Gala
Die Erinnerung an den Winter hing noch immer milde frostig in der Luft. Aber der Wald stand schon grün, und nur der Raureif auf den Gräsern war noch eine Erinnerung an das glitzernde Weiß der kalten Jahreszeit. Das Tageslicht, das durch die Baumwipfel fiel, war noch golden abgeschwächt, anzeigend, das es erst Sonnenaufgang war.
Vortin Calo schlenderte lässig den offiziellen Waldweg entlang, die Steigungen des hügeligen Geländes mit Leichtigkeit nehmend. Seine Lederrüstung hatte keine Hosentaschen, stattdessen hatte er seine Hände in den Waffengürtel geklemmt. Die Mahlzeit, die er noch vor einer Stunde im letzten Dorf zu sich genommen hatte, war ganz vorzüglich gewesen. Nun genoß er die kaltfrische Luft, den wollig gefüllten Magen und die zarten Dürfte des erwachenden Frühlingswaldes. Heute war so ganz und gar nicht ein Tag zum finstere Bösewichte jagen. Eher fühlte sich Vortin jugendlich, wollte Lausbubenstreiche spielen und schönen Frauen nachstellen.
Er seufzte. Die Pflicht ging vor, erst recht jetzt, wo er eine feste Anstellung und ein sicheres Gehalt hatte.
Sein aktueller Fall war allerdings wirklich ziemlich hoffnungslos. Wenn er wie früher nur für den Erfolg bezahlt worden wäre, hätte er längst aufgegeben und nach etwas Erfolgsversprechenderem gesucht.
Vor über einer Woche war eine größerer Handelszug überfallen worden. Zwei der Reisenden hatten sich dabei zur Wehr gesetzt und waren niedergemacht worden. Vortin war zu diesem Zeitpunkt am anderen Ende des Königsreichs gewesen und hatte mehr als einen Tag gebraucht, um den Tatort zu erreichen. Bis dahin waren die meisten Spuren schon verwischt, die meisten Augenzeugen bereits weitergezogen und sogar die Todesopfer lagen schon ordnungsgemäß begraben. Was Vortin also wußte, war nur eine grobe Auflistung der gestohlenen Waren und eine wenig aussagekräftige Beschreibung der Banditen, welche den Überfall in der Abenddämmerung durchgeführt hatten und sich unter schwarzen Umhängen verbargen.
In diesem Moment bewies Vortin, das Alter und Festanstellung ihn noch nicht verweichlicht hatten und er immer noch ein Kind des Waldes war. Es war nur ein leises Geräusch gewesen, oder eine kleine Bewegung in seinem Augenwinkel. Aber aus jahrelang geübten Instinkt duckte er sich übergangslos trotz seiner vorigen Gedankenverlorenheit und lässigen Pose blitzschnell weg. Und keinen Moment zu früh, denn wo gerade eben noch sein Kopf gewesen war, sauste prompt eine Wurfaxt vorbei und grub sich mit einem lauten "Klack!" tief in einen Baumstamm. Sekundenbruchteile später hatte Vortin sich bereits mit jetzt gezogenen Waffen in die Deckung des Gebüsches geschlagen.
Eine große Gestalt in schwerer Rüstung brach mit Gebrüll aus dem Unterholz, die Streitaxt zum Angriff erhoben, und stürmte auf Vortins Position zu: "Hab ich dich, dreckiger Räuber ! Gib mir mein Familienerbe zurück, dann lasse ich dich am Leben !" und ohne eine Antwort abzuwarten, schlug der Angreifer mit aller Macht dort hin, wo er sein Opfer im Gebüsch vermutete.
"Halt, Stopp ! Ihr habt den Falschen !" rief Vortin, der sich gottlob schon wieder ganz woanders befand.
"Stell dich dem Kampf, du ... was ?" Die Axt schon wieder zum erneuerten Schlag erhoben, hielt der Angreifer mit verständnislosem Blick inne.
Den Angreifer jetzt erkennend, fuhr Vortin fort: "Haltet ein, Fräulein Sendja ! Ich bin es doch, der Inspektor !" Er trat ins Freie.
Sendja Thorfinnadottir trat in gründlich musternd näher, dann senkte sie sichtlich enttäuscht ihre Waffe. "Oh", machte sie. Dann, sichtlich zerknirscht: "Oh."
Trotz des eben durchlebten kurzen, heftigen Momentes der Todesangst und des Kampfes kam Vortin nicht umhin, für einen Augenblick noch einmal die überwältigende, königliche Schönheit dieser Frau zu bewundern. Ihre alabasterfarbener Haut, deren Makellosigkeit nur von ein paar frechen Sommersprossen um die Nase herum durchbrochen wurden. Ihre flammenden, aufregendem roten Haar, das lockig um ihr Gesicht floß. Ihre blassblauen Augen, so tief wie das Meer, in denen jeder Mann gerne für immer versinken würde. Vor allem aber auch ihr Gesicht und ihr Körper, groß und kräftig, aber auch so überwältigend formvollendet, wie man es sich für eine Göttin vorstellt.
Sie war beim Überfall nicht anwesend gewesen, aber man hatte eine wichtige Sendung an sie gestohlen, weshalb sie schon anwesend war, als Vortin am Tatort eintraf, und ihn gründlich in die Mangel nahm, das er ihre Wertgegenstände wiederzufinden hätte.
"... sagt mal, hört ihr mir überhaupt zu ?", wollte Sendja gerade von ihm wissen.
Vortin kehrte in die Realität zurück. Sendja, so hatte er mit halben Ohr mitbekommen, hatte sich bei ihm entschuldigt und war gerade damit beschäftigt, ihre Wurfaxt aus dem Baumstamm zu entfernen.
Zu seiner eigenen Überraschung begann er zu stottern: "Ähm, ja. Es tut mir leid, Frau Thor... dingens... äh, sehr geehrtes Fräulein Sendja." Verdammte Nordländer mit ihren langen Namen, die sich keiner merken kann. "Leider scheint es so, als ob die Räuber wie vom Boden verschluckt sind. Soweit ich es in Erfahrung bringen konnte, gab es keine weiteren Überfälle im Umkreis von Dutzenden von Kilometern, schon gar nicht solche, die der Beschreibung dieses speziellen Überfalls gleichen. Es gibt keine verwertbare Spuren oder neue Augenzeugenberichte. Ich werde weitersuchen, aber wir werden vermutlich erst dann weiterkommen, wenn und falls es noch einmal so einen Überfall geben wird."
Sendja reagierte entsetzt und heftig: "Aber mein Familienerbe ! Ich brauche es doch jetzt ! Wie soll ich ohne das Brautkleid und den Brautschmuck meiner Mutter heiraten ! Das wäre gegen alle Familientradition ! Das geht nicht !"
Vortin war zu sehr Mann, um eine schöne Frau unglücklich sehen zu können. "Wir tun unser Bestes." versicherte er hastig. "Wirklich, wir tun alles, was wir können."
"So ? Und wo habt ihr dann meinen Rex ? Würde ein Hund nicht bei der Suche helfen ?" fing Sendja plötzlich an, kritisch nachzubohren. Diese Frau war feurig und sprunghaft zugleich.
Und leider war das ein peinlicher Punkt. Dieses Viech von einem Hund, das Rex hieß, war beim Überfall dabeigewesen, da Teil des besagten "Familienerbes" von Fräulein Sendja. Aber die Räuber hatten das Tier wenig überraschend ignoriert. Sendja hatte dann Rex Vortin überlassen, damit der Geruchssinn des Hundes Vortin bei der Jagt helfen sollte. Aber Vortin war eigentlich nur heilfroh, als er das Tier endlich irgendwo unterstellen konnte. Der Hund war sowohl altersschwach, halb blind, sein Geruchssinn fast völlig verschwunden und obendrein von der hundischen Entsprechung von Altersstarrsinn befallen.
Fräulein Sendja schaute ungeduldig: "Jaaaa ?"
Vortin räusperte sich. "Nun, der Hund konnte leider nicht viel helfen." Immerhin war das die Wahrheit. "Die Spuren hatten sich schon verloren." Das könnte auch stimmen, obwohl es auch sein könnte, das ein guter Spürhund weitergeholfen hätte. "Wir haben ihn untergestellt. Es geht ihm gut !" Wenn er nicht schon im Hundehimmel ist.
"Hmm." machte Sendja erstmal nur und schaute ihn prüfend an. Vortin hielt dem Blick stand. Er hatte ja wirklich alles getan, was in seiner Macht gestanden war. Im Gegensatz zu Kriminalgeschichten bleiben in der Realität eben leider viele Verbrechen ungesühnt, wenn man nicht recht schnell einen Hauptverdächtigen findet.
"Vielleicht solltet ihr das alles nochmal euren Prinzen erklären. Der ist in der Nähe." sagte Sendja nach einer Pause.
Jetzt war es an der Zeit für Vortin, selbst einmal Sendja prüfend anzusehen. Eigentlich war es Sendja strikt verboten, sich dem Prinzen zu nähern.
Aber Sendja grinste nur schelmisch und gab direkt zu: "Der König ist mit Angriffen an der Grenze beschäftigt - und deshalb hat mein Prinz derzeit de facto das Kommando im Reich."
Vortin seufzte innerlich. Er hatte nichts in der Hand und würde wahrscheinlich auch nichts mehr in die Hand bekommen. Jetzt galt es also, Vorgesetzten Honig um den Bart zu schmieren. Warum hatte er nochmal für eine gute Idee gehalten, auf seine alten Tage eine Festanstellung anzunehmen ? Es ist ja derselbe Job wie sonst auch, aber mit sicherer Bezahlung ? Ja, genau.
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Nach dieser ersten Begegnung müssen wir die Geschichte etwas abkürzen und zusammenfassen, denn nun passierte viel, aber wenig Berichtenswertes.
Es dauerte tatsächlich nur zwei Stunden, bis sie zum Dorf kamen, in dem der Prinz lagerte.
Das Gespräch mit dem Prinzen war unerfreulich - und viel zu lang, um es niederzuschreiben. Wortreich und mit einer gewissen Herablassung, den viel älteren Waldläufer wie ein Kind belehrend und alle seine Argumente ignorierend, führte der Prinz immer wieder aus, das Vortin das Diebesgut wiederzufinden hätte. Und sonst gar nichts. Und zwar möglichst bitte bis morgen früh.
Sehr bald war Vortin wieder bester Laune, um Banditen zu jagen. Er hatte jetzt sowieso größte Lust, irgend jemanden zu verprügeln.
Hinzu kam, das Sendja längst wußte, das Vortin Rex zurückgelassen hatte. Sie hatte den Hund abgeholt und jetzt dabei. Zudem beschloß sie, mit Vortin loszuziehen. Ohne den Brautschmuck ihrer Mutter wollte sie nunmal nicht heiraten, also konnte sie genausogut mitsuchen, um den Schmuck wiederzufinden.
Am nächsten Morgen zogen die drei also los. Vortin war es schade um den Tag, den er auf den Prinz verschwendet hatte. Darum wollte er jetzt schnell vorankommen. Er stellte aber schnell fest, das der Hund immer noch genau derselbe Klotz am Bein war, wie zuvor. Und das Sendja einfach unendlich viel Liebe für den Köter hatte und völlig unfähig zu sein schien, zu erkennen, das das Tier einfach völlig nutzlos war.
Erst ein paar Tage später passierte wieder etwas wirklich Bemerkenswertes.
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Es war Mittag. Warm, aber nicht unangenehm. Sie waren inzwischen weit fernab von jeder Zivilisation. Der einzige Vorteil der Gegend war, das man sich hier wirklich gut verstecken konnte. Ansonsten war es nur ein endloser Urwald.
Vortin trug gerade wieder den Hund. Das war der einzige Weg, um schneller voranzukommen. Obwohl er sie immer wieder gefragt hatte, hatte Sendja sich standhaft geweigert, Rex irgendwo unterzustellen. Und der Hund hielt einfach nicht besonders lange durch beim Wandern. Doch plötzlich begann ebendieser Hund zu bellen, während er gleichzeitig von Vortins Rücken sprang.
"Rex, witterst du was ?" fragte Sendja. Da Hunde nicht reden können, sprang der Hund stattdessen los. Sendja stürmte ihm trotz ihres schweren Kettenhemdes erstaunlich lautlos nach. Vortin konnte kaum mit den beiden mithalten.
So liefen sie ungefähr fünf Minuten lang, dabei eine Reichweite von etwa anderthalb Kilometern überbrückend. Vortin, dessen Abstand zu den anderen beiden sich immer mehr vergrößert hatte, roch plötzlich Rauch. Er erreichte eine Lichtung. Sendja stand auf ihr und blickte um sich, mit dem wilden Blick der Kampfeswut und die Kriegsaxt schwingend, aber immer noch lautlos, ohne Ziel. Rex hingegen saß ganz friedlich über ein wenig Wildbrett, das er offensichtlich von dem Lagerfeuer erobert hatte. Das war, schloß Vortin, alles, was er gewittert hatte.
Vortin sah mit einem Blick an vielen verschiedenen Details, das es sich hier nicht um das Lager der Räuber handeln konnte. Hier hatte nur eine einzelne Person gelagert, und diese lebte nur vom Wald selbst. So war nicht mal das Essgeschirr aus Metall, sondern aus Holz. Wenn auch mit einer gewissen Meisterschaft geschnitzt.
Aber er hatte keine Zeit, das Sendja mitzuteilen. Diese brüllte: "Hab ich dick, du dreckiger Räuber !" und stürzte sich ins Gebüsch. Es blieb Vortin nichts anderes übrig, das Sendja nachzulaufen. Er versuchte zu rufen, das sie schon wieder den Falschen erwischt hatte, aber das heftige Atmen hatte ihn heiser gemacht. Er hoffte, er würde schnell genug sein, um Schlimmeres zu verhindern.
So liefen sie eine ganze Zeit lang. Ab und zu konnte er schemenhaft die Gestalt erkennen, die sie verfolgten. Irgendwann kamen sie wieder auf eine Lichtung. Auf der Rex immer noch lag, seine Mahlzeit verdauend. Sie waren im Kreis gelaufen.
Vortin konnte nun für einen Augenblick lang genau sehen, wer der Verfolgte war. Es war eine Wildelfe. Entweder noch ein halbes Kind, oder zumindest kleinwüchsig.
Vortin versuchte noch einmal, zu rufen: "Halt, Stopp, Sendja, halt ein !" aber Sendja hörte ihn nicht. Sie war wohl immer noch im Blutrausch.
Die Elfe sprang in ein Gebüsch. Sendja ihr hinterher, gewaltig zuschlagend. Vortin wurde übel bei dem Gedanken, das vor seinen Augen ein unschuldiges Kind erschlagen wurde. Aber es spitzte kein Blut. Stattdessen lief nur ein verängstigtes Eichhörnchen einen nahen Baumstamm hinauf.
Sendja stand wie angewurzelt. "Nanu ?" Vortin erreichte sie.
Das Gebüsch war leer.
Vortin schnappte nach Luft. "Sehr geehrtes Fräulein Sendja", begann er, um ihr eine Standpauke zu halten.
Dann wurde ihm plötzlich klar, das er zu der Frau sprach, die seine zukünftige Königin sein würde. Da überlegte er es sich anders.
"Ich kündige !"