@ David
Sehr schön, mir scheint, du hast den wesentlichen Teil der Grundrechtsproblematik begriffen.
Wo genau im Grundgesetz steht eigentlich, daß der Schutz der Grundrechte gegenüber dem Staat Vorrang gegenüber dem Schutz der Grundrechte vor Personen hat?
Nirgends. Die vorgenommene Unterscheidung in "Schutz vor Privatpersonen" und "Schutz vor dem Staat" funktioniert meiner Meinung nach aber nicht. Erläuterung folgt gleich.
Die meisten Grundrechte beziehen sich dann in der Tat auch nur auf den Staat, zB Meinungs- oder Versammlungsfreiheit. Aber es gibt eben auch solche, die auch das Zusammenleben der Menschen untereinander betreffen, zB körperliche Unversehrtheit und Eigentum.
Das BVG hat irgendwann mal den Begriff der "normativen Werteordnung" des Grundgesetzes formuliert, was nichts anderes heißen soll, als dass die grundgesetzlich garantierten Rechte auch in der privatrechtlichen Rechtssphäre ihre Wirkung entfalten. Deshalb kann das BVG auch Urteile der höchsten Instanz der bürgerlichen Rechtsprechung (BGB), dem Bundesgerichtshof, kassieren. Im Zweifel ist immer die Norm der Verfassung ausschlaggebend. Aus den 50er Jahren gibt es da interessante und ellenlange Rechtsstreite zwischen BVG und BGH, wobei letzterer personell fast 1:1 der Besetzung des Reichsgerichtshofs der Nazis entsprach und diese das neu geschaffene höchste Gericht irgendwie nicht anerkennen wollten, schlussendlich aber mussten.
Diese erwähnte "Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte wurde im
Lüth-Urteil erfunden. Es schadet nicht, wenn man das kennt.
Wie auch immer: im juristischen Sinne, und damit im Sinne der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, ist der Schutz der Grundrechte vor dem Eingriff durch Privatpersonen, also das was du als "Sicherheit" definieren möchtest, immernoch die staatliche Durchsetzung, sprich Garantie, von Freiheitsrechten. Wenn man so will, hat man es mit einer Art Doppelcharakter zu tun: die Maßnahme, die ein Freiheitsrecht einer Person schützt, ist zugleich mit einem Eingriff in die Freiheitsrechte einer anderen Person verbunden. Daraus folgt dann gleichermaßen, dass a.)
alle Grundrechte[/i] Abwehrrechte gegenüber dem Staat sein können und b.) dass
alle Grundrechte auch Abwehrrechte gegenüber privaten Dritten sein können; im Normalfall dergestalt umgesetzt, dass die unter der Verfassung stehenden Gesetze (also alle) der Wahrung der Freiheitsrechte dienen und mit grundgesetzkonform sind. Also verfassungsmäßig.
"Sicherheit" bedeutet für mich nichts weiter als den Schutz der Grundrechte, egal ob gegen den Staat oder gegen Personen.
Wie willst du mit dieser Einteilung vernünftig argumentieren? Die Vermengung sämtlicher Freiheitsrechte zu einer (homogenen?) Grundrechtsmasse, die gleichermaßen Staat wie auch Privatpersonen gegenüberstehen soll, liefert kein vernünftig einzusetzendes Werkzeug, um Eingriffe, egal von welcher Seite, angemessen beurteilen zu können.
Genau das ist auch das Problem der plumpen Gegenüberstellung von "Freiheit" und "Sicherheit". Eine genauere Betrachtung kommt zu dem Schluss, dass zwar, ganz generell, in "die" Freiheit schlechthin eingegriffen wird, um "mehr" Grundrechtssicherheit herzustellen - nur wirkt das doch sehr paradox, wenn sowohl Freiheit als auch Sicherheit auf einmal mit derselben Grundrechtsmasse assoziiert werden. Differenziert betrachtet stehen, jeweils am konkreten Fall bemessen, sich ein oder mehrere Grundrechte (oder auch grundrechtlich garantierte Güter, die ich aber für überschätzt halte) gegenüber. Bleiben wir bei der Vorratsdatenspeicherung könnten das Art. 5 I GG (freie Meinungsäußerung), Art. 10 I GG (Postgeheimnis) und Art. 2 I GG (freie Persönlichkeitsentfaltung) sein, die hypothetisch einer Gefährung von Art. 2 II GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit) und Art. 14 I GG (Eigentumsrecht) gegenüberstehen. Herr Schäuble sieht vermutlich sogar eine Gefährdung von Art. 20 I GG. Die Gefährdung letzterer Grundrechte geht, wie regelmäßig verkündet wird, von Privatpersonen aus; der Eingriff jedoch von staatlicher Seite. Unter Beachtung diverser Maßstäbe (Legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sowie zig anderer Rechtsstaatlicher Regelungen) wird dann eine Abwägung zwischen diesen betroffenen Grundrechten vorgenommen - nicht etwa zwischen zwei abstrakten Massen "Freiheit" und "Sicherheit", die dann seltsamerweise auch noch auf den gleichen Ursprung verweisen.
D.h. der Schutz der Meinungsfreiheit ist für mich genauso Sicherheit wie der Schutz des Lebens. Schließlich wäre es ziemlich unsicher, wenn man dafür belangt werden könnte, seine Meinung zu sagen.
So, wie du den Begriff Sicherheit verwendest, wird er beliebig austauschbar mit Freiheit. Wenn man dafür belangt werden könnte, seine Meinung zu sagen (kann man übrigens), wäre das nicht unsicher, sondern ein Zeichen von
Unfreiheit. Oder genauer, die
Konsequenzen der wahrgenommenen Freiheit wären unsicher, was dem Rechtsstaatsprinzip entgegensteht - denn ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaates ist, dass die Bürger_innen wissen, welches Handeln welche Konsequenzen trägt. Passendes Beispiel: das Verbot der Holocaust-Leugnung: definitiver Eingriff in die Meinungsfreiheit mit klaren Konsequenzen - nur erzeugt das Verbot eben genau deswegen keine "Unsicherheit", sondern allenfalls Unfreiheit in der Äußerung der persönlichen Meinung.
Außerdem, wie das BVG mal so schön anmerkte, ist die Meinungsfreiheit konstituierend für eine Demokratie.
Ich finde aber nichts, was aussagt, daß im Zweifel der Schutz vor dem Staat Vorrang gegenüber dem Schutz vor den Mitmenschen hat.
Dass in den meisten Fällen der Schutz vor dem Staat Vorrang erhält erklärt sich aus dem extensiven Charakter der staatlichen Maßnahme. Die Vorratsdatenspeicherung z.B. betrifft den größten Teil der Bevölkerung, zumindest alle, die Telefon, Handy, Internet und was weiß ich was verwenden, während dem nur eine äußerst geringfügige Zahl an Betroffenen von "telekommunikationsbasierten" Verbrechen gegenübersteht. Um das zu verdeutlichen: eine Verhaftung ist zweifellos ein äußerst drastischer Eingriff, allerdings ist dank BGB klar, welches Verhalten diesen Eingriff "verursacht" und betroffen von diesem Eingriff sind (sollen sein) nur diejenigen, die sich eben diesem Verhalten schuldig gemacht haben.
Angewendet auf Absurditäten wie etwa Gesichtserkennung zur Verfolgung von Schwarzfahrer_innen: überhaupt nicht Betroffene, die sich keines Vergehens schuldig gemacht haben, sind von der Maßnahme ebenso betroffen wie die eigentlichen Schwarzfahrer_innen. Das ist bitte nicht falsch zu verstehen als Verteidigung der Denke, dass jede staatliche Maßnahme zu rechtfertigen ist, so sie nur "Kriminelle" betrifft.
Und soweit ich das seh, kann der Staat ja die Grundrechte (bis auf die Würde des Menschen) per Gesetz einschränken, um bestimmte Ziele zu erreichen, wobei natürlich immer der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet werden muss. Sprich, wenn das Ziel "Schutz des Grundrechts auf Leben" (d.h. nach meiner Definition nichts Anderes als Sicherheit) lautet kann man eben auch die Rechte einschränken, die als Schutzrecht gegenüber dem Staat formuliert sind.
Zu "Schutzrechten gegenüber dem Staat" siehe oben. Die Ziele dürfen keine anderen als solche sein, die in der Verfassung formuliert oder aus ihr abgeleitet werden können, z.B. das "Allgemeinwohl". Das Allgemeinwohl ist allerdings so schwammig, dass sowohl die Maßnahme als auch die Ablehnung der Maßnahme damit verteidigt werden können. Zu anderen möglichen Zielen siehe Art. 74 ff. GG.
Ein anderer Schwamm sind die aus Art. 20 I GG hergeleiteten Staatsprinzipien, zu deren Verteidigung auch so einiges an staatlichen Maßnahmen ins Feld geführt wird. Und spätestens da wird dann auch die Diskrepanz zwischen solchen Schwammbegriffen und der konkreten Grundrechtsgarantie deutlich. Zum Beispiel G8: da wurde allen Ernstes damit argumentiert, dass gewisse Subjekte im Verdacht stünden, Aktionen vorzubereiten, die dazu geeignet sind, den Ablauf der G8 zu behindern und das nach außen präsentierte Bild der BRD zu beschädigen. Da muss schon die Frage erlaubt sein, ob die Staatsräson wichtiger ist als Demonstrations- und Meinungsrecht (und ob es nicht geradezu eine Auszeichnung für einen Staat ist, auch Demonstrationen zu erlauben, auf denen die Staatswappen verbrannt werden).
Auf das Beispiel der Vorratsdaten bezogen, heisst das doch nichts weiter, als daß es darauf ankommt, ob dieser Eingriff verhältnismäßig ist. Nur die Tatsache, daß das gegen die Schutzrechte gegenüber dem Staat verstößt, reicht nicht.
Wurde auch nie behauptet; Begründung siehe oben.
Wie gesagt, die Frage ob das der Einstieg in den "Überwachungsstaat" ist hat für mich nichts mit der Frage zu tun, ob das wirklich sinnvoll ist.
Sinnhaftigkeit und unverhältnismäßige Eingriffe in Freiheitsrechte sind nicht auseinanderzudenken, denn Sinnhaftigkeit (sprich: Geeignetheit) ist nie ausschlaggebendes Kriterium bei der Bewertung über die Intensivität des Eingriffs.
Ich könnt mit beiden Entscheidungen des Verfassungsgerichts gut leben, dann herrscht wenigstens Klarheit für die Zukunft.
Das das BVG versucht (Betonung auf: versucht) über die Jahrzehnte einen roten Faden in seine Urteile zu stricken, wird es sich an der liberalen Rechtssprechung der vergangenen Jahrzehnte orientieren. Soll heißen, es kann nicht die 1983 im
Volkszählungs-Urteil gefällten Entscheidungen rückwirkend für falsch oder ungültig erklären, sondern muss sich darauf berufen.