So, jetzt muß ich aber doch nochmal Gala zitieren:
Das Urchristentum war meines Wissens überhaupt nicht sexualitätsfeindlich ausgerichtet. Das kam erst in den folgenden Jahrhunderten, weil das zu dieser Zeit en vogue war. Die Sexualitätsfeindlichkeit kommt aber ursprünglich aus griechischen Philosophien, und nicht etwa aus dem Christentum. Das war die Ausgangsbasis. Von dem Urchristentum weiß ich nun nicht sooo viel, muß mich da also ganz allein auf Galas Wissen verlassen. Daß aber die Leib- und somit Sexualitätsfeindlichkeit der Kirche nicht des Verweises auf die philosophischen Autoritäten bedurfte, ist für mich logisch, wenn ich mir überlege, wozu man solche Autoritäten heranzieht: Nämlich um den eigenen Standpunkt zu untermauern. Also erst ist da der Kirchenvertreter, der den Gläubigen ihre Sündigkeit unter die Nase reibt, und dann kommt sein Bedürfnis, ausserhalb seiner offenbarten Religion (Primärquelle) noch weitere Belege für seine These zu erschließen.
Zuerst haben wir den mönchischen Topos des Jesus, der für vierzig (oder wieviele es auch waren) Tage in die Wüste geht, um dann vom Teufel "versucht" zu werden, indem ihm alle Reichtümer der Welt angeboten werden. Und dann haben wir die Klöster, in denen sich die Mönche zusammenfanden,dieser guten alten Eremiten-Tradition (die es selbstverständlich lange vor Jesus gab) folgten und in ihren (irischen) Klöstern dann auch die griechischen Philosophen-Gesamtausgaben für die mittelalterliche Nachwelt erhielten. Das Klosterleben und überhaupt das Leben der Geistlichen ist nun mal soweit sexualitätsfeindlich, wie ich es mir nur denken kann - und also mußte niemand, der da im Kloster hockte, noch großartig überzeugt werden!
Die Frauen-, Sexual- und Leibfeindlichkeit der Kirchen, wie sie sich mit der Zeit entwickelte, läßt sich sehr gut theologisch begründen, immerhin ist das Konzept der Erbsünde explizit mit dem Fleischlichen (... erkannten sie, daß sie nackt waren), dem Sexuellen (Eva kriegt als Strafe aufgebrummt, unter Schmerzen gebären zu müssen) und dem Weiblichen (denn Eva verführt Adam zur Sünde, zur Gebotsüberschreitung). Da muß also nicht ausserhalb gesucht werden für "gute" Gründe.
Daß, wenn gesucht wird, man auch ausserhalb des Christentums fündig werden kann - keine Frage! Aber ebensogut wird man bei den Griechen auch fündig, wenn man für das Gegenteil nach Argumenten sucht. Ich erinnere nur an die philosophische Schule der Kyniker, die ähnlich enthemmt wie die Hunde ihr Leben gestalteten, sich in aller Öffentlichkeit nach Lust und Laune einen runterholten usw.
Wenn Galas Wissen nun indes nicht trügt, die "Urchristen" also tatsächlich nicht so leibfeindlich waren, dann vermute ich hinter dem ganzen Themenkomplex das, was eigentlich überall auf der Welt, wo Sexualität tabuisiert und miesgemacht wird, den wirklichen Grund bildet: die Machtfrage!
Eine Institution Kirche, die nicht mehr nur aus ein paar freiwillig zusammenkommenden Gläubigen besteht, sondern die Strukturen aufbauen und festigen will, die in der Politik mitmischt - die hat ein Problem damit, wenn die Leute tun und denken und glauben, was sie gerade lustig sind. Die braucht Disziplinierungs-Instrumente, und hier ist die Sexualethik wohl besonders wirksam. Im Christentum paßt das natürlich besonders gut, weil die ganze Macht der Kirche auf diesem Erbsünden-Konzept beruht: Alle Menschen, ausnahmslos, sind vor Gott erstmal schuldig, alle verdienen sie Strafe. Das ist der Grundpfeiler aller kirchlichen Macht! Und wie mache ich das plausibel? Indem ich das, was jedem Menschen als eine der stärksten Triebfedern innewohnt, zur Sünde erkläre: Das sexuelle Verlangen. Tagtäglich wird der Gläubige an seine Sündigkeit erinnert, sobald mal wieder eine hübsche Frau (oder ein attraktiver Mann) an ihm vorbeigeht, schon sticht der sündige Stachel wieder zu... Man kommt kaum dazu, die eigene Sündhaftigkeit mal zu vergessen, solange die wichtigsten Triebe als sündig gekennzeichnet sind: neben dem Sexuellen auch noch der Hunger (Völlerei war eine der Todsünden), ja überhaupt alles Körperliche.
Gottes Reich ist nicht von dieser Welt - was im Umkehrschluß besagt: Da diese Welt nicht das Reich Gottes ist, kann sie nur das Reich seines Antagonisten sein: des Teufels. Körper-Geist-Dualismus, um es noch weiter zu abstahieren.
Sobald der Gläubige sich seines Lebens freut und mit sich im Reinen ist, wird die Machtinstitution Kirche mißtrauisch: Die Leute sollen gefälligst mit schlechtem Gewissen genießen, denn sonst kommt's noch so weit, daß sie der Kirche nicht mehr
geben, sich von ihr nicht mehr nach Gutdünken leiten und drangsalieren lassen. Nur der reuige Sünder ist ein gutes Kirchenmitglied und zahlt brav alle Ablaßgelder, die man von ihm verlangt. Während vielleicht die Urchristen noch ein direktes Verhältnis zu Gott haben mochten, hat sich dann irgendwann die Kirche als Zwischeninstanz zwischen die Gläubigen und Gott gesetzt: Durch dieses enge Nadelöhr mußte man fortan hindurch, und das war auch für Nicht-Kamele alles andere als einfach.
Daß die Sexualität in nahezu allen Kulturen auf die eine oder andere Weise ritualisiert, oder tabuisiert wird, ist ein Hinweis darauf, daß es hier nicht so sehr um religiöse Wahrheiten, sondern um Macht geht. Die Taliban sind dafür ein schönes Beispiel, aber auch die "Ehrenmorde", die selbst hier in Deutschland noch von einigen in ihrer Macho-Kultur verhedderten türkischen Männern verübt werden, wenn sie die Familienehre durch die sexuelle Selbstbstimmung ihrer Töchter verletzt sehen.
Der sexuelle Rausch ist womöglich das intensivste Freiheits- und Zufriedenheitsgefühl, das den Menschen möglich ist. Und damit der geschworene Feind aller institutionalisierten Macht.
Daß es auch Betonköpfe unter den griechischen Philosophen in dieser Beziehung gab, wollte ich keineswegs abstreiten. Aber bedurft hätte die Kirche ihrer nicht.