Ich wiederhole es gerne noch einmal: „Sicherheit“ ist kein verfassungsrechtliches Gut. Sämtliche Grundrechte sowie die notwendigen Eingriffe in selbige finden einzig zum Zweck der
Wahrung der Freiheitsrechte statt. Die Abwägung, die dabei stattfindet, ist stets eine zwischen verfassungsrechtlich garantierten Gütern.
Im Klartext: in Art. 2 I GG steht folgendes: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“, wonach gemäß gängiger Rechtsprechung
jedes menschliche Verhalten zusammengefasst wird. Da zu diesem Verhalten z.B. aber auch Gewalt gegen Menschen und Diebstahl gehören, gibt es zum einen den Art. 2 II GG, der das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ garantiert sowie Art. 14 GG: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.“ Dass Schläger und Einbrecher verhaftet und verurteilt werden, hat
nichts mit einem Grundrecht auf Sicherheit zu tun – jedenfalls nicht in dem Sinn, wie es in der derzeitigen Debatte verwendet wird. Die logischerweise vorhandenen Eingriffe in die Grundrechte der Schläger und Einbrecher geschehen einzig in Abwägung zu den Freiheitsrechten Dritter, die ebenfalls gewährleistet werden müssen. Eine Abwägung hat stets so auszusehen, dass keines der Grundrechte in seinem „Wesenskern“, wie die Jurist_innen das formulieren, berührt wird.
Daher ist die „Lösung“ dieses arg vereinfachten Problems eben die Einführung der Polizei zwecks Ahndung von Verbrechen. Und eben nicht das bloße Zuschauen bei Gewalttaten, oder, das wäre das andere Extrem, die Überwachung sämtlicher Menschen mit dem Zweck zu deren Disziplinierung. Diese Abwägung ist die primäre Aufgabe eines Rechtsstaates, eine der großen bürgerlichen Errungenschaften, auf die heutzutage niemand mehr Stolz genug zu sein scheint um sie zu verteidigen.
Also: es gibt kein Grundrecht auf ein „sicheres Leben“, oder darauf, nicht durch eine Explosion, einen Banküberfall oder eine verirrte Kugel aus einer Polizeipistole ums Leben zu kommen. Eine Gewährung von Freiheitsrechten ist ohne Risiko nicht zu haben und es ist völlig absurd zu glauben, dieses Risiko müsste um jeden Preis verkleinert werden. Im Gegenteil, unsere Lebensweise ist ohne Risiko überhaupt nicht denkbar.
Wäre „Sicherheit“ das überragende Verfassungsideal bräuchten wir keine freiheitliche Grundordnung. Es gäbe keine Berufsfreiheit und keine Freizügigkeit, weil wir sicher gehen wollen würden, lebenslang per Job abgesichert zu sein, und der allmächtige Staat würde uns diese Sicherheit per Zuweisung einer Arbeitsstelle garantieren.
Freiheitsrechte schützen vor Eingriffen durch Dritte, und dieser Dritte kann auch der Staat sein, wobei das Eingreifen nicht gezielt oder beabsichtigt sein muss. Eingriffe
können gerechtfertigt sein – in Jura prüft man normalerweise auf Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme.
Geeignetheit: die Maßnahme muss zum Erreichen des postulierten Zwecks geeignet sein.
Erforderlichkeit: es darf kein milderes Mittel geben, dass in geringerem Umfang in die Grundrechte eingreift und ebenso gut zum Erreichen des (legitimen) Ziels geeignet ist.
Verhältnismäßigkeit: die Maßnahme muss verhältnismäßig in dem Sinne sein, dass, sofern zwei Grundrechte miteinander kollidieren, beide im größmöglichen Umfang gewahrt werden. Oder die staatliche Maßnahme muss im Vergleich zum angestrebten Ziel
verhältnismäßig sein. Deshalb darf die Luftwaffe nicht Berlin-Neukölln bombardieren, weil dort soviele Verbrecher leben und der BND darf keine Menschen foltern, um herauszubekommen, wo in München denn gleich der Sprengsatz hochgeht.
Diese Logik gilt für
jedes der in der Verfassung garantierten Rechte. Stehen alle vorne drin, Art. 1 GG ff. Zu den sekundären Grundrechten, die das Bundesverfassungsgericht aus den Grundrechten hergeleitet hat, gibt es zig Urteile zum Nachlesen.
So, und nun nochmal zum konkreten Fall der Vorratsdatenspeicherung:
Es ist
völlig egal, ob die gesammelten Daten jemals angeschaut oder für irgendetwas verwendet werden. Was ist denn das für eine Logik? Ich nehme an, nichtmal die Stasi hat sämtliche Berichte ihrer Zuträger_innen gelesen oder verwendet. Der Eingriff ist das Aufzeichnen der Verbindungsdaten, und
nicht erst die Verwendung dieser Daten. Es besteht schlichtweg ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Deshalb darf ich auch böse Briefe an Katalogfirmen senden und sie dazu zwingen, mich nicht mehr ihren Papierspam zu schicken, selbst
wenn ich irgendwann so doof war, eine Gewinnspielkarte ausgefüllt zurückzuschicken.
Grundrechte sind unveräußerlich! Deshalb kann ich auch nicht zum BND gehen, mich als Folteropfer anbieten, damit die Jungs und Mädels endlich mal rausfinden können, was alles so geht. Sie würden sich trotzdem Verstößen gegen Art. 1 & 2 GG schuldig machen, auch wenn ich irgendeinen entsprechenden Wisch unterschrieben hätte.
Genau dasselbe gilt für die Vorratsdatenspeicherung: dass eine steigende Anzahl meiner Mitbürger_innen aus welchen Gründen auch immer ihre Privatsphäre ins öffentlich einsehbare Internet tragen führt weder dazu, dass sie ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung verlieren noch kann das eine Legitimationsbasis für Eingriffe in die Grundrechte von Menschen sein, die nicht derart exhibitionistisch veranlagt sind. Die Argumentation, die Menschen würden ja gar keinen Wert auf ihre Rechte legen, geht völlig fehl. Es käme auch niemand auf die Idee, dass angesichts zunehmender Politikverdrossenheit die Menschen kein Interesse an der Wahrnehmung ihrer grundrechtlich verbrieften Mitbestimmungsrechte hätten und man deshalb einfach so etwas wie eine wohlwollende Verwaltung einrichten könnte. Ach, doch, die politisch Untergebildeten von der ZEIT kommen auf solche Ideen, wenn auch auf EU-Ebene.
Daraus ergibt sich auch, dass es völlig egal ist, ob der Eingriff subjektiv wahrgenommen wird. Es mag sein, dass die Mehrheit der Menschen trotz Vorratsdatenspeicherung ebenso zwanglos miteinander telefoniert wie sonst auch, das ändert nichts am Eingriffscharakter der Maßnahme. Und spätestens bei der Frage, ob das Menschen mit sensiblen Berufen wie Mediziner, Rechtsanwalt, Pfarrer oder Journalist ebenso geht, sollten Zweifel entstehen.
Im Journalismus gibt es die sogenannten „Whistle Blower“, Menschen im Staatsdienst, die entgegen jeder Dienstvorschrift sensible Beschlüsse an die Öffentlichkeit bzw. an Journalist_innen ihres Vertrauens weiterleiten. Auf diese Weise werden für gewöhnlich Skandale aufgedeckt, und das funktioniert auch nur deshalb, weil Journalist_innen vor Gericht über das schöne Recht der Auskunftsverweigerung verfügen. Sie können nicht in Beugehaft genommen werden, um so den Namen des Whistle Blowers herauszupressen, der ja ohne Zweifel mit dem Verrat von Staatsgeheimnissen (edit: es muss "Dienstgeheimnisse" heißen) illegal und damit kriminell gehandelt hat (oder?). Der oder die Informant_in ist also sicher.
Dank Vorratsdatenspeicherung ist das nicht mehr der Fall, da die Anonymität des Kontakts wegfällt. Eine Beugehaft ist nicht nötig und das Auskunftsverweigerungsrecht für den Orkus.
Das Problem mit all diesen Überwachungsfantasien ist, dass sie der meiner Meinung nach völlig falschen Idee aufsitzen, Illegales sei illegitim. Es geht um die Durchsetzung der freiheitlich demokratischen Grundordnung auf Gedeih und Verderb. Man stelle sich anhand der folgenden Beispiele einfach mal selbst die Frage, ob diese „Illegales ist illegitim“-Denkweise zu einem wünschenswerten Resultat führt:
- In der Innenstadt kleben zuviele Plakate zu allem Möglichen, und zur Eindämmung des strafbaren Wildplakatierens werden Kameras installiert. Außerdem sollen so die Graffiti-Sprayer gleich mit erwischt werden. Was ist wichtiger? Das „Recht“ auf eine ordentliche, gepflegt aussehende Innenstadt oder das Recht, seine Meinung jederzeit in Wort, Schrift und Bild kundzutun, und stellt Plakatieren nicht gerade für Menschen ohne jede Macht- und Einflussposition das Mittel der Wahl dar, um auf ihren Standpunkt aufmerksam zu machen?
- Auf politischen Demonstrationen kam es in der Vergangenheit zu häufig zu Gewalt zwischen Demonstrationsteilnehmer_innen und der Polizei. Deshalb werden von nun an vor jeder Demo sämtliche Zufahrtswege gesperrt und alle Teilnehmer_innen müssen eine Personenkontrolle über sich ergehen lassen, wobei unklar ist, ob die erfassten Daten nach der Demo gelöscht werden oder nicht. Dies soll der einfacheren Identifikation potentieller Randalierer dienen. Was ist wichtiger? Die konsequente Ahndung der Täter_innen nach Gewalttaten oder das Recht, frei, anonym und unkontrolliert jederzeit das Grundrecht der Versammlungsfreiheit wahrnehmen zu können, ohne hinterher beim BKA nur wegen der Anwesenheit bei drei eskalierten Demos als „politischer Extremist oder Gefährder“ vermerkt zu sein?
- In der Nacht-U-Bahn wurde eine Frau vergewaltigt. Der Täter wurde zwar von der Kamera gefilmt, konnte aber flüchten und ist, da er schwedischer Tourist ist, nicht identifizierbar. Um mehr Sicherheit zu schaffen, montiert die U-Bahn-Betreibergesellschaft neue Kameras mit Gesichtserkennung. Fahrkarten können nur noch per EC-Karte an Automaten gekauft werden. Eine versteckte Kamera im Automaten speichert Gesicht und auf der Karte gespeicherte Informationen in einer umfangreichen Kundendatenbank, die bei Bedarf der Polizei zur Verfügung gestellt werden soll. Per direktem Vergleich der stadtweiten Gesichtserkennung wird nun auch geprüft, ob die Fahrgäste das richtige Ticket benutzt haben oder ob sie unberechtigterweise in eine weitere Zone hineingefahren sind. Was ist wichtiger? Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Anonymität im Alltag, oder das Recht des Unternehmens auf ein paar Euro Gewinn mehr?
Und, zuguterletzt, nimmt man vom juristisch-formellen Eingriffsbegriff etwas Abstand und besieht sich einfach mal die möglichen realen Konsequenzen von flächendeckender Überwachung, Identifizierung und präventiver Speicherung, muss man geradezu zu dem Schluss kommen, dass derartige Maßnahmen gar nicht ohne tiefgreifende Wirkung sein können. Es genügt die Vorstellung, jemand liefe den ganzen Tag mit einem Camcorder hinter einem her und bliebe allenfalls bei den Toilettengängen und eventuell in Teilen des Wohnraums draußen. Wie würde man sich wohl verhalten? Normal sicher nicht. Oder konkreter: kann man sich noch bei allgegenwärtigen Kameras und Mikrofonen über „Scheißbullen“ aufregen, über das „korrupte Politikerpack“? Sich über das Drogenproblem von Freund X unterhalten, ohne die Angst im Nacken, unfreiwillig zum Denunzianten zu werden?
Genau das ist auch mit Präventiv-Staat gemeint: es geht nicht mehr nur um Aufklärung und Ahndung von Straftaten, sondern um deren vorsorgliche Verhinderung. Es wird überwacht und ausgespäht, was zum Risiko werden
könnte, ohne Indizien oder gar Beweise dafür zu benötigen und unter eine beständigen Ausweitung von dem, was als „Risiko“ definiert ist. Man sehe sich einfach mal die Liste an, was in England so alles für „Anti-social behaviour“ gehalten wird und was man mit CCTV verhindern möchte.
Deshalb ist das Wort „Generalverdacht“ auch keine Polemik, wie hier reflexartig unterstellt wird. Zu
jeder Überwachung, zu jeder Datenerhebung, die zur Aufklärung eines Verbrechens dienen soll, verlangte das Rechtsstaatsprinzip zumindestens einen Verdacht auf einen
begangene oder hinreichende Hinweise auf eine zukünftige Strafttat. Ermittlungen ohne jeden Verdacht verstoßen gegen dieses Rechtsstaatsprinzip, und es greifen, welch Überraschung, die grundlegenden Freiheitsrechte, die als Abwehrrechte
vor dem Staat schützen.
Es ergibt sich von selbst, dass eine vorsorgliche Speicherung aller Verbindungsdaten genau dagegen verstößt. Zur Rechtfertigung muss ein Generalverdacht gegen alle Telekommunikations-Nutzer_innen gegeben sein: es wird stillschweigend nach der Prämisse gehandelt, jeder und jede sei ein potentielle_r Straftäter_in. Und selbst wenn die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Straftat noch so gering ist, soll es sinnvoll und nötig sein, sensible Daten jetzt schon zu erheben. Man scrolle an dieser Stelle ein wenig nach oben, lese sich die Anforderungen betreffs Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit durch und urteile dann selbst, ob auch nur
ein Punkt auf Maßnahmen wie die Vorratsdatenspeicherung zutrifft.