Zwinger

Kraven

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Nun denn, außerhalb des relativen Schutzes des Kurzgeschichtentopics (in das ich für die richtig kurzen Sachen trotzdem zurückkehren werde), mal ein etwas älteres, aber überarbeitetes Werk.
Neulich wurde mir vorgworfen, es fehle ein Ende, weil das als solches Gedachte zu unauffällig daherkäme. Meine eitle Künstlerseele zeigt sich da uneinsichtig, aber ich wäre auf jeden Fall weiteren Meinungen darüber dankbar :)

Zwinger

Die Sonne scheint uns zu Boden drücken zu wollen. Die Luft flimmert, noch zusätzlich aufgeheizt von dem Wellblech, das hier einen Großteil des benutzten Baumaterials ausmacht, sei es als Dächer, Wände oder Zäune.
„Ist schon 'ne verdammte Schweinerei.“
Wir laufen zwischen den Hundezwingern durch, und anders als sonst verzichtet die Meute darauf, sich bellend und winselnd gegen den Maschendraht zu werfen, der uns von ihnen trennt. Die Hitze ist zu groß; nur selten hebt eines der größeren Exemplare den Kopf und knurrt in unsere Richtung.
„Siebzehn Menschen.“
Er läuft vor mir her, so dass mein Blick in erster Linie auf seinem rot verbrannten Nacken ruht, dort und auf der dunklen Schweißlinie, die sich seinen Rücken entlang durch das Flanellhemd zeichnet.
Ich laufe hinter ihm her, in der einen Hand eine lange Stange aus Metall, mit einem Querstück aus Gummi, in der anderen einen Eimer mit Fleisch, ganz klebrig vom Blut.
„Weißt du“, sagt er und blickt mich über die Schulter an. Zumindest glaube ich, dass er mich anblickt, ich kann nicht sicher sein, wegen der Sonnenbrille, die er trägt.
„Weißt du, ich hab schon immer vermutet, dass mit dem Kerl was nicht stimmt. War immer so ruhig, hat sich immer von den anderen abgeschottet.“
Ich nicke pflichtschuldig. Ja, natürlich ist auch das eine mögliche Interpretation.

Abgeschottet. Nach dem Sportunterricht kam er regelmäßig mit einem blauen Auge nach Hause. Manchmal auch, wenn sich einzelne Schüler in der Pause gelangweilt haben.

Er hält an und zeigt auf einen der Zwinger.
„Den da.“
Ich nicke, stelle den Eimer ab und schmiere etwas von dem Blut an meinen Händen auf die Querstange. Er öffnet die Tür, und in den Dobermann dahinter kommt Bewegung. Das Vieh springt auf mich zu, und ich halte die T-Stange zwischen uns. Der Hund verbeißt sich in dem Gummi, leckt das Blut, will mir die Stange aus den Händen reißen. Dann jault er auf und geht mit zuckenden Hinterbeinen zu Boden, und der Mann steckt den Elektroschocker wieder ein und wischt sich den Schweiß vom Gesicht.
„Atmet er noch?“
Ich schaue mir den Brustkorb des Hundes an, der sich flach hebt und wieder senkt. Ich nicke.
„Gut“, sagt er und lächelt verlegen. „Ist ein neues Modell, ich kenn mich mit den Dingern nicht so aus.“
Er geht an dem Hund vorbei in den Zwinger.
„Jedenfalls ein echt krankes Aas. Meine Güte, unter den Opfern waren auch vier Mädchen. Muss man sich mal vorstellen. Fünfzehn Jahre alt, das ganze Leben noch vor sich.“
„Ja“, sage ich. „Fünfzehn Jahre alt.“

Genauso alt wie er. Die kleine Vierergruppe hatte in der Klasse eine ziemliche Vormachtstellung und hackte mit besonderer Vorliebe auf dem Klassenopfer herum. Verpassten ihm Ohrfeigen, spuckten ihn an. Lachten ihn aus und meinten, er solle froh sein. Näher würde eine schwanzlose Tucke wie er weiblichen Körperflüssigkeiten sowieso nicht kommen.

Er geht in den Zwinger, untersucht das Futter. Nickt zufrieden.
„Das Fleischkonzentrat hat es ihm angetan. Gut so. Beschleunigt das Muskelwachstum, macht aggressiv. Aus dem wird mal ein ganz Großer.“
Ich nicke, gehe ebenfalls in den Zwinger und werfe ein paar Fleischbrocken in den Napf. Zur Belohnung.
„Und die Lehrer“, murmelt er und fängt an, die Zähne des Hundes zu untersuchen. „Eigentlich müssten die Gefahrenzulage verlangen. Da machst du zwanzig, dreißig Jahre lang deinen Job. Du bringst den Kindern all das wichtige Zeug bei, das sie mal brauchen im Leben, schreiben, rechnen und das ganze Zeugs halt, bereitest sie auf die harte Zeit nach der Schule vor. Und dann dreht so ein Psycho einfach durch und knippst dir die Lichter aus. Ich sage dir, findest du das gerecht?“
Ich schüttele den Kopf. „Nein.“

Er war ein paar mal bei den Lehrern. Nicht wegen der Mädchen, das war ihm zu peinlich. Wegen der Jungs, wegen der Schläge, die er einstecken musste. Es gab ein Gruppengespräch. Ein paar mussten zum Vertrauenslehrer, um sich dort bitten zu lassen, den armen Jungen nicht derart zu drangsalieren. Jedesmal nach einem solchen Gespräch wurden die Schläge schlimmer, fast so schlimm wie die Hänseleien.
Aber natürlich redeten die Lehrer auch mit ihm. Dass er auffallend oft das Opfer solcher Taten sei. Ob er das vielleicht irgendwie herausfordere? Was genau er eigentlich mit Mobbing meine. Übertrieb er nicht etwas? Ob ihm eigentlich bewusst sei, was ein Akteneintrag für die Schüler bedeute, die er da dauernd bezichtigte.
Nach dem dritten Mal hatte er seine Lektion endlich gelernt und ließ sie in Ruhe.

Wir schleifen den leicht zuckenden Hundekörper zurück in den Zwinger, schließen das Gatter und gehen weiter.
"Ich kann jetzt noch weitermachen mit diesen ganzen abnormen Killerspielen, die er auf dem Rechner hatte, aber ganz ehrlich, wozu eigentlich? Keine Achtung mehr vor irgendwas, einfach nur draufhalten. Geschissen auf die Menschenwürde."

Nachdem er aufgehört hatte, bei den Lehrern um Hilfe zu bitten, pendelte sich die Gewalt langsam ein. Keine Strafen, keine Übertreibungen, nur das alltägliche Herumtrampeln, Hänseln, manchmal ein Schlag in den Magen im Vorbeigehen, eine geworfene Coladose gegen den Kopf. Wenn dabei Cola auslief und sich auf seinen Sachen verteilte, gab es Extrapunkte. So ging das. Jeden einzelnen Tag.

Wir kommen an einem weiteren Zwinger vorbei. Der darin gefangene Huskywelpe trottet hechelnd auf uns zu. Der Mann schnaubt.
„Schau dir das an. Hat nichts drauf, keinen Killerinstinkt, nichts. Ein verdammter Schoßhund.“
Er tritt gegen das Gatter, und der Hund weicht winselnd zurück.
„Feigling.“ Er schaut mich an. „Genau wie dieser Psycho. Nicht die Eier, sich seinen Problemen zu stellen, und marschiert dann mit einer Schrotflinte durch die Schule, um sich wenigstens einmal in seinem jämmerlichen Leben groß zu fühlen. Und als er fertig war und erkannt hat, dass er da nicht mehr raus kommt, hat er wieder den Schwanz eingezogen und sich mit 'ner Kugel in den Kopf aus der Affäre gezogen. War auch dieses mal zu feige, Verantwortung zu übernehmen.“

Ich muss daran denken, wie er damals vor mir stand, blutige Fußabdrücke hinter sich lassend, in diesem bescheuerten Ledermantel, der ihm zu groß war, und ich lag auf dem Boden, mit einer Kugel in den Eingeweiden, und ich dachte, jetzt bringt er es zu Ende, er bringt mich um, weil ich ihm nie geholfen habe, obwohl ich all das gesehen hatte. Dann hob er die Pistole, lächelte mir mit Tränen in den Augen zu und verteilte sein Hirn auf der Wand des Schulkorridors.

Der Mann schüttelt den Kopf und betrachtete den zitternden Welpen. „Fehlzüchtung. Was soll's. Wenn wir zurück sind, mach schonmal das Pentobarbital fertig. Morgen bekommt er die Spritze.“
Er wendet sich ab und stapft weiter, die Hunde in den Käfigen beobachtend. „Verdammte Sauerei“, murmelt er wieder. „Möchte wissen, was mit dem Freak los war.“

Der kleine Welpe versucht, an meiner Hand zu lecken, kommt aber wegen der Gitter nicht an mich heran.
 

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Running out of Time
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Wohin die äh...Parabel(?) führt wird ja schon nach einigen Zeilen klar. Tatsächlich hatte ich bei dir noch einen Schocker erwartet,:D aber ich finde der ist ja gar nicht nötig, ist halt eine endlose Geschichte.
 
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