Darghand
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So ließ es sich aushalten. Sahudja lag mit vollem Magen im Gras hinter der Herberge, über sich die Nachmittagssonne und hing seinen Gedanken nach. Von Zeit zu Zeit vergewisserte er sich, dass der Lederschlauch voll Rotwein noch neben ihm lag. Eine leichte Brise rauschte in den Fichten und ab und zu brummte eine Hummel über seiner Nase entlang. Sonst geschah nichts. Eine ganze Weile jedenfalls.
Sahudja merkte, dass sich recht schnell ein Schatten vor die Sonne legte. Als er vom Dösen noch ganz benommen die Augen öffnete sah er vor sich einen Halbork von nahezu quadratischer Statur.
„Verzeiht, dass ich Eure Ruhe störe.“ sprach die Grünhaut erstaunlich wortgewandt. „Seid Ihr...“
Er holte ein Stück Pergament hervor, von dem er den Namen ohne eine einzige Silbe falsch auszusprechen ablas.
„... Sahudja il Bhardu al-Aziz ef-Aliffid?“
Da der Halbork die Sonne im Rücken hatte konnte Sahudja erkennen, dass noch mehr Namen auf dem Blatt standen – die meisten waren durchgestrichen.
„Nun, dies ist der Name dieses Narren. Warum fragt Ihr, grüner Freund? Habt Ihr eine Botschaft für ihn?“
„Sowas ähnliches“ sagte der Halbork. „Seid Ihr mit einer gewissen Zoe bekannt?“
„Hmm, hmm, wäre möglich.“ überlegte Sahudja. „Wenn Ihr eine Nachricht von ihr bringt, kommt's auf den Inhalt an, ob der Narr sie kennt. Ist nämlich ein gefährliches Frauenzimmer.“
„Ich nehm das mal für ein Ja.“
Als sein Gegenüber einen gewaltigen Kriegshammer aus dem Halfter zog, ahnte Sahudja, dass es mit der Mittagsruhe vorerst vorbei sein würde.
~*~
Im Grunde genommen begann das Unglück mit einem Zettel, der in Brunkil Donnerkeils Schänke in dem kleinen Dorf Arbren an die Wand genagelt war. Der zweite Schritt bestand darin, dass der allseits als Narr bekannte Sahudja il Bhardu al-Aziz ef-Aliffid nach langem staubigen Ritt in diese Schänke kam und bei dem Zwerg Brunkil ein Helles vom Faß bestellte. Während er auf den Schoppen wartete, fiel ihm eben jenes Papier auf.
Darauf war zunächst von einer hoheitlichen Bekanntmachung die Rede, einer ernsten Angelegenheit, die das Wohlergehen des Fürstentums betraf, ebenso das seiner Bewohner. Dann weiterhin: hohe Belohnung, tot oder lebendig, Vorsicht, die gesuchte Person ist bis an die Zähne und darüberhinaus bewaffnet. Der viele Text umrahmte eine ungelenke Zeichnung, die eine Figur mit rotem Kapuzenmantel und ohne Gesicht zeigte. Rechts unten befand sich ein Klecks Wachs mit einem Siegelabdruck.
„Wirt“ fragte Sahudja und deutete auf den Steckbrief. „Wisst Ihr was darüber?“
„Ojojoj, da lasst die Finger von, Reisender.“ warnte Brunkil und ließ dabei Helles nachfließen. „Das ist der Kopf von 'ner Räuberbande, den sie da suchen. Ein Haufen von Schlagedreins und Blutsäufern! Soll wohl 'ne Frau sein, nach dem, was so erzählt wird. Rotkehlchen Kapuze wird sie genannt, weil- na, Ihr habt das Gekrickel auf dem Blatt ja selbst gesehen.“
„Räuber gibt es viele.“ gab der Narr zu bedenken. „Was will der Fürst wohl mit der Rotgewandeten? Ist ihm die Bande so lästig, oder schreien nur die Bauern laut herum, weil ihnen die Spargroschen unterm Kissen wegstibitzt werden?“
Der Zwerg zog eine Grimasse, die Misstrauen gegenüber dem buntscheckigen Fremden ausdrückte. Nach kurzem Überlegen befand er, Sahudja sei nur ein seltsamer, aber harmloser Wirrkopf. Ein Klatschmaul, Bänkelsänger und Nichtsnutz – solche fand man eher selten in den Reihen fürstlicher Bürokraten.
„Also gut, spitzt die Ohren, ich denk mir das so: wir hocken hier vor den Wispernden Wipfeln, und die Straße, die Ihr hergekommen seid, ist auch nicht die einzige in dem Gehölz. Nu sitzt aber das Rotkehlchen in den Bäumen, mitsamt ihrer Bande, und sie überfallen die Händler, die hier durchmüssen. Das treibt die Preise für alles, was von Nordost kommt, die Händler jammern dem Fürst die Ohren voll wegen ihrer Verluste und der Wegezoll schrumpft dem Fürsten zusammen, weil die Händler schon anfangen, den Wald zu umfahren. Bloß halt auf den Ländereien vom Baron Julgich gegenüber. Tja, und deswegen werden nu überall die Zettel verteilt.“
„Aber“ Brunkil machte eine wegwerfende Geste und zapfte nochmals Bier nach. „Wenn Ihr mich fragt, das wird nichts. Niemals. Die Bauern in der Gegend, die Holzfäller und so, die sind froh um die Bande. Die tun denen nämlich nichts, hört man zumindest, aber die Landsknechte und Steuereintreiber kommen hier nicht mehr hin. Also geht’s ihnen besser als vorher, selbst wenn die Bande mal ne Ziege oder was mitgehen lässt. So, und wenn nu wer kommt und fragt „Wo sind die Räuber?“, dann schicken sie ihn sonstewohin. So ist das. Aber unsereiner beklagt sich nicht. Was die Leute mehr haben, das versaufen sie. Hier bei mir. Ha!“
Sahudja las noch einmal den öffentlichen Aushang. Die Zeichnung erinnerte ihn an einen Blutfleck, und erst als er genauer hinsah, waren wieder Formen und Konturen der Kapuzengestalt auszumachen.
„Zweihundert Goldene sind versprochen. Keine üble Summe, um ein paar Strauchdiebe einzufangen – dem Narren kämen sie gerade recht, denn in seinem Beutel klimpert derzeit nichts, nur Staub und Motten tummeln sich darin.“
„Wie?!“ fuhr Brunkil auf und nahm den so eben fertig gewordenen Humpen wieder vom Tresen. „Nichts Bares dabei? Und ich red mir hier den Mund fusselig, damit Ihr noch'n Zweites und Drittes trinkt? Raus mit Euch! Aber dalli! Bin doch keine Auskunftei, verdammich!“
Der Narr fischte in seinen Hosentaschen herum und zog ein paar Kupferstücke heraus.
„Meine letzten“ seufzte er und hielt sie dem säuerlich dreinblickenden Zwerg hin. „Nun muss der Narr wohl wirklich Jagd auf diesen Rotschopf machen.“
Rund drei Tage später kam Sahudja erneut nach Arbren, diesmal jedoch als angeheuerte Eskorte für eine drei Wagen große Karawane. Der Treck gehörte samt und sonders einem Halbling namens Colum Wigbottel, der davon überzeugt war, weiter im Norden mit seinen drei Wagenladungen Kupferkessel ein Vermögen zu machen. Dem Narren erschien das ziemlich unwahrscheinlich. Weitaus wichtiger erschien ihm, dass die Ladung einen derartigen Lärm verursachte, dass der Treck eventuellen Räubern unbedingt auffallen würde. Denn Colum Wigbottel war zu geizig gewesen, Tücher oder Wolle in die ineinandergestapelten Kessel zu stecken.
Zudem war er zu geizig gewesen, sich eine taugliche Eskorte anzumieten, sondern hatte neben Sahudja vier finstere, unrasierte und kaum vertrauenswürdige Gesellen angeheuert. Sahudja zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass diese bewaffneten Schweinehirten den Treck beim ersten Anzeichen von Gefahr im Stich lassen würden. Dies deckte sich ziemlich exakt mit dem, wie der Narr sich zu verhalten gedachte – wenn auch aus anderen Gründen.
Nun, der Plan ging auf. Als die Wagen einen Hohlweg entlangrumpelten, brachen aus dem Dickicht zur Rechten und zur Linken auf Pferden die Räuber hervor. Zwei weitere Spießgesellen näherten sich im gestreckten Galopp von vorn und hinten. Die Schweinehirten schrien auf, Colum Wigbottel fuchtelte wie wild mit den Armen und noch ehe überhaupt einer der Männer das Schwert gezogen hatte, war der erste auch schon von einem heranreitenden Räuber niedergemacht worden. Ein Zweiter fiel ebenso, die übrigen zwei wägten noch ab zwischen Flucht und Kapitulation.
Schon wandte sich ein Bandit nach Sahudja und dessen Klepper. Er gab seinem Ross ordentlich die Sporen und preschte, das Schwert über den Kopf gehoben, auf den Narren zu. Der Schlag kam zu kräftig und ungelenk, Sahudja parierte ihn mit Leichtigkeit. Mit schnellen Hieben drängte er den Räuber zurück, schlug ihm die Waffe aus den Händen und schlitzte ihm mit einem finalen Schlag die Gurgel auf, dass das Blut nur so spritzte.
Noch ehe der Räuber aus dem Sattel gekippt war, wickelte sich eine Reitpeitsche um den Hals des Narren und riss ihn derart heftig zu Boden, dass es kurz dunkel vor seinen Augen wurde und die Sterne tanzten. Zwei kräftige paar Arme rissen ihn hoch und zwangen ihn, die Arme schmerzhaft verdrehend, auf die Knie. Sahudja schrie auf, als die Knochen in den Gelenken knackten.
„Das reicht jetzt!“ kommandierte eine Stimme, die ganz offenbar weiblicher Natur war.
Sahudja sah zunächst nur ein hübsches paar Beine, die in engen Hosen steckten und in kniehohen blutroten Reitstiefeln daherkamen. Der Schritt war gleichermaßen kraftvoll und elegant, er zeugte von Selbstbewusstsein und fast schon erotischer Leichtigkeit. Selbst als die Spitze eines Rapiers Kehle und Kinn des Narren kitzelte und ihn unmissverständlich dazu aufforderte, den Kopf zu heben, fügte sich Sahudja nur widerwillig dem Befehl. Zu sehr war er von den Stiefeln verzaubert, zu sehr von der Erscheinung gebannt.
Als er den Kopf hob, stand vor ihm eine junge Frau, gekleidet in ein weißes Hemd und einen scharlachroten Umhang mit Kapuze, unter der ein üppiges Dickicht an gelockten roten Haaren hervorquoll.
„Oh Göttin...“ murmelte Sahudja tonlos.
„Was bist du mir für einer?“ fragte die junge Frau ohne das Rapier von Sahudjas Hals zu nehmen. „Mit dir stimmt was nicht, Fremder, und damit meine ich nicht deinen seltsamen Geschmack für Mode. Eine flinke Klinge führst du, das hat der arme Unger am eigenen Leib erfahren. Abstechen sollt ich dich dafür, gleich hier und jetzt. Nur frage ich mich, warum du in Gesellschaft von Feiglingen und Taugenichtsen reist und dein Talent mit dem Stahl ausgerechnet so einem zur Verfügung stellst?“
Sie nickte in Richtung von Colum Wigbottel, der, von einem anderen Banditen bewacht, um seine Kupferkessel fürchtete und sich in schwärzesten Gedanken bereits den eigenen Ruin ausmalte.
„Du siehst, da passt was nicht zusammen. Also – sprich's aus, was dich hertreibt, und die Wahrheit, wenn's genehm ist.“
„Der Zettel hat den armen Narren auf Eure Fährte geschickt!“ rief Sahudja. „Je, abgebrannt ist er, kein Kupferstück mehr in den Taschen, und da kämen ihm zweihundert Goldene gerade recht. Verraten und verkaufen wollte Euch der Narr, Ihr Rote Herrin des Waldes.“
Die Rothaarige lachte auf.
„Und da bist du einfach in den Wald geritten, ohne Taktik und eine Ahnung, auf was du dich einlässt? Ein Jammer, dass ich dich wegen deiner eigenen Dummheit abmurksen muss. Na, machen wir's schnell und schmerzlos.“
„Herrin!“ jammerte Sahudja. „Der Narr beschwört Euch, seit sein Augenlicht auf Euch fiel, haben sich alle Gedanken an die zweihundert Goldenen verflüchtigt – eher will er Euren Hals vor den Klingen anderer schützen, die der Verlockung der Zettel folgen! Seht, der Narr hat ein Auge für die Schönheit und er verehrt sie, wo immer er sie findet. Bei Euch hat ihm ein Blick auf die Stiefel genügt, und wenn's ihm jemals vergönnt ist, von Euren Lippen zu kosten, mögt Ihr ihn hernach als glücklichen Menschen abstechen. Nicht aber hier, auf Knien, im Staub, vor einem lächerlichen Kupferkesselschmied!“
In das hübsche Gesicht des Rotkehlchens schlich sich ein amüsiertes, vielleicht sogar geschmeicheltes Lächeln.
„Soso, küssen willst du mich? Meine Stiefel magst du also? Dann fang auch mit den Stiefeln an!“ spottete sie und hielt ihm den linken Reitstiefel vors Gesicht.
Sahudja zögerte nicht einen Wimpernschlag und beugte sich mit geschürzten Lippen zu dem blutroten Meisterstück des Schusterhandwerks herunter. Die rechte stahlbeschlagene Stiefelspitze des Rotkehlchens traf den Narren präzise und wohlgezielt an der Schläfe und schickte ihn zu Boden.
So kam es also, dass sich Sahudja dem Rotkehlchen, das eigentlich Zoe hieß, und ihrer Bande anschloss. Denn es ist ja sinnenklar, dass eine erfahrene Banditin und Anführerin wie sie einen wie den Narren nicht einfach so leben lässt, wenn sie nicht was mit ihm anzufangen wüsste. Nur seinen Willen und seine Mut, den musste sie natürlich erst auf die Probe stellen.
Es soll sich die Geschichte nun aber nicht in den Ausschweifungen des räuberischen Lotterlebens von Sahudja verlieren. Stattdessen muss von weiteren Personen die Rede sein. Noch ist das Unglück nur halb erklärt.
In den Wispernden Wipfeln, die nun ein sehr ausgedehntes Waldgebiet sind, liegt die Siedlung Holzstock. Holzstock selbst besteht aus kaum mehr als einer Handvoll Holzhäusern mit ein paar Rodungen drum herum. Seit Bestehen ist das Dorf ein Anziehungspunkt für Sonderlinge aller Art gewesen. Hierher kommen Harfe spielende Zwerge, Halblinge auf Diät und Elfen, die sich bei Benutzung eines Bogens die Finger brechen. Wie es dazu kommt, weiß man trotz einiger gelehrter Theorien nicht genau. Die Druiden munkeln von Erdstrahlen, die Priester der Naturgötter von einem Flecken Heiliger Natur, die Magister erzählen von Wilder Magie und pragmatische Materialisten verweisen auf die „Zauberpilze“, die um Holzstock herum in großer Zahl im Wald wachsen.
Wie dem auch sei, zu den damaligen Bewohnern zählte auch ein Mensch namens Fredrik Sigurdsson sowie dessen Frau Elli. Diese beiden hatten sich an der Ungewöhnlichen Universität kennen gelernt, einer Hochschule für niedere Hexereien, Kräuterkunst und Wünschelrutengängerei. Ohne jemals zu einem Abschluss gelangt zu sein, zogen Fredrik und Elli in ihren jungen Jahren mit einem Wagen quer durch Faerun, um nach eigener Auskunft „frei und ungezwungen zu leben“, vor allem ohne „Großstadtmief“, der unweigerlich die „Pschyche“ angreife und einen völlig aus dem Gleichgewicht bringe.
Von der Siedlung Holzstock erfuhren sie, als in Elli immer stärker der Wunsch nach Kindern wuchs und in Fredrik der nach einer Bibliothek, denn ihr Wohnkarren war kaum noch imstande, die Bücher aufzunehmen, die der sehr belesene Mann beständig heranschleppte. Kurz und knapp, mit der Bibiothek wurde es was, mit Kindern trotz aller Bemühungen jedoch nicht. Zumindest nicht mit eigenen, denn Elli verfiel auf die Idee, ein paar Waisen bei sich aufzunehmen, derer es sicherlich genug in Faerun gäbe. Fredrik war schlussendlich vor allem deshalb dafür, weil er die Möglichkeit sah, die adoptierten Kinder „gleich in so 'nem richtigen anti-rassistischem Umfeld aufwachsen zu lassen“ und so zum Frieden auf Faerun beizutragen.
Tatsächlich herrschte an Waisen kein Mangel, doch Fredriks wohlmeinende Idee scheiterte an dem Umstand, dass Elfen, Gnome und Zwerge derart langsam heranwachsen, dass ihre menschlichen Zieheltern mit großem Glück und strenger Abstinenz gerade noch die Pubertät ihrer Schützlinge erlebt hätten. Um sich die Fehlerhaftigkeit des eigenen Denkens nicht vollends eingestehen zu müssen wagten Fredrik und Elli einen Schritt, der hier im Norden außerhalb von Holzstock völlig irrsinnig gewesen wäre: sie adoptierten einen Halb-Ork.
Vater Fredrik hatte bereits eine neue Theorie entwickelt: dass Halb-Orks hinsichtlich ihrer geistigen Kompetenzen als eher minderbemittelt galten führte er einzig auf die falsche Erziehung zurück. In menschlicher Gesellschaft und mit den richtigen Methoden würde sich, so seine Überzeugung, jeder Halb-Ork zu einem durchaus gebildeten, friedvollen Individuum entwickeln können.
Da halbwüchsige Halb-Orks schwer zu bändigen sind und sich über diese Mehrbelastung in Sachen Erziehung bei den Sigurdssons ein handfester Ehestreit anbahnte blieb es bei einem einzigen Adoptivkind. Krolakk, wie das Kind genannt wurde, zählte in besagtem Spätsommer vierzehn Lenze. In diesen jungen Jahren war er bereits klüger als die meisten Menschen Zeit ihres Lebens werden. Krolakk verbrachte seit er Lesen konnte viel Zeit in der Bibliothek seines Ziehvaters, mit dem er regelmäßig und oft über die verschiedensten Themen diskutierte.
Die Theorie schien also bestätigt, doch sie hatte einen Pferdefuß. Aus Angst, die orkische Gewalttätigkeit könne aus ihrem Kind wieder hervorbrechen, bemühten sich Vater und Mutter Sigurdsson, Krolakks Drang nach Aktivität und Bewegung in möglichst harmlose Bereiche zu lenken. So durfte er auf Bäume klettern soviel er wollte, doch schon ein freundschaftlicher Ringkampf mit anderen Kindern des Dorfes, ein selbst gebauter Bogen und später bereits ein mit Herzblut angegangenes Fußballspiel ließen bei Fredrik Sigurdsson die Haare ausfallen. So sehr waren die beiden Adoptiveltern damit beschäftigt, leuchtende Vorbilder der Friedfertigkeit und Sanftheit zu sein, dass sie völlig übersahen, dass Krolakk eine ordentliche Rauferei besser getan hätte als das ständige Verdrängen. Dies war ein Fehler, den man ihnen freilich nicht zum Vorwurf machen kann, der sich aber noch rächen sollte.
Als nächstes wäre da ein Mensch namens Liebling Katz zu erwähnen. Liebling Katz hatte vor nicht allzulanger Zeit – angelockt von der angeblichen sexuellen Freizügigkeit der Bewohnerinnen - in Holzstock gewohnt, und zwar als direkter Nachbar von Fredrik, Elli und Krolakk Sigurdsson. Sein Aufenthalt in Holzstock nahm nach nur wenigen Monaten ein eher unrühmliches Ende, denn als erste Person überhaupt war er des Dorfes verwiesen worden, nachdem sich mehr und mehr Frauen über seine immer unverfroreneren Nachstellungen beklagt hatten. Unter ihnen auch Elli Sigurdsson.
Für einen von der eigenen Unwiderstehlichkeit derart überzeugten Charakter wie den von Liebling Katz war dies natürlich ein herber Schlag und eine tiefe Kränkung. Das Dorf soll er, traut man den Augenzeugenberichten, unablässig und auf die hässlichste Art und Weise fluchend verlassen haben und ward hinterher nicht wieder gesehen.
In besagtem Spätsommer war Liebling Katz nicht nur Mitglied in Rotkehlchens Bande, sondern trug auch einen lächerlichen Schnurrbart und war von sich so überzeugt wie eh und je. Immerhin hatte er sich für die Banditenbande durch seine Fechtkünste und seine Tollkühnheit empfohlen. Umso frustrierender war es für ihn, dass er zwar in die Bande, nie aber bis in Zoes Bett hatte vordringen können.
Der Umstand, dass der grünschnäbelige Neuankömmling Sahudja trotz oder wegen seines albernen Auftretens in gerade diesem Punkt Erfolg hatte, und Zoe Liebling Katz in der Folge mehr als zuvor die kalte Schulter zeigte, dürfte dem Räuber einige Entschlüssen erleichtert haben, die sich in ihren Folgen als recht katastrophal erweisen sollten. Wahrscheinlich ist jedenfalls, dass sich die unselige Vorgeschichte in Holzstock und die Eifersucht auf Sahudja zusammenfügten und bald die schwärzesten Rachegedanken in Liebling Katz brodeln und gären ließ.
Es war nun so, dass etliche Räuber aus Rotkehlchens' Bande Schwarzen Lotus rauchten. Als die Vorräte wiedermal zur Neige gingen, schlug Liebling Katz vor, sich in Holzstock mit neuem einzudecken – mit Waffengewalt, versteht sich. Was er dabei unterschlug, war Folgendes: Fredrik Sigurdsson sparte seit Jahr und Tag darauf, seinen Sohnemann auf eine Universität im Süden zu schicken, wo die Leute mit Halb-Orks besser zurecht kamen. Zu diesem Zwecke versteckte er einen ordentlichen Beutel Golddublonen in einem hohlen Baum im Garten. Davon hatte Liebling Katz zu Zeiten seiner Nachbarschaft natürlich Wind bekommen. Mit dem Ausräumen des Baumes wurde es aber nichts, denn der Verweis aus dem Dorf kam ihm zuvor.
Sein Plan sah nun vor, das Goldversteck im allgemeinen Trubel auszuplündern und sich schleunigst aus dem Staub machen. Das Gold würde reichen, um den eigenen Hals vorm Galgen zu retten. Darüberhinaus würde er den Rest der Bande samt Zoe, die ihn verschmäht hatte, und Sahudja, der sich an seiner statt in ihren Laken räkelte, an die Obrigkeit verraten und eine feine Belohnung einstreichen. Man sieht also: Liebling Katz hatte nicht für einen Heller Ehre im Leib.
Nun, da alle relevanten Personen und Orte bekannt sind, soll jener schicksalhafte Nachmittag geschildert werden, an dem sie alle – Sahudja, Krolakk, Zoe, Fredrik und Elli sowie auch Liebling Katz – aufeinandertreffen sollten.
An diesem Nachmittag stand für den jungen Krolakk Philosophieunterricht auf dem Lehrplan. Für gewöhnlich fiel dem Halb-Ork das Lernen leicht, zumal er sich das Thema hatte aussuchen dürfen und sich für den „Ehrbegriff in Kara-Tur“ entschieden hatte. Doch die Konzentration fiel ihm schwer, da er immer wieder an die strammen Waden der Müllerstochter denken musste, was den pubertierenden Halb-Ork einigermaßen verwirrte.
„Sieh mal Vater,“ sagte Krolakk und versuchte so lustlos wie möglich zu klingen. „Shu Tsi schreibt hier: 'Wer seine eigene Ehre beschmutzt, sich ungebührlich verhält, sei es gegenüber Höheren oder Niederen, bei Höheren aber ganz besonders, der befleckt auch die Ehre seiner Familie und seiner Höheren. Seine Pflicht ist es, diesen Fleck abzuwaschen, was die Höheren auch dafür verlangen. Befleckt aber ein anderer seine Ehre, so muss er mit dem Wohlwollen der Höheren rechnen, wenn sie auch nicht in allen seinen Rachegedanken übereinstimmen.' Was denn, wenn der Schuster dich einen Haderlumpen nennt? Soll ich mich dann nicht beleidigt fühlen?“
Vater Fredrik machte sich schon länger Sorgen über die eigentümliche Begeisterung seines Sohnes für Kriegerehre und Waffenmoral, die so gar nicht mit seiner pazifistischen Überzeugung zusammen passen wollte. Schon fühlte er einige Haare am Hinterkopf ausfallen.
„Hör mal“ sagte er deshalb. „So einfach ist das nicht. Wir sind alle Individuen...“
„Ich nicht!“ sagte Krolakk trotzig. „Das merk ich doch. Die andern Jungs nennen mich Grünhaut oder Wildschweinzahn, sie ziehen mich auf, weil ich schon ordentlich Haare auf der Brust hab wie ein richtiger Mann, und sie noch nichtmal einen Flaum!“
„Was?!“ brauste Vater Fredrik auf. „Wer nennt dich eine Grünhaut? Das ist doch rassistisch!“
„Siehst du.“ triumphierte Krolakk. „Jetzt ist deine Ehre beschmutzt, weil sie mich beleidigt haben! Shu Tsi hat also recht!“
Fredrik seufzte nur resigniert.
„Und überhaupt“ sagte Krolakk. „Das ist doch ein Unsinn. Sieht doch jeder, dass meine Haut grün ist. Warum es dann nicht direkt aussprechen?“
„Na, hast du mal gehört, wie sich die anderen rosa, weiß oder Schweinchenhaut genannt haben?“
„Nein“ murmelte der halbstarke Halbork und fügte leiser hinzu. „Lisa sagt, sie mag die Farbe.“
In diesem Moment krachte etwas im Haus und ein kurzer weiblicher Schrei war zu hören.
„Hm!“ machte Fredrik Sigurdsson. „Deine Mutter hat wieder irgendwas kaputt gemacht. Ich geh mal kurz nachsehen.“
Was die beiden nicht wussten, war, dass Rotkehlchens Bande bereits im Dorf waren und die Hanfbauern mit vorgehaltener Armbrust zwangen, die besten Harzstücke der vergangenen Ernte auszusortieren. Auch wussten sie nicht, dass der Räubergnom Ilgefritz Sicheldorn gerade einen prächtigen Hahn ins Sägewerk verfolgte, denn er brauchte einen Ersatz für die Hahnenkämpfe. Und sie wussten nicht, dass Liebling Katz sich klammheimlich davon geschlichen hatte und schnurstracks zum Haus der Sigurdssons gelaufen war. Dort hatte er schnell den hohlen Baum gefunden – der aber leer war.
Als Vater Fredrik aus der Tür zur Bibliothek trat hatte Liebling Katz eine seiner schmierigen Hände Elli Sigurdsson auf den Mund gepresst, während die andere mit einem Dolch ihr vor den Augen herumfuchtelte.
„Schrei nur einmal, und ich schlitz dich auf.“ zischte er. „Von oben nach unten, wie 'ne fette Gans. Ich schneid dir die Titten ab, wenn du muckst. Verstehste? Und jetzt raus mit der Sprache: wo habt ihr das Gold versteckt? Ich weiß, dass ihr welches habt. Ich nehm gleich die Hand weg, Gänschen. Sag nur nichts Falsches, sonst ist die Nase ab.“
„Elli!“ schrie Fredrik und hastete die Stufen in die Stube hinab.
Liebling Katz hielt Elli vor sich und zeigte Fredrik den Dolch. Sofort versteckte er die Klinge wieder hinter Ellis Rücken.
„Shshsh, ruhig, Meister. Siehst ja, was ich hier hab, hm? Wenn du's deinem Weib nicht aussen Rippen ziehen willst, bleibst du da stehen. Ja, genau da. So's schön. Also, Meister, einer von euch zweien sagt mir jetzt, wo die Dublonen sind. Zackig!“
„Sie... sie weiß es nicht. I-ich hab sie aus dem Baum genommen. Aus... aus Sicherheitsgründen! Bitte. Lasst sie los!“
Der Räuber gab Elli einen heftigen Stoß. Sie fiel vornüber, schlug mit dem Kopf an die Treppenstufe und blieb reglos liegen.
„Ah-ah-ah, Meister!“ fauchte Liebling Katz und hielt den heranstürzenden Fredrik mit dem Dolch zurück. „Keine Heldentaten. Ich kenn dich doch, hast dich noch nie geprügelt. Wird doch eh nichts. Und jetzt zeig mir das Versteck. Beeil dich, dann kannst du dich eher um dein Liebchen kümmern. Hm?“
Steifbeinig und blass im Gesicht ging Fredrik ein paar Schritte, kniete nieder und hebelte mit dem Schürhaken eine Diele heraus. In einem Hohlraum darunter hatte er das Gold versteckt.
„Da!“ stieß er hervor. Liebling Katz beugte sich vor. Genau darauf hatte Fredrik gewartet. Er schlug von unten mit dem Schürhaken zu.
Wäre es nicht das erste Mal in seinem Leben gewesen und hätte er ein wenig mehr Kraft in den Armen gehabt, hätte die Geschichte womöglich ein glücklicheres Ende genommen. Doch so ging der Hieb fehl und traf Liebling Katz nur halb am Kiefer. Liebling Katz packte eine unbändige Wut, denn er war – dies schmerzte ihn am meisten - durch eigenes Verschulden überrascht worden. Mit einer hastigen, unwillkürlichen Bewegung stieß er Fredrik den Dolch in die Brust. Dann noch einmal, und noch einmal.
Bis zu diesem Moment hatte Krolakk ohnmächtig und von der Bibliothekstür verdeckt zugesehen. Jetzt stürzte er mit einem wütenden Schmerzensschrei hinaus, sprang den Treppenansatz hinunter und warf sich auf den erneut überraschten Liebling Katz. Krolakk packte die Handgelenke des Räubers, doch Liebling Katz war kräftiger als man annehmen würde. Er warf sich zur Seite und Krolakk gleich mit. Der ließ nicht los, schrie und brüllte den Banditen an und schaffte es doch nicht, ihm den Dolch aus der Hand zu schlagen.
Derart verbissen miteinander ringend fand Sahudja die beiden, nach fieberhafter Suche wohlgemerkt. Denn aus ungeklärter Ursache stand das Sägewerk in Flammen und das ganze Dorf war in heller Aufregung. Ohne großes Zögern griff Sahudja nach dem Schürhaken und schickte Krolakk mit einem schnellen Hieb in den Nacken zu Boden.
„Mord war nicht Teil der Vereinbarung.“ sagte Sahudja bitter. „Was wolltest du hier, Liebling? Was war soviel Blutvergießen wert?“
„Das hier!“ schnauzte dieser zurück und schleuderte ihm das Säckchen Golddublonen entgegen. Sahudja fing es auf.
„Und dafür mordest du zwei Dörfler?“ fragte er entgeistert. „Manch einer hat den Narren einen Wahnsinnigen genannt. Hier stehen zwei Narren, aber nur einer von ihnen ist wahnsinnig. Sahudja ist es nicht.“
„Hör auf zu faseln!“ knurrte Liebling Katz und entkorkte eine Ölflasche mit den Zähnen. Dann stopfte er einen Lumpen hinein.
„Was hast du vor?“ fragte Sahudja.
„Denkst du, ich bin taub? Alle schreien sie draußen rum, Feuer, Feurio! Es brennt! Holt Eimer! Hat das Feuer halt übergegriffen. Die armen Teufel hier haben's nicht geschafft. Zu schade aber auch.“
Mit diesen Worten riss er das Säckchen an sich und stolzierte zur Tür hinaus. Sahudja hörte die Flasche am Dach zerschellen, bald darauf schon das Brüllen der Flammen.
Schon wollte er sich selbst retten, sich aufs Pferd schwingen und davonreiten, da überlegte sich's der Narr anders, obwohl eine vorausahnende Stimme in ihm laut dabei aufschrie. Er packte Krolakk bei den Füßen und zerrte ihn nach draußen. Dort ließ er ihn liegen und machte sich im vollen Galopp von dannen.
Ob es am Rauch und mangelnder Frischluft lag, kann man nicht genau sagen. Fest steht jedenfalls, dass Krolakk erst erwachte, als ihn zwei wegen des Feuers herbeigerittene Landsknechte fanden. Die hielten ihn – wie es wohl jeder hier im Norden außerhalb von Holzstock getan hätte – für einen zurückgelassenen Räuber. Und weil es zwei Halunken waren, unterbezahlte noch dazu, lieferten sie ihn nicht beim Kommandanten ab, sondern schlugen ihn nieder und steckten ihn in einen Sack. Denn beide wussten, dass es auf dem Markt von Craeg An Duir Abnehmer für solche Arbeitskräfte gab, und das der Preis höher sein würde als das jämmerliche Zechgeld, das ihnen die Kommandatur für einen halbwüchsigen Räuber auszahlen würde.