[Schreibwettbewerb - Runde IV - forfeit] Lisra

Enigma

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Allein reisende Frauen zogen immer die gleichen Blicke auf sich, reflektierte Hlinka. Eine bestimmte Sorte Mann schien jedes Mal wieder nicht zu begreifen, wie eine Frau die Sicherheit von Haus oder Hof hinter sich lassen konnte. Indem man Haus und Hof niederbrennen sah natürlich. Diesmal fand sich Hlinka jedoch in der kleinen Gruppe wieder, welche am großen Tor stand und alle Neuankömmlinge begutachtete. In den letzten Wochen hatte es keine großen Menschenströme mehr gegeben. Es schien, dass jeder jetzt irgendwo angekommen oder getötet worden war. Es gab Ausnahmen; Soldaten, die Angriffe überlebt hatten, Einzelne, die von ihren Gruppen getrennt worden waren, wandernde Söldner und ähnliches Volk.

Die Mittagssonne stand hoch am Himmel und drückte ihr helles Licht auf das befestige Lager. Jeden Tag kam Hlinka an das Tor und beobachtete die Straße, einerseits um ihren Kopf von ihrer Arbeit freizubekommen und andererseits in der Hoffnung, doch eine vertraute blonde Gestalt in blau zu sehen. Jetzt verfolgte sie zusammen mit einem halben Dutzend anderer die Schritte einer Frau. Selbst in der bunten Mischung, die im Lager herrschte, stand sie heraus. Die dunklen Haare waren sehr kurz, wie bei Soldaten oder Priestern, aber sie trug weder eine Uniform, noch Hlinka bekannte Roben. Sie konnte gut zehn Jahre älter als Hlinka sein, und was von ihrem Körper zu sehen war, erinnerte sie deutlich an die Krieger, die sie immer wieder getroffen hatte, obwohl die Frau keine sichtbaren Waffen trug. Hlinka wandte den Blick von ihr ab und schaute ein letztes Mal für den Tag auf die Straße. Nichts regte sich dort bis zum Horizont. Die Steine der Straße schienen im Licht der Sonne zu glänzen und Felder, Gras und Bäume wirkten friedlich. Es war schon tagelang kein Blut über sie vergossen worden.

Obwohl Lernen eigentlich niemals endet, fühlte Hlinka sich am Ende eines Pfades angekommen. Wenn sie das fortsetzte, was man ihr aus Not beigebracht hatte, dann fühlte sie sich innerlich fast ruhig. Ihre Hände fühlten Stirne, sie zählte Pulsschläge und schnitt Zutaten für das, was die Heiler gerade benötigten, und niemand fragte sie, warum sie hier war. Ich warte nicht¸ dachte sie trotzdem fest, ich lerne.

„Die Wunde an meinem Bein zieht wieder schlimmer, aber ich traue mich nicht zu gucken, Schwester..“

„Kein Eiter oder Nässe, es schmerzt, weil es verheilt.“

Anlächeln, Mut zusprechen, Hoffnung wie ein Banner tragen, das geht wie mit einer Maske. Das ist alles, was die anderen sehen brauchen, wollen, denn wenn du brichst, werden sie alle mitgebrochen.

„Schläft Zarah endlich durch?“

„Nur wenn wir die Katze bei ihr lassen.“

„Wenn wir das nur der Katze erklären könnten.“



„Und wo kommst du her?“

Sie saßen in der relativen Wärme des provisorischen Schankraums. Unter den Augen der Männer des Königs kamen immer wieder Karawanen mit Gütern in das Lager und nachdem kein Mangel mehr herrschte, war vorsichtig wieder geschäftiges Treiben gesprossen. Die Frauen und Männer der ersten Schicht des Lazaretts leisteten einander Gesellschaft. Heiler, war Hlinka schnell klar geworden, waren eine genauso verschworene Gemeinschaft wie Bauern, Handwerker oder Soldaten. Man hatte eine eigene Sprache, verstand das Gefühl, jeden Tag mit den Kranken, Verletzten oder Sterbenden zu verbringen; und jeder, wirklich jeder, hatte seinen ganz eigenen Grund, dieses Los gewählt zu haben.

Hlinka schaute auf den Schaum in ihrem Bierkrug. Wie schnell man eine neue Perspektive gewinnen konnte, indem man sich Wissen aneignete. Sie war mit Bier aufgewachsen, Bier war was man trank, vor allem, wenn dem Wasser nicht zu trauen war Sie hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was genau die Wirkung auf einen Körper sein kann. Wieviel eine Priesterschülerin doch erzählen konnte. Doch lieber schlechtes Bier als eine Seuche, da bestand kein Zweifel.

„Ich bin nicht von hier“ antwortete sie schließlich „meine Familie besitzen ein wenig Land weit im Osten. Besaßen.“

„Heimatlos?“ kam die nächste Frage, sanfter anstatt neugierig.

Hlinka schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht. Ich bin seit Monden unterwegs und weiß nicht, wie es ihnen ergangen ist. Ich weiß nur, dass der Krieg auch über unser Land gezogen ist. Selbst wenn ich wollte, ich kann nicht zurück. Weder die Männer des Königs, noch die kalte Hand und ihre neuen Freunde lassen mich.“

Es war das gleiche Lied seit Wochen. Monaten? Ihr Kopf schien zu schmerzen, wenn sie versuchte genau aneinander zu reihen was alles passiert war, wie viel Zeit tatsächlich vergangen war, seit sie den Hof verlassen hatte.

„Die Wege sind geschlossen oder gefährlich, Heere und Meuten überall.“

Von der kleinen Runde kam zustimmendes Gemurmel.

„Wie kamst du eigentlich zu den Heilern?“

Hlinka blickte auf. Sie konnte sich nicht an den Namen des Mannes erinnern. Er war vielleicht erst dreißig, aber Furchen und die Reste zahlreicher schlechter Rasuren gaben seinem Gesicht einen bearbeiteten Ton.

„Wie meinst du das?“ fragte sie, ehrlich erstaunt.

Der Mann zeigte mit dem Finger auf ihre Brust. Die Heilerin neben ihm zog abwertend die Augenbrauen hoch.

„Deine Kleidung, Mädchen. Wenn wir nicht die hellen Roben tragen, dann sehen wir aus wie die anderen Bauern, aber du..“

Ihre Augen glitten unwillkürlich nach unten, aber es war ihr bereits klar geworden was er meinte. Sie trug ihr Kettenhemd und noch immer Reste der Uniform. Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ein Andenken,“ sagte sie knapp, doch weil das nicht genug zu sein schien, fügte sie hinzu: „Ich fühle mich sonst schutzlos.“

Einige runzelten die Stirn, doch niemand antwortete etwas darauf. Jeder hatte seinen eigenen Grund, dieses Los gewählt zu haben.

„Seid ihr aus dieser Gegend?“ fragte sie zurück, um die plötzliche Stille zu vertreiben.
Auch das ist eine Maske, denn wenn du nicht fragst, fragen sie weiter. Antworten heißt erinnern.

Der Mann hob die Hand. Hlinka blickte zwischen seinem Gesicht und den Händen hin und her, bis ihr aufging, wie seltsam das aussehen musste. Sie griff stattdessen nach ihrem Krug und vermied jeden Blick.

„Ich komme aus dem Wald direkt südlich von hier. Ich lebte bei einer Gruppe Holzfäller, denn die brauchen oft schnell einen Heiler.“

Gegenüber gab eine dickliche Frau, die vom Alter her gut Hlinkas Mutter sein könnte, ein glucksendes Lachen von sich.

„Es kann doch nicht so schwer sein zu kontrollieren wie fest die Klinge an einer Axt sitzt!“ Ihre Stimme war wie nasser Kies. Kehlenbrand springt häufig auf uns Heiler über, aber wenn wir uns darauf vorbereiten, geht nur unsere Stimme, nicht unser Verstand; kam die andere Stimme aus Hlinkas Gedächnis. Sie schob sie beiseite, unwillig, wieder daran zu denken.

„Jetzt durchstreifen Wölfe den Wald, in Gruppen, und treiben die Menschen vor sich her. Eine Familie Elfen lebt tief in seiner Mitte, aber die haben Verstecke, die uns verborgen sind. Uns blieb nur die Flucht.“

„Wölfe tun das doch nicht?“ Die einzige Priesterin unter den Heilern, Iasmin, blickte den Mann entsetzt an, die grasgrünen Augen weit aufgerissen.

„Magie, Iasmin, böse Magie.“ Jemand gab ihm unter dem Tisch einen Tritt.

„Erschreck sie doch nicht!“ krächzte die Dicke.

Beleidigt rieb er sich das Schienenbein. „Ich sage euch, dass es stimmt. Die Schamanen der Hobgoblins können Wölfe verhexen, wie die liebe Iasmin Gift vergehen lässt.

Der Feind hat auf jeden Fall auf seiner Seite.

„Hlinka,“ Iasmin zog sie aus ihrer Überlegung „die da ist sicher auch nicht von hier!“

Unauffällig nickte die Priesterin mit dem Kopf zur anderen Seite des spärlichen Raumes. Hlinka sah sich um. Offenbar erregt am diskutieren mit einem Mann, den sie nie bewusst wahrgenommen hatte, war die junge Frau, die sie heute morgen am Tor gesehen hatte. In dem Dämmerlicht des Schankraums wirkte sie noch deplatzierter als zuvor. Die kurzen Haare, die aufrechte Haltung und ein Gesichtsausdruck, der trotz der offensichtlichen Hitze des Gesprächs völlig ruhig war, ergab ein Gefühl der Fremdheit in einer Welt, in der mit jedem Tag mehr Linien auf Gesichtern erschienen. Sofort brach angeregtes Flüstern in der Runde aus.

„Streiten die sich?“

„Sie wirkt so gelassen.“

„Wer ist dieser Kerl?“

In diesem Moment öffnete sich die Tür zum hinteren Bereich, in dem der Wirt Kjarl die meiste Zeit vor einem Kamin verbrachte, bis jemand, vorzugsweise jemand mit Geld, gegen die Tür trat und Erfrischung verlangte.
„Du!“ brüllte der Wirt in Richtung des Mannes, „Mach, dass du raus kommst! Für Gesindel wie dich hab‘ ich hier keinen Platz!“

Kjarl ähnelte am ehesten einem Bären mit Schürze. Der dicke Bauch, der buschige Bart und ein Hang zur kleinlichen Gier luden dazu ein ihn zu belächeln, aber in einer fleischigen Hand hielt er ohne jegliche Anstrengung eine schwere Keule aus schwarzem Holz.

Der Holzfäller stand auf. „Kjarl, also wirklich-“

„Kein Platz hab‘ ich gesagt, keine Widerworte, Derv, kein gutes Wort verdient der, schon gar nicht von euch Heilern.“

Der Mann floh aus dem Schankraum ohne etwas zu erwidern. Kjarl blickte mit vor Zorn verzerrtem Gesicht umher, vergewisserte sich im selben Moment, dass niemandem neue Getränke aufgeschwatzt werden konnten, und verschwand. Die Tür schlug hinter ihm zum.

„Was war denn jetzt los?“ fragte Iasmin.

„Schuldet ihm sicher Geld.“

Hlinka schüttelte den Kopf, nahm einen weiteren Schluck Bier und entschuldigte sich für einen Moment.



Als die Nacht sich bereits über das Lager gelegt hatte, saß Hlinka wieder am selben Tisch. Diesmal versuchte sie, die Reste eines gebratenen Hühnereis auf die Klinge ihres Messers zu bekommen. Ihr Soldatenmantel lag um ihre Schultern, denn Kjarl gab dem Raum nur Lampen, keine weitere Wärmequelle.

„Verzeihung.“

Überrascht sah Hlinka von ihrer Arbeit hoch. Es war die Fremde. „Ja bitte?“ fragte sie zurück, und stolperte fast über ihre Zunge.

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Es war niemand sonst im Raum. Hlinka zögerte einen Moment, dann nickte sie. „Klar.“

Die Frau setzte sich und Hlinka nutze die Gelegenheit sie genauer anzusehen. Ihre Augen waren fast so dunkel wie ihre Haare. Die Arme waren trotz der nächtlichen Kälte bloß und gebräunt wie bei einer Bäuerin, aber ihre Statur sprach „Kriegerin“. Um ein Handgelenk wand sich ein Muster, wie Tinte auf der Haut.

„Wie heißt du?“ fragte sie und wandte den Blick von den Armen der Frau ab.

„Mjinn,“ kam die Antwort. Die Stimme war so sanft und fest wie ihr Blick.

„Miyinn?“ versuchte Hlinka, aber ihre Zunge wandte sich ungeschickt um die Fremde Silbe. Die Frau jedoch lächelte freundlich und nickte.

„Und du?“

„Hlinka.“

„Linka?“

Sie grinste. Sie war wirklich nicht von ihr. In Hlinkas Innerem regte sich etwas, dass sie seit einer Weile nicht mehr gefühlt hatte. Jemand war noch fremder und verlorener als sie. Sie war nicht allein. „Genau.“

Das letzte Stück geronnenes Eiweiß wurde auf der Messerspitze aufgespießt und einen Moment später widmete sie sich wieder Mjinn.

„Tut mir Leid das ich so direkt Frage, aber was ist das um dein Handgelenk?“

Mjinn hob erstaunt ihren Arm ein Stück.

„Meine Tätowierung. Es sagt, wer ich bin und woher ich komme.“

Sie erriet Hlinkas Gesichtsausdruck.

„Ich bin ein Mönch. Ich habe mein Leben in einem Kloster in den Bergen verbracht und die Lehren der Meister studiert. Der Pfad ist mein Leben.“

„Der Pfad?“

Hlinka lehnte sich zurück und lauschte fasziniert. Mjinn hatte ihr junges Leben hinter hohen Mauern eines Klosters verbracht, und viele Dinge getan, die Hlinka nicht verstand. Es klang wie das Beten der Priester, aber es waren keine Götter involviert, wie das Training von Kriegern, ohne dass sie in den Krieg zogen und wie das Leben eines Stücks Vieh, das seinen Stall als Heimat akzeptierte. Doch jetzt, nachdem die Jugend vorüber war, war eine neue Zeit angebrochen. Sie sollte die Seite umblättern, hatte ihr Meister gesagt, der Mann an der Spitze des Klosters. Mjinn hatte lange nachgedacht, meditiert. Es klang für Hlinka wie ein Zustand zwischen Traum und Gebet, in dem man seinen Gedanken ausgeliefert ist. Mjinn hatte schließlich beschlossen, dass es Zeit für sie war das Kloster zu verlassen.

Sie schien nur sichere Pfade und Straßen gefunden zu haben, immer leer oder unter den Augen der Männer des Königs, bis sie das Ende hier erreicht hatte. Mjinn war voller Fragen.

„Jeder ist so rastlos und gebeugt,“ sagte sie, die Stimme voller Unmut und Verwunderung, „Felder liegen brach und niemand will erklären, was los ist.“

Hlinka kletterte langsam über die stetig wachsende Mauer aus Fragen, bis sie das Gefühl hatte zu jeden Moment zu fallen. Am Boden würde all das liegen, was sie erlebt hatte und nicht mehr teilen konnte, seit Skeira sie verlassen musste, aber sie wollte nichts sagen. Mjinn war freundlich, in einer distanzierten und ungeübten Art, aber trotzdem ließ eine innere Unruhe sie nicht los.

„Du zögerst mit jeder Antwort mehr,“ sagte Mjinn sanft.

Hlinka öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder.

„Es gibt eine falsche Wahrheit,“ fuhr sie fort „die sich manchmal offenbart, wenn Leid auf Leid auf dem Pfad liegt. Sie lautet ‘Wahrheit liegt in Einsamkeit, wenn all die Hoffnung vergangen ist‘.“ Die Sicherheit mit der sie Sprach ließen sie einmal mehr wie eine Priesterin erscheinen. „Das ist ein Irrweg. In Einsamkeit findet sich weder Wahrheit noch Hoffnung.“

„Leid auf Leid, Miyinn, ist mein Pfad, seit ich von zu Hause aufbrach. Du sagst, Bücher im Kloster erzählten vom Leid in der Welt, aber du hast selber noch nie Leid erlebt. Leid, Miyinn, treibt dich in Einsamkeit, wenn jeder Mensch, den du triffst neues bedeutet.“

Sie stand auf.

„Es ist spät. Im großen Haus gibt es Platz wo du schlafen kannst. Ich zeig dir, wo es ist.“

Mjinn machte Anstalten zu antworten, ließ dann aber die Schultern hängen und folgte Hlinka. Seit sie das Kloster verlassen hatte, war sie nie so lange mit jemanden im Gespräch gewesen und hatte so wenig erfahren. Es gab so viel, das sie noch fragen wollte, über die Menschen, über was diese Welt zusammenhielt, diese so fremde Welt, und was sie mit denen in ihr tat.

Das große Haus, die Schlafbaracke für die ohne Familie oder ohne besonderen Nutzen, lag wie alle Schlafplätze, außer die der Heiler, am anderen Ende des Lagers, fast direkt an der Mauer. Es war eine Ironie des Schicksals, dass der Teil des Lagers, der am wenigsten Schutz nötig hatte, am stärksten befestigt war. Niemand konnte unentdeckt große Truppenteile durch den Wald führen. Schon bei Tag wirkte er dicht, doch bei Nacht war er eine schwarze Wand. Nicht bloß der Feind gebot über Magie, da war Hlinka sich sicher.

Dies bedeutete allerdings, dass man ein großes Stück des Lagers zu Fuß durchqueren musste. Es war nur so weit beleuchtet, dass man nicht gegen abgestellte Wagen oder ähnliches lief. Es gab keine Wachen im Lager. Der Feind war schließlich außerhalb der Palisaden und Mauern.

Die beiden Frauen gingen schweigend nebeneinander her. Hlinka wollte das Gespräch nicht weiterführen und Mjinn schien nicht zu wissen, wie sie damit umgehen sollte.

Etwas bewegte sich in der Schwärze neben ihnen. Einen Augenblick später gab Mjinn einen erstickten Schrei von sich.

„Ich weiß, dass du da bist,“ sagte eine leise Stimme. Eindeutig der Mann, mit dem sie Mjinn Stunden zuvor gesehen hatte. „Deine Freundin hat eine Hand vor dem Mund und ein Messer am Hals.“

Vertraute Kälte erfasste Hlinka. Ihre Hand glitt an ihr Messer im Gürtel. Warum trug sie nur ihr Schwert nicht mehr. Weil es andere zum Fragen verleitet.

„Probier das nicht. Ich kann dich sehen, Kleine.“

Hlinka biss die Zähne zusammen. Ich würde ihn schaffen. Er ist nur ein Mann. Ein einziger Mann. Wenn ich ihn nur sehen könnte. Ich bin nicht hilflos. Aber Miyinn… Sie hörte das Geräusch von aneinander reibendem Stoff, gefolgt von einem Knacken. Jemand schrie auf, ein Mann. Ein dumpfer Aufschlag, jemand war gestürzt.

„Miyinn, was bei den neun-“

„Ich habe ihm die Messerhand gebrochen und die Beine geschert.“

„Was? Wie… Halt ihn fest!“ zischte sie zurück.

„Wieso, er ist doch-“

Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und gab sein schwaches Licht. Ein Paar Schritte weiter weg versuchte jemand, sich aufzurichten.

Die Kälte in ihr schlug um in ein wütendes Feuer. Danke, Mutter, dachte sie. Bevor der Mann wieder auf beiden Beinen stand war sie vor ihm, griff seinen kahlen Kopf und zog ihn mit Wucht gegen ihr hoch kommendes Knie. Über den Aufschrei des Mannes hinweg rief sie selbst mit kaum einem Zittern in der Stimme: „Wachen!“

Sie widerstand dem Drang zuzutreten, als der Mann sich auf alle Vieren stütze und ungesehen Blut aus seiner Nase tropfte.

Mjinn stand daneben, den Blick voll neuer Fragen.



Sie lag wieder unter ihm, während seine Finger fast zärtlich über ihr Gesicht glitten, doch sie berührten nur eine Maske. Sie konnte seine Augen nicht sehen, aber sie hörte die kalte Stimme deutlich, wie wenig sie doch sei. Dann wurde die Maske von ihr gerissen, und blaue Augen und ein Lächeln begrüßten sie, bevor sie sich mit Tränen füllten und sich abwandten, während ein Gewicht sie festhielt, und um sie herum die Welt verschwommen. Der Wald, kalt unter ihr, ein harter Tisch, ein Bett aus Stroh und wieder kalte Erde, während um sie herum Schatten durch die Dunkelheit huschten und der Lärm einer Schlacht die Luft erfüllte.

Hlinka öffnete die Augen, weil sie jemand an der Schulter rüttelte. Die grünen Augen von Iasmin manifestierten sich, gefolgt von der ganzen Priesterin.

„Wach auf Hlinka, bei Majara haben die Wehen eingesetzt und du musst mir helfen!“ Sie drückte ihr eine halbwegs saubere Robe vor die Brust.

„Beeil dich!“ fügte sie hinzu und eilte davon.

Das rote Licht der Morgensonne schien durch die offene Tür. Es gab zu tun. Es gibt immer etwas zu tun, wichtiger als man selbst, hatte Skeira gesagt. Hlinka hatte oft darüber nachgedacht, wie genau sie das meinte. Trotzdem zog sie sich an und eilte los. Es gab etwas zu lernen.

Ich muss Miyinn etwas mehr über die Welt erzählen. Und über mich.
 

Rote Zora

Pfefferklinge
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Wieder ein typischer Lisra mit seinem ganz eigenen Stil. Wieder frage ich mich, welche Geschichte hier eigentlich erzählt wird. Wo der Spannungsbogen ist, der Plot, und so weiter. Kein blasser Schimmer, ehrlich nicht.

Und doch nimmt einen die Geschichte mit auf die Reise dieses Charakters, ohne wirkliches Ziel, suchend, und gerade in der Art wie Begebenheiten und Begegnungen stattfinden, wahrgenommen und gedeutet werden, fühlt man sich mit Hlinka so herzlich verbunden, sieht die Welt mit ihren Augen und ist für die Momente des Lesens entführt aus dem Alltag.

Das ist schon klasse.
ZORA
 

Lisra

Schmusekater
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Danke für deine lieben Worte, Zora.

Vielleicht hat ja die finale Geschichte dann Anfang, Mitte und Klimax.
 
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