fiel auf die Knie.
„Hör zu Mann, ich hab's euch schon tausend mal gesagt, ich bin nicht er!“
Calars Hand verharrte.
„Ich meine, klar, ich hab gesagt, ich wär's, aber das war nur wegen dieser Frau, dieser Schankmagd, und... ich meine, warum sollte Drizzt do'Urden ausgerechnet in die Kupferkrone marschieren, ich meine... ich meine, nichts gegen die Leute, die die Kupferkrone mögen, es ist ein toller Ort, die Wiege der Zivilisation, Heimstätte wunderbarer Denker und Philosophen, ich mag euch, alle! Aber ich bin nur ein ganz normaler Typ, ich bin auf gar keinen Fall ein drow'scher Krieger an der Oberfläche...“
„Lass mein Bein los.“
„Ich sag das doch nur manchmal, um Gratisgetränke abzustauben, ihr habt den Falschen!
„Lass mein Bein los, hab ich gesagt.“
Der Drow ließ sein Bein los.
„Zieh Leine.“
„Ihr... Ihr meint, Ihr gehört gar nicht zu den Kultisten?“
„Red ich undeutlich?“
„Ihr... oh, werter Herr, nein, Ritter gar, Ihr müsst mir helfen! Ich habe Gold, viel, viel Gold, und ich kann-“
Von einem Moment auf den anderen befand sich Calars Axt am Hals des Dunkelelfen.
Ein einzelner, rubinrot leuchtender Tropfen bildete sich und glitt über silbernen Stahl.
Der Drow schluckte. Nickte. Und verschwand.
Calar spuckte aus lehnte sich erneut an die Häuserwand. Bei seinem Glück hatte Rejor das Geheul gehört und sich einen anderen Weg nach Hause gesucht, und dann wäre die ganze Warterei sinnlos gewesen.
Andererseits war das Schwarzmalerei. Es wäre wirklich verdammt schlechtes Karma, wäre er in ausgerechnet diesem Moment hier entlang gekommen.
Nein, solange es von jetzt an ruhig blieb, dürfte Calar Glück haben.
Nach vielleicht einer halben Minute erschütterten erneut Schritte die Hütte hinter ihm, zahlreicher diesmal.
Calar seufzte.
Das, was vom Fenster noch übrig war, brach nun ebenfalls aus dem Rahmen, als ein in weißes Leinen gehüllter Elf hindurchsprang. Er war flink; noch im Aufkommen schwang er sein Rapier nach der Gestalt, die er während dem Sprung aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte.
Calar fing den Hieb mit der Axt ab und verkantete die Klinge. Mit der Linken ließ er sein Messer einen aufwärts gezielten Bogen beschreiben, der sein Ende direkt an den Hoden seines Gegenübers fand.
Der Elf erstarrte.
„Lass das Schwert fallen.“
Das Klirren von Stahl auf Stein hallte durch die Gasse. Die Mundwinkel des Elfen zuckten zu einem nervösen Lächeln.
„Ihr... Ihr solltet wissen, dass in dieser Hütte zahlreiche meiner Ordensbrüder versammelt sind, die... die furchtbare Rache nehmen würden, solltet ihr mir ein Lied zufügen!“
„Ist das so.“
Er zog die Klinge ein kleines Stück zurück. Das reißende Geräusch, mit dem die Schneide den Stoff der Hose durchtrennte, vermischte sich mit dem leisen Wimmern des Elfen.
„In Ordnung in Ordnung, ich, äh... ich habe mich vielleicht etwas grob ausgedrückt.“
„Mhm.“
„Ich... ich meine, wir suchen keinen Streit mit Euch, und was immer Ihr hier treibt, ist komplett Eure Sache.“
Calar starrte ihn einfach nur an. Er hob das Messer ein winziges Stück an, so dass es nun Haut berührte.
Der Adamsapfel des Elfen begann, hektisch auf und ab zu hüpfen.
„Wir suchen eigentlich nur einen Angehörigen des dunklen Volkes, der hier entlang eilte, und ich glaube, ich spreche für uns alle, wenn ich mein aufrichtiges Bedauern kundtue, Euch in Euren Geschäften gestört zu haben.“
Calar verzog keine Miene.
„Und ich... ähhh...“, die Stimme des Elfen wurde immer höher, „ich bin natürlich bereit, euch für die entstandene Unbill zu entschädigen, sollte dies dazu führen, diesen Konflikt friedlich zu regeln.“
Calar hielt die Hand auf. Der Elf legte einen kleinen Beutel hinein. Calar zog das Messer zurück, und der Kultist sackte sichtbar erleichtert in sich zusammen.
„Die Richtung“, sagte Calar und deutete mit dem Kopf auf die Abzweigung, die der Drow genommen hatte.
Die Augen des Elfen begannen zu leuchten, und ein Grinsen begann, sich über seine Züge zu legen.
„Dort entlang, meine Mannen!“
Er stürmte voran. Eine Sekunde später wurde die Tür der Hütte aufgestoßen, und eine Gruppe von Menschen, Zwergen und zwei bis drei weiteren Elfen, alle in weiß, rannten ihm hinterher.
„Schnappt ihn euch!“
„Der dunkle Gott braucht sein Opfer!“
„Cthulhu fhtagn!“
Dann war es wieder still in der dunklen Gasse. Carlar betrachtete noch eine Weile die Ecke, hinter der der Trupp verschwunden war, dann schüttelte er den Kopf, schloss die Tür, und lehnte sich, ein weiteres Mal, gegen die Wand.
Bei den Göttern, da hatte doch irgendjemand von der Alchimistengilde wieder was ins Trinkwasser geschüttet.
Als er erneut Schritte hörte, glitt seine Hand zur Axt. Es reichte. Wer auch immer das jetzt war, er würde ihn ausweiden und direkt am Eingang zu dieser verdammten Gasse aufhängen, als Warnung für all die anderen Komiker, die...
Dann hörte er den ungleichmäßigen Rhythmus der Schritte, und er entspannte sich.
Die Person im Inneren der Hütte humpelte.
Endlich.
Calar wartete, bis der Halbling nahe genug war, dann riss er die Tür auf und rammte ihm seinen mit Messingbeschlägen verzierten Handschuh ins Gesicht.
~~oOo~~
Rejor erwachte vom Geruch von Rauch, der in der Luft lag, davon, und von dem Schmerz in seinem Kiefer, der sich anfühlte, als wäre er es, der in Flammen stand. Er öffnete die Augen.
Und schnaubte.
„Hey, Calar.“
„Rejor.“
Der Einäugige, der über ihm thronte wie ein hässlicher Racheengel, sah auf ihn herab und spuckte einen ausgekauten Tabakklumpen in die Ecke. In einer Geste der Solidarität tat Rejor es ihm gleich, spuckte Blut und zwei Backenzähne.
„Was riecht hier so?“
Calar zuckte mit den Achseln.
„Irgendwelche Spinner verfolgen grade einen Dunkelelf. So wie's aussieht, haben sie das Milizgebäude abgefackelt, in dem er sich versteckt hat.“
Rejor versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen.
„Muss eine tolle Show gewesen sein.“
„Ja.“
Vorsichtig befühlte der Halbling seinen Brustkorb.
„Hast du mir auch noch die Rippen gebrochen?“
„Nur zwei.“
Calar überprüfte den Schmutz unter seinen Fingernägeln.
„Tijon lässt ausrichten, dass wirklich unglaublich gerne sein Geld zurück hätte.“
„Ja. Dachte ich mir schon.“
Langsam richtete Rejor sich auf, betastete seinen Kiefer und blickte durch ein Loch im Dach nach oben.
„Ist der Himmel da oben wirklich lila?“
Calar nickte.
„Sieht ganz so aus.“
Durch ein Fenster konnte man auf die Hauptstraße hinaus sehen, wo gerade ein Pulk weiß gekleideter Gestalten entlang lief, einen zusammengeschnürten und geknebelten Dunkelelfen mit sich tragend.
„Sangui pro deus sanguen! Calvae pro Salii!“
„Cthulhu R'lyeh wgah'nagl fhtagn!“
Der Halbling schüttelte den Kopf.
„Werden immer mehr Spinner in den Straßen...“
Er spuckte noch ein bisschen mehr Blut aus. Hatte sich auf die Zunge gebissen.
„Ich weiß nicht, wie's dir geht, aber ich könnte einen Drink gebrauchen.“
Calar lächelte müde und hob den Lederbeutel hoch, den er dem Elf abgenommen hatte.
„Klar. Die Runde geht auf mich.“
Langsam entschwanden die zwei Gestalten im Gewirr der Slums, während wie aus dem Nichts Blitze die Nacht erhellten.
Etwas erhob sich aus der See.