@ Darghand: Das Henne-Ei-Problem an sich entwickelt Platon ja schon im
Euthyphron-Dialog.
Meiner Erfahrung nach lassen sich (redlich argumentierende) Christen nicht auf das eigentliche Dilemma ein, mit dem Hinweis, dass es für den christlichen Glauben irrelevant sei, da ihr Gott das Gute an sich sei. Gott und das Gute sind identisch - damit überbrücken sie die Problematik. Gott muß nicht wissen, was das - von ihm unabhängige - Gute sei. Denn es ist nicht unabhängig von ihm. Henne und Ei sind identisch. Alle göttlichen Gebote sind also Selbst-Aussagen, Gott schreibt den Menschen nicht vor, wie sie sich zu verhalten hätten, sondern er sagt ihnen, wie, wer und was er ist.
Ich sage nicht, dass mich diese Argumentation überzeugt, aber wenn man die entsprechende Gottesdefinition als Prämisse akzeptiert, dann ist es stringent.
Meiner Ansicht nach liegt das eigentliche Problem
vor der Prämisse, dass Gott das Gute sei. Es liegt darin, dass "das Gute" möglicherweise gar keine klar definierbare Bedeutungsmenge hat. Wer sich also auf Diskussionen darüber, woher die Menschen wissen (können), was gut und was böse sei, einläßt, hat schon verloren, weil er implizite der Voraussetzung, gut und böse könnten sinnvoll voneinander unterschieden werden und seien ein Gegensatzpaar, schon zustimmte.
Man muß, wenn man sich über dieses Thema Gedanken macht, m.A.n. berücksichtigen, in welchem Zusammenhang hier diskutiert wird und was das Kernargument der Gottesgläubigen ist. Beziehungsweise: was ihr zugrunde liegendes Interesse ist.*
Das Kernargument der Gottesgläubigen lautet: Wenn es keine absolute, d.h. nicht-subjektive, nicht-relative Instanz gibt, die entscheidet, was gut und was böse ist, dann sind wir Menschen unfähig, herauszufinden, was gut und was böse ist, denn dann ist alles moralisch relativ. Oder, um es mit dem berühmten Dostojewski-Zitat zu formulieren: "Ohne Gott ist alles erlaubt."
Damit haben die Gottesgläubigen voll und ganz recht. Und leider versuchen viele Glaubens- und Religionskritiker an dieser Stelle auszuweichen und faseln dann irgendetwas über humanistische Werte usw., statt einfach erstmal klar zu bekennen: "Es gibt tatsächlich keinen absoluten Blickwinkel darauf, was gut und was böse ist. Gut und böse sind relativ."
Erst, wenn man dies zugegeben hat, kann man konsistent auf das Problem der Gläubigen inweisen: Dass selbstverständlich auch mit Gott "alles erlaubt" ist.
Das Gegenargument der Gläubigen lautet ja sinngemäß: "Nein, Gott
ist ein absoluter Bezugspunkt, unabhängig von uns Menschen, unabhängig von mir, dem Gläubigen. Schließlich habe ich mir Gott nicht ausgedacht, wenn ich mit ihm kommuniziere, kommuniziere ich mit einem Gegenüber und führe keine Selbstgespräche. Gott gebietet sogar öfter mal Dinge, die mir nicht passen, was einen klaren Beweis dafür liefert, dass er von mir verschieden ist."
Knackpunkt dieser Argumentation is die Nicht-Identität von Gott und Gläubigem, bzw. von Gott und Gläubigen-Projektion. Überall in christlichen Gefilden trifft man auf die Behauptung, die Gläubigen würden eine
Beziehung mit Gott führen. Gott als Gegenüber. Glaube als Vertrauen in das Gegenüber...
Wenn nun aber hirnphysiologisch nachgewiesen wird, dass das gläubige Gehirn dieses Gottes-Gegenüber so behandelt, als sei es Teil des Ichs (während alle anderen
vorgestellten Gegenüber, selbst nahe Freunde, Geliebte und Familienangehörige, vom Gehirn als Nichtbestandteil des Ichs behandelt werden), bricht die gesamte Argumentation zusammen.
Das Euthyphron-Dilemma läuft genau auf diese Erkenntnis hinaus: dass nicht unterschieden werden kann, zwischen dem, was Gott will (gut findet) und dem, was der Mensch will (gut findet). Aber Platon standen halt noch keine Hirn-Scans zur Verfügung.
@Veldryn:
Ich muss dir widersprechen, was sehr selten vorkommt - aber ich bleibe dabei, es gibt keine "Wissenschaftsgläubigkeit".
Hehe, na, ist doch gut, wenn wir mal unterschiedlicher Meinung sind, sich immer nur gegenseitig auf die Schultern zu klopfen wird ja irgendwann auch langweilig, oder?
Wenn du natürlich unter Wissenschaftsgläubigkeit etwas anderes verstehst, ok
Etwas anderes als was? Ich habe noch nicht so recht verstanden, wie Du Wissenschaftsgläubigkeit definierst.
Ich definiere sie so: Wissenschaftsgläubigkeit ist das Vertrauen darauf, dass die Wissenschaftler alle (relevanten) Fragen beantworten beantworten können. Jetzt oder in der Zukunft. Darunter auch ethische Fragen.
Die fundamentalistisch wissenschaftsgläubigen Leute glauben sogar, dass die Wissenschaftler schon alle relevanten Fragen beantwortet hätten. Solche fundamentalistischen Wissenschaftsgläubigen laufen z.B. in Kreationismus-Diskussionen den religiösen Apologeten ins offene Messer, denn ihr Optimismus, es seien schon alle relevanten Antworten wissenschaftlich gefunden worden, verleitet sie, so steile Thesen zu formulieren wie die, dass die Evolutionstheorie
bewiesen sei.
Die Wissenschaftsgläubigkeit führte in der Vergangenheit zu solch unschönen Phänomenen wie dem Tugendterror der Jacobiner oder dem Sozialdarwinismus (nicht nur) der Nazis. Die Wissenschaftsgläubigen haben sich in aller Regel nicht mit der Dialektik der Aufklärung beschäftigt, sehen nicht die Gefahren der "totalen" Aufklärung und begehen den gleichen Kategorienfehler wie die Gottesgläubigen, indem sie ontologische und ethische Fragestellungen vermischen. Sie glauben allen Ernstes, Soziologen, Psychologen, Neurologen und andere Wissenschaftler könnten uns Wahrheiten darüber, was gut und was böse sei, liefern - heute oder zukünftig.
Ebenso wie die Gläubigen halten sie häufig ein argumentum ad auctoritatem/verecundiam für valide (Schon Einstein sagte...). Ihnen fehlen darüber hinaus meist basale wissenschaftstheoretische Kenntnisse und sie sind fast alle hoffnungslos optimistisch, was die Zukunft betrifft.
Die Methodik beinhaltet Regeln, die dazu dienen, dass die gewonnen Erkenntnisse so realitätsgetreu wie möglich sind. Oder anders ausgedrückt, es sollen Naturgesetze und deren Zusammenhänge miteinander erforscht werden, die die höchstmögliche Wahrscheinlichkeit bieten, tatsächlich die Realität zu repräsentieren.
Und was ist die Realität?
Wie genau läßt sich diese "höchstmögliche Wahrscheinlichkeit" denn berechnen und woher weiß man, ob es nicht noch eine höhermögliche Wahrscheinlichkeit gäbe?
Da fällt mir noch ein Kennzeichen von Wissenschaftsgläubigen ein: sie sprechen gern von "der Realität" oder "der Wirklichkeit", ohne über eine funktionierende Definition dieser Begriffe zu verfügen, mit der es ihnen möglich wäre, die Realität von der Nicht-Realität differenzieren zu können.
*Ihr Interesse besteht selbstverständlich darin, die eigenen Werte als allgemeinverbindliche Norm zu etablieren - ein Interesse, das sie mit so ziemlich allen am Diskurs Beteiligten gemein haben.