Lisra
Über Nacht war der Himmel wieder klar geworden und jetzt wärmte die Sonne lustlos die laute Menschenmenge.
In eine raue Decke gewickelt und mit um die Knie geschlungenen Armen saß Hlinka auf einem Fass in einer Ecke des Burghofs und beobachtete das Treiben mit müden Augen. Das Holz unter ihrem Körper schien das einzig reale in ihrer Wahrnehmung zu sein. Alles andere, das Licht, die fernen Mauern und das chaotische Konzert aus zahllosen Stimmen erreichte sie kaum, prallte gegen sie wie Wasser an eine Kaimauer.
All diese Menschen, dachte sie.
Zusammengetrieben, aber von wem? Warum tut jemand so etwas?
Sie hatte nicht gefragt, wer die anderen waren, oder wovor sie flohen. Hlinka hatte am Ende des Waldes gelauert, gewartet. Noch bevor an den Morgen zu denken war, kamen sie, erst in Gruppen, dann im Strom. Hunderte, Stücke ihres Besitzes, oder andere tragend, ohne Schutz außer ihrer schieren Zahl. Niemand hatte bemerkt, wie sie sich dem Zug anschloss. Jeder blickte zu Boden oder stumpf nach vorne.
„Hier, Kind, nimm auch etwas.“
Hlinka blinzelte und sah auf die hölzerne Schale, die ihr hingehalten wurde. Suppe, dick und dampfend, schaute zurück. Sie zog einen Arm aus der Decke hervor und nahm die Schale entgegen. Eine ältere Frau hatte sie ihr angeboten, eines ihre grauen Augen war blutunterlaufen, und dünne Linien durchfurchten ihr Gesicht. Das bisschen Haar, das unter einem Kopftuch hervorlugte, war grau. Das Gesicht einer Mutter.
Die Augen der Frau huschten zu Hlinkas Arm. Das große Kettenhemd ließ sich nicht verbergen.
„Iss, Kind“ murmelte sie, und wandte sich ab.
Kind, hallte es in Hlinkas Kopf wieder. War sie nicht mehr als ein Kind, hilflos und allein?
Nein, sie war kein Kind, aber sie konnte nicht anders als sich so zu fühlen. Langsam trank sie den heißen Inhalt der Schale. Die Erinnerungen an das Geschehen, die Gedanken an ihr altes Leben, waren nicht so greifbar wie Suppe und die ziehende Leere in ihrem Magen.
Wem gehört dieser Ort? fragte sie sich. Ein Banner hing über dem Tor, das sie nachts passiert hatten, aber sie konnte nichts damit anfangen. Wahrscheinlich war es der Herr all dieser Menschen, der Mann der sie jetzt in der Not beschützen musste. Hlinka sah hoch zum Bergfried, doch in keinem der Fenster konnte sie etwas erkennen.
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„Das ist also euer Problem? Ein Haufen Bauern?“
„Ein Haufen Bauern, den ich nicht füttern müsste, wenn sich jemand an seine Anweisungen gehalten hätte.“
„Nicht jeder ist so gründlich wie ich.“
„Ich freue mich auf den Beweis für eure ständige Angeberei, Aramand. Dann steht auch eurem Anteil an diesem ganzen Unternehmen nichts mehr im Weg.“
„Gut. Was soll mit ihnen passieren?“
„Sie sind Zeugen. Sie dürfen die nächste Burg nicht erreichen.“
„Niemand? Vergesst es, ich bin kein Schlächter. Außerdem sind das auch für mich zu viele, irgendwer würde sicher entkommen können.“
„Ihr sollt nur für Ablenkung sorgen. Lasst Feuer regnen oder so etwas, und achtet darauf, dass niemand entkommt. Die kalte Hand kümmert sich um den Rest.“
„Ich soll mit diesem Abschaum losziehen? Und ich hasse Feuer.“
„Schleudert Blitze. Ihr seid der Magier und Eure Belohnung ist höher als die für den gesamten Mob. Mehr als diese Burg. Das ist es doch, was Ihr immer wolltet, flüstert man mir zu.“
„Ihr wisst ein wenig zu viel, oder?“
„Erledigt euern Job, Aramand, und Ihr kriegt ihren Lohn. Keine weiteren Fragen.“
„Wie ihr wollt… Lord. “
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Ein weiterer Weg¸dachte Hlinka,
wieder stumpfes Gehen.
Hier könnt ihr nicht bleiben, hier ist es nicht sicher, sie werden euch sicher folgen, ihr müsst weiter, man wird sich dort um euch kümmern, es hilft nichts, die Götter blicken kalt auf uns… Sie hatte die Worte des Vogts ohne Protest akzeptiert, denn es hatte auch so genug Geschrei gegeben. Wächter hatten den Vogt schließlich zurück in den Bergfried eskortieren müssen, bevor ihn die Menge in Stücke reißen konnte.
„Er ist der Herr“ hatten sie gesagt, „er muss uns doch beschützen, aber er reicht uns weiter wie Vieh.“
Hlinka hatte nichts gesagt. Ihre Eltern hatten keinen Herrn, sie hatte keinen Herrn. Natürlich gingen Steuern an den Herrscher, weit entfernt in seinem Schloss, natürlich empfingen Priester ihre Gaben, aber sie hatten keinen Herrn.
Ich habe schon wieder etwas gelernt, dachte sie, Bitteres, so Bitteres. Warum verschlossen sich Menschen so voreinander?
Der Tross zog einen Pfad zwischen Hügeln entlang. Hlinka wusste nicht wo sie waren, aber die anderen schienen so zuversichtlich wie sie nur konnten, und mit dem Weg zumindest ein wenig vertraut. Hinter ihr Schritte, vor ihr Schritte, zu den Seiten hin die Dämmerung, und bald darauf die Dunkelheit. Nur noch an der Spitze und am Ende des Zuges brannte das Licht der Fackelträger Löcher in die Nacht.
Sie fühlte die Stellen an denen das Kettenhemd gescheuert hatte bei jedem Schritt, aber sie hatte es nicht über sich gebracht es auszuziehen. Die zweite Haut aus Metal hielt für sie die Welt auf Abstand. Kind, sagte die Stimme der alten Frau in Hlinkas Kopf. Die junge Frau schüttelte den Kopf. Kein Kind, nicht mehr. Niemals als Kind hatten ihr die Beine so wehgetan oder hatte sie ausgesehen wie ein Schatten ihrer selbst.
Um sie herum sprachen die Leute wenig, selbst die Kleinsten waren irgendwie zu Ruhe gekommen.
Warum schickte man uns weg? Weil man uns nicht ernähren kann. Wie Vieh im Winter. Vieh. Was tut man im Winter…
Eine Welle aus Angst schwappe über sie und riss sie mit sich. Mit einem tonlosen Schrei brach sie aus der Kolonne, und fühlte sich innerhalb von Sekunden von der Dunkelheit verschluckt.
Hämmernden Herzens blieb Hlinka stehen und wandte sich um. Sie hatte nur einige hundert Meter auf dem hügeligen Grasland zurückgelegt. Sie konnte in der fernen Schwärze noch gut die hellen Punkte der Fackeln ausmachen. War es das Richtige gewesen? Sie hatte sich in der Menge zunächst sicher gefühlt. Dennoch wusste sie, dass ihr eigenes Leben nur von ihr selbst gerettet werden konnte.
Einer der Lichtpunkte flackerte, als wäre die Fackel zu Boden gefallen. Dann begann das Geschrei.
Das bereits vertraute Surren von prasselnden Pfeilen wurde von den Schreien übertönt, dunkle Umrisse bewegten sich in der Schwärze.
Die Augen weit aufgerissen ging Hlinka langsam rückwärts. Sie wollte umdrehen, weiter rennen, doch sie konnte den Blick nicht abwenden. Dann tat sich der Himmel auf, und es schien kaltes Feuer zu regnen, klirrende, in der Nacht blendende Ströme aus blauen Flammen, die auf die Menschen niedergingen, mit denen sie eben noch gewandert war.
Das muss Magie sein, dachte sie, bevor ihr Instinkt die Oberhand gewann und sie wieder rennen ließ.
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Aramand schob die Ärmel seines maßgeschneiderten Hemds hoch und schleuderte einen weiteren Blitz. Er wünschte sich, dass er sich etwas in die Ohren stecken könnte, denn das ganze Geschrei ging ihm auf die Nerven. Alles in allem ein leichter Auftrag, summierte er. Wie viel Widerstand konnte man von einer Gruppe müder Bauern auch erwarten?
Er warf einen Seitenblick zu Holg. Der riesige Mann hatte in seinen Augen eindeutig zu viel Orkblut in seinen Adern, aber er befehligte die Hobgoblins der kalten Hand mühelos und effizient. Aramand wäre normalerweise unruhig in seiner Gegenwart gewesen, aber hier, umringt vom Licht seiner eigenen Magie und einem Notfall-Zauber in der Hinterhand, fühlte er nur Abscheu. Holg verkörperte das, was Aramand an seinem Beruf zuwider war, stumpfe, dreckige Brutalität und keinen Sinn für feineres Leben, nur Augen für die Menge an Schnaps, die der Lohn einbrachte.
Wenigstens musste er sich selbst kaum die Finger schmutzig machen, das eigentliche Töten übernahmen die Anderen. Die kalte Hand… Aramand spuckte auf den Boden. Wer hätte gedacht, dass ein Sohn eines Adligen mit einer Gruppe Hobgoblins zusammenarbeiten würde. Aber dies war nun einmal der Preis, den er für seinen Lohn zu zahlen hatte. Einen Lohn so fürstlich, dass er sich schon bald größer und mächtiger fühlen konnte, als es sein Vater jemals gewesen war.
Aus dem Augenwinkeln sah er, wie einer der Hobgoblins Holg etwas zurief. Der Mann sah zu ihm.
„Hexer, eine ist entkommen. Finde und erledige sie, wir sind hier fertig.“
Aramand nickte knapp. Er hatte keine Lust sich auf einen Streit einzulassen. Früher oder später konnte er dem anmaßenden Barbaren eine Lektion erteilen. Endlich konnte er von hier verschwinden. Er wandte sich vom Schauplatz des Geschehens ab. Die Dunkelheit war trotz der eisigen Feuer tiefer geworden. Er führte eine Hand zum Gürtel und nach kurzem Wühlen in seiner Gürteltasche fand er den kleinen Achat. Der Magier schloss den Halbedelstein fest in seiner Faust ein und murmelte leise ein paar Worte. Sofort verwandelte sich die Dunkelheit vor seinen Augen in ein schwarzes, monochromes Bild der Landschaft.
Eine Frau? Vielleicht kann dieser elende Auftrag mit etwas Netterem enden, dachte er. Keine weiteren Zeugen.. also dann.
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Hlinka wünschte, sie würde das Kettenhemd nicht tragen. Hlinka wünschte sich, sie wäre nicht hier. Keuchend blieb sie stehen. Die Schreie lagen ihr noch immer in den Ohren, aber schienen nicht mehr so nahe. War sie wieder entkommen? Sie hatte jedenfalls diesmal niemanden auf den Fersen gespürt.
Zum Glück, dachte sie,
hier gibt es keinen Wald. Ich muss weiter.
Weit über ihr gaben die Wolken den Mond frei, und die schwarze Nacht wich ihrer helleren, silbrigen Schwester. Hlinka blickte zur weißen Scheibe am Himmel hoch.
„Mutter Mond, schaust du heute auf deine Kinder?“ murmelte sie.
„Nur ich schau‘ auf dich, und das gefällt mir.“
Hlinka fuhr herum. Ein Mann stand nun vor ihr, deutlich größer als sie und mit einem Ausdruck von Hohn auf dem schattigen Gesicht. Er sah nicht aus wie ein Bandit oder Söldner, doch seine Ausstrahlung machte deutlich, dass er kein Freund sein konnte. Seine Kleidung war zwar elegant und seine Haare tadellos frisiert und wahrscheinlich war sogar sein Kinn glatt, doch seine Haltung war die eines Schlägers. Hlinka hatte solche Männer von weitem gesehen, meistens wenn sie von Männern des Magistrats weggezerrt wurden. Ihr Herz schlug hart gegen ihre Brust.
Sie öffnete den Mund um etwas zu erwidern, aber es kam kein Ton heraus.
Die Augen des Mannes hatten das Stück Kettenhemd fixiert, das unter ihrem Mantel zu sehen war. Langsam ging er auf sie zu.
„Du trägst eine Rüstung... aber ich glaube nicht, dass du eine Kämpferin bist.“
Ein kaltes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
„Aber ich bin neugierig.“
Mitten im Schritt nach vorne ließ er die rechte Faust nach vorne schnellen. Hlinka hob reflexartig ihren linken Arm und ging tief in die Knie. Sie fühlte den Aufschlag an ihrem Arm, und wie die Faust an ihr entlangschrammte, ohne jedoch voll zu treffen. Mit aller Kraft die sie aufbringen konnte schwang sie ihren ganzen Körper herum und versuchte ihr Gewicht hinter ihre eigene rechte Faust zu bringen. Sie traf, doch anstatt Fleisch traf sie etwas anderes. Stechender Schmerz schoss erst durch ihre Faust und dann ihren gesamten Arm entlang. Hlinka schrie auf. Ihre Knie zitterten. Sie fühle eine Hand des Magiers über ihren Kopf streichen.
„Manchmal ist mein Körper hart wie Stein“ flüsterte er. Dann traf seine Faust auf Hlinkas Stirn und sie stürzte zu Boden.
Der Boden schien aus ihrer Wahrnehmung gefallen zu sein. Dumpfer Schmerz pulsierte durch ihren Körper. Ihre Stirn schien taub geworden und der blassgraue Himmel über ihr drehte sich. Langsam drehte sich ihr der Magen um.
Ist es das gewesen? Er wird mich jetzt töten. Oh bitte lass ihn mich töten. Keine Schmerzen mehr, nie mehr fliehen, das Ende des Weges.
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Die folgende Passage musste leider herausgenommen werden, um eine FSK 14-Zulassung zu erreichen. Interessierte Volljährige können sich per PM bei Enigma melden, um sie sich zuschicken zu lassen.
Kurz zusammengefasst passiert das Folgende: Aramand bindet Hlinka mit einem Zauber an den Boden und vergeht sich teilweise an ihr, scheut aber vor einer tatsächlichen Vergewaltigung zurück. Er beschließt, sie einfach zu töten, bemerkt jedoch nicht, dass sein Zauber nicht mehr wirkt.
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Aramand stand nicht weit entfernt von der jungen Frau, die ihn bis eben amüsiert hatte. Er hielt sein Schwert lustlos in der rechten Hand. Es glänzte im Mondschein, so unbenutzt wie immer, doch er hatte den Großteil seiner Zauber verbraucht und fühlte sich nicht danach schwere Magie zu vollbringen, oder sich die Hände schmutzig zu machen, in dem er sie erwürgte. Wahrscheinlich hatte er sich bereits was eingefangen, als er nur ihre Hose berührt hatte.
Immerhin war ihr Gesicht schön anzusehen. Ich möchte mich lieber daran erinnern.
Aramand hob das Schwert, doch dann hielt er inne. Etwas, das er seit er diesen Auftrag angenommen hatte spürte, regte sich in ihm.
Den Hass, den er empfunden hatte, als seine eigene Familie ermordet worden war, er hatte ihn in ihren Augen wiedererkannt, der Zorn der Hilflosen gegen die Mächtigen. Er war nicht mehr hilflos, er fühlte sich stark, so stark, dass er sich nehmen konnte was er wollte, dass er alle, die sich ihm in den Weg stellten, übertrumpfte.
Er war nicht besser als die Mörder seines Vaters.
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Hlinkas Blick war auf das Schwert geheftet. Ihr Herz schlug schon so lange so hart, dass sie es kaum noch wahrnahm, und ihr Körper schien gleichzeitig leer und in Flammen zu stehen. Sie wollte sich übergeben, weg, oder überhaupt etwas tun, aber sie blieb liegen.
Dann tat der Mann etwas, dass Hlinka blinzeln ließ. Er stieß das Schwert in den Erdboden schlug sich selber gegen die Stirn und schrie.
„VerdammtVerdammtVERDAMMT!“
Er wandte sich ab, machte ein paar Schritte, schrie erneut, fasste sich an den Kopf, trat gegen einen Stein.
„Warum gerade jetzt, warum schon wieder, WAS IST BLOß LOS MIT MIR?“
Er ist verrückt, dachte Hlinka. Sie rollte sich auf den Bauch, keuchte und übergab sich. Neben ihr schrie und tobte der Mann gegen etwas, das nur er sehen und fühlen konnte.
Als die Welle der Übelkeit leicht nachließ, wischte sich Hlinka einmal über Mund und Hals und stemmte sich hoch. Ihre Beine, nein, ihr ganzer Körper zitterte, aber sie konnte stehen.
Ihr Blick glitt zu dem Schwert, das neben ihr im Boden steckte, und dann zu dem Mann, der seinen Kopf in den Händen hielt und wimmerte.
Hass kochte wieder in ihr hoch. Aber der Mann war hilflos, irgendwo in seinem eigenen Kopf gefangen, vielleicht mit den Geistern all jener, denen er Ähnliches und schlimmer angetan hatte. Dann erinnerte sie sich an seine Augen. An die Leichtigkeit, mit der er bereit gewesen war, sie erst zu schänden, dann zu töten, an die Überheblichkeit in seiner Stimme, daran, dass er in ihr als Frau keinen Menschen zu sehen schien.
Hlinka ergriff das Schwert und Verzweiflung und Hass gaben ihren Armen Kraft. Sie riss die Waffe aus dem Boden heraus, in die Höhe und schwang sie nach ihm.
Sie schlug und schlug, bis ihr nicht einmal mehr Wut länger Kraft geben konnte. Sie ließ das Schwert achtlos fallen, schwankte auf der Stelle und gab dem, leeren Körper einen letzten Tritt.
Dann wandte sie sich und ging, wahllos geradeaus, mit schweren Schritten. Sie wusste, er würde wiederkommen, wenn sie beim nächsten Mal die Augen schloss. Sie würde abwechselnd ihn sehen, über sich, und ihn dann unter sich, reduziert zu dem, was er in ihr gesehen hatte, ein Stück Fleisch.
Ich habe gelernt, dass ich töten kann.
Ohne stehen zu bleiben hob Hlinka ihre Hand zu ihrer Wange. Sie hatte nicht bemerkt, dass Tränen gekommen waren. Endlich.