Kraven
Gerächt ist nicht gerecht
Mit einem leisen Zischen schnitt das Messer durch die Luft, wirbelnd sich um die eigene Achse drehend.
Mit einem dumpfen Schlag prallte der Knauf gegen die Wand, und die Klinge bohrte sich in den Boden.
Tork seufzte.
„Naja, zumindest hätte ich seinen großen Zeh am Boden festgenagelt.“
Der Spruch entlockte ihm ein kleines Grinsen. Dann fiel ihm ein, dass er vor nicht ganz zwei Stunden genau so etwas bereits getan hatte, und das Grinsen erlosch.
Es war ein seltsames Gefühl. Er konnte sich selbst dabei zusehen, wie er langsam wieder ruhig wurde, wie das Adrenalin sich abbaute und es dem Gehirn wieder erlaubte, weiter zu denken als nur bis zur nächsten Gasse, dem nächsten Versteck. Tork spürte seine entspannten Muskeln, den ruhigen Puls. Sein Atem ging gleichmäßig. Sein Geist war klar und seine Gedanken wohl artikuliert.
Und er steckte bis zu den Mundwinkeln in der Scheiße.
Vielleicht auch schon eine ganze Ecke tiefer, das kam natürlich drauf an, wie schnell Salina ihre Leute zusammentrommeln konnte, und ob Ruzdar immer noch so gute Kontakte zu den Verhüllten Magiern unterhielt. Was er wahrscheinlich tat.
In solchen Situationen bestand der alte Trick darin, sich mit etwas anderem abzulenken, um die Ruhe zu bewahren. Das Problem war, dass es in diesem Keller nicht viel gab, was dem dienlich gewesen wäre, nur ein paar verstaubte Holzkisten und eine junge Frau, der er am liebsten den Kopf abgerissen hätte.
Er tat es nicht, natürlich.
Er wusste genau, dass sie ihn in Stücke reißen würde, wenn er es versuchte.
„Seit Ihr inzwischen zu einem Entschluss gekommen?“ fragte besagte junge Frau, die es sich mit verschränkten Beinen auf dem Kellerboden bequem gemacht hatte.
Der Moment der Ruhe verschwand endgültig, und Tork spürte, wie sein Pulsschlag sich wieder beschleunigte. Aber er ballte die Fäuste, atmete tief aus und versuchte, seine Stimme bedeckt zu halten. Es hätte keinen Sinn, Mjinn anzuschreien. Es würde seine Probleme nicht lösen, und es bestand die Gefahr, dass sie auf der Straße gehört werden würden.
Scheiße, wenn er wirklich so laut schreien würde, wie er es müsste, um sich besser zu fühlen, würden noch die ganze nächste Woche tote Wale und Delphine an den Strand gespült werden.
Statt also das Stadtviertel mit reiner Schallkraft dem Erdboden gleichzumachen, was vermutlich ein nicht geringes Maß an Aufmerksamkeit auf sie ziehen würde, rutschte er von der schweren Holzkiste herunter, auf der er die letzte Stunde in einer zwar unbequemen, dafür bestimmt sehr lässig wirkenden Haltung verbracht hatte, ging rüber zu der drei Schritte entfernten Wand, hob sein Messer auf und zählte langsam im Geiste bis dreiundzwanzig.
Und dann noch ein bisschen weiter.
Als er bei vierundsechzig angekommen war, ging er zu seiner Gitarre, zu schauen, ob sich vielleicht ein Schneidezahn oder etwas derartiges in den Saiten verfangen hatte. Das hatte es nicht, aber ein paar Blutspritzer waren zu sehen, von dem Typen, dem er mit dem Blatt die Nase gebrochen hatte.
Er seufzte. Okay. Dann würde er das Gespräch eben nicht so ruhig und besonnen führen, wie er es gerne gehabt hätte.
„Ich bin mir nicht ganz sicher“, begann er. „Das Problem ist, der Entschluss, den wir jetzt eigentlich bräuchten, das wäre so ein Entschluss wie, ich weiß nicht, wie 'Ich geh jetzt einfach mal da raus und bring alle Mitglieder der Diebesgilde um, einschließlich ihres psychotischen Geschwisterpärchens, das die Anführer darstellen.'“
Mjinn nickte ernst.
„Zumindest sind diese beiden bereits verletzt“, sagte sie.
Ihr Gesicht blieb starr, als sie das sagte. Sie blinzelte nicht einmal.
Tork schluckte.
„Ja“, murmelte er. „Zumindest sind diese beiden schon verletzt.“
Für ein paar Sekunden wanderten seine Gedanken zurück in die Kneipe, zu den Schreien und dem Geräusch von brechenden Knochen.
Er schüttelte den Kopf. Nicht jetzt.
„Und nachdem ich dann also die komplette Diebesgilde plattgemacht habe – was ein Kinderspiel sein wird, denn ihre beiden Anführer sind schließlich verletzt...“ Er schüttelte den Kopf erneut, heftiger diesmal.
„Du glaubst wirklich, die wären zu bedürftig für nen Heiler, kann das sein?“
„Warum sonst müssten sie stehlen?“
Tork brachte sein Gesicht ganz nahe an das der Frau heran.
Kein Zucken um die Mundwinkel. Kein spöttisches Funkeln in den Augen.
Mit einer bewussten Anstrengung atmete er tief ein. Er stellte sich vor, all der Frust, den diese Kleine ihm bescherte, würde beim Ausatmen aus seinem Körper entweichen, in einer giftgrünen Wolke, die vermutlich jedes Lebewesen auslöschen würde, dass in ihren Radius gelangte, und alles, was in ihm bliebe, wäre klarer, reiner Friede.
Das funktionierte nicht.
Er griff in seinen Tabakbeutel und begann, sich eine Pfeife zu stopfen.
„In Ordnung, und nachdem ich also diese Bande aus halb verhungerten, halb verkrüppelten, mittellosen und völlig hilflosen Strauchdieben mit meinem gerechtem Zorn und meiner Gitarre mit scharfen Rändern von ihrem Elend befreit habe, ist die Sache eigentlich relativ leicht. Ich meine, wer sind schon die Verhüllten, richtig?“
Während er den Tabak mit dem Daumen festdrückte, wartete er vergeblich auf eine Reaktion.
„Die Verhüllten Magier“, versuchte er es noch einmal.
Mjinn schaute nur verständnislos.
Tork holte Luft.
„In welchem versteckten, verlassenen, von den Göttern abgeschotteten-“ Er brach ab. Ruhig bleiben.
„Hast du mal Feuer?“
Mjinn nickte, kramte in ihrer Umhängetasche und holte einen Feuerstein, getrockneten Zunderpilz und einen Schlagstahl hervor, den sie wortlos an Tork weitergab.
„Danke. Nochmal: In welchem versteckten Kellerloch hast du dein Leben eigentlich verbracht?“
„In einem Kloster.“
Oh.
Tork zog eine Augenbraue hoch. Das erklärte einiges.
„Kein Scheiß?“
Mjinn schüttelte den Kopf.
„Hm.“ Er riss ein Stück Zunder ab und legte es auf den Stein. Geistesabwesend schlug er mit dem Stahl Funken.
Ein Kloster. Klar. Ergab einen gewissen Sinn.
„Daher auch dieser Verschwinden-hinten-auftauchen-und-voll-in-die-Fresse-Trick, ja?“
Mjinn nickte. „Meine Lehrer nennen es 'Die jagende Kobra'.“
„Passender Name.“ Obwohl er sich nicht sicher war, ob Kobras ihren Opfern die Zähne ausschlugen. Trotzdem, es hatte einen gewissen Klang.
Einer der Funken hatte sich im Zunder verfangen. Tork pustete vorsichtig, damit die Glut sich ausbreiten konnte, und legte den Zunder anschließend auf den Tabak.
„Und wie genau landet ne Adeptin im Trollkopf? War das so eine von diesen 'Du hast all meine Schüler besiegt, nun gehe hinaus in die Welt und leg mich mit der mächtigsten und gefährlichsten Gilde an, die du finden kannst' – Nummern? Ich hab solche Geschichten schonmal gehört. Also, jetzt nicht genau in diesem Wortlaut, und es hieß da auch nie 'Krall dir die Diebesgilde von Athkatla, oder die Verhüllten Magier, oder beide', weil das ne ziemlich kurze Geschichte geworden wäre, ohne die Möglichkeit auf ne Fortsetzung, aber... war es irgendwas in der Richtung?“
Für eine Sekunde stahl sich ein Lächeln auf Mjinns Gesicht. Dann nickte sie.
„In einem sehr weiten Sinne etwas in der Richtung. Ich sollte hinausgehen und die Welt kennen lernen.“
„Die Welt kennen lernen.“
Mjinn nickte.
Tork zog an der Pfeife, um die Glut des Zunders auf den Tabak zu übertragen.
„Und um die Welt kennen zu lernen, bist du nach Athkatla gelaufen, und von da aus direkt in das übelste Viertel dieser Stadt, und weil dir das noch nicht Welt genug war, bist du auch noch in die übelste Kneipe in diesem übelsten Viertel marschiert, seh ich das so richtig?“
„Ich habe am Stadttor nach einer geeigneten Unterkunft gefragt, und mir wurde diese Adresse genannt.“
Tork hielt kurz inne, um diese neue Information zu verarbeiten. Gedankenverloren schnippte er mit seinem Messer das glühende Zunderstückchen aus der Pfeife, trat es aus, und zog weiter an der Pfeife. Dunkler Rauch stieg langsam wabernd zur Decke.
„Lass mich raten, in deinem Kloster hat dir keiner gesteckt, dass man den Aussagen von zwielichtigen Gestalten, die sich hinter dunklen Kapuzen verbergen, nicht trauen sollte.“
„Ich habe die Wegbeschreibung von einem der Stadtwächter bekommen.“
Für eine Sekunde stockte Torks Atmung.
Autsch.
Nicht gut.
Die Panik drohte zurückzukommen, und Tork zog erneut an der Pfeife, behielt den Rauch kurz im Mund, und atmete dann tief ein.
Seine Lungen zogen sich zusammen, und ihm wurde einen Augenblick lang schwarz vor Augen. Er musste sich beherrschen, nicht auf den Boden zu kotzen, aber die Überdosierung an Nikotin half, ihn zu beruhigen. Ein leises Pochen fand Einzug in seine Schläfen, und seine Gedanken wurden wieder klar.
Die Stadtwache. Klasse. So viel zu der Idee, vor dem Gesetz zu Kreuze zu kriechen und um Schutzhaft zu betteln.
Schade. Hätte klappen können.
Die Kleine war also in die große fremde Stadt gekommen, an den Falschen geraten und direkt zur Diebesgilde geschickt worden, die sie vermutlich auf dem Sklavenmarkt verkauft hätte. Die alte Geschichte, die so oder so ähnlich regelmäßig stattfand.
Warum um alles in der Welt hatte er sich da bloß einmischen müssen?
Tork seufzte. „In Ordnung, also die Situation sieht so aus: Als du dem Typen, der da zudringlich wurde, eine geknallt hast, saßt du bereits ziemlich tief in der Scheiße. Als du dann angefangen hast, mit seinen Kumpels den Boden aufzuwischen, stieg der Pegel langsam.“
Er machte eine kurze Kunstpause.
„Aber den Bock endgültig abgeschossen hast du in dem Moment, in dem du Salina den Kiefer gebrochen hast.“
Mjinn schaute auf. „Ich habe mich verteidigt. Sie hatte ein Schwert.“
„Und wen interessiert das?“ Tork erwiderte ihren Blick. „Du scheinst davon auszugehen, dass es hier um Fairness geht, kann das sein?“ Er schüttelte den Kopf. „Es geht hier um Rache. Du hast die Anführerin der Diesbesgilde gedemütigt, und das wird sie nicht so stehen lassen können.“
Mjinn dachte einen Augenblick nach. „Ist das der Grund, aus dem sie mir diese... Verhüllten nachschickt?“
Tork winkte ab.
„Nein, keine Bange.“ Er schnaubte. „Das ist ne ziemlich exklusive Clique. Jemand wie Salina macht da keinen Stich. Dafür brauchst du ne gewisse Etikette, so ein gewisses Maß an Stil. Du hast die Frau erlebt, die hat das nicht.“
Er nahm einen weiteren Zug von seiner Pfeife.
„Ruzdar, ihr Bruder, der hat das.“
Mjin legte den Kopf schief.
„Ist Ruzdar der Mann, dem Ihr...“
„Ja“, unterbrach Tork sie. „Genau der ist das.“
Wieder kam das Bild zurück, und diesmal war er nicht in der Lage, es zurückzudrängen.
Mjinn, die von einem Trupp aus Schlägern umringt war und sie einen nach dem anderen auseinander nahm. Er selbst, wie er auf dem Boden lag, direkt neben dem Kerl mit der Armbrust, den er auf die Bretter geschickt, als dieser Anstalten gemacht hatte, mit dem Ding auf Mjinn zu zielen. Und über ihm Ruzdar, der ihm seinen Stiefel ins Genick drückte und ihn anlächelte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass in dir ein derartiger Kavalier steckt“, hatte Ruzdar gesagt, und dabei den Totschläger zurück auf die Theke geworfen.
Und er hatte ihm noch mehr gesagt.
Dass er ihm wegen diesem Ausrutscher nicht böse war. Dass sowas auch den Besten von ihnen mal passieren könne.
Dass Tork jetzt einfach nur die Füße stillhalten müsse, während er sich um diese ärgerliche Problem hier kümmern würde, und dass sie sich danach in Frieden trennen könnten.
Und Tork hatte gewusst, dass Ruzdar ihn nicht anlog.
Sie hätten ihn gehen lassen. Sie hätten ihm vielleicht den Geldbeutel abgenommen, als Lektion. Vermutlich hätte die arme Sau, die da mit blutigem Gesicht neben ihm lag, ihm zum Abschied noch einmal mit Anlauf in die Eier treten dürfen. Vielleicht, wenn Ruzdar einen wirklich lustigen Tag gehabt hätte, hätten sie ihm die Hosen geklaut und ihn so durch's Rotlichtviertel getrieben.
Aber sie hätten ihn am Leben gelassen.
Also hatte Tork genickt, sich entspannt und zugesehen, wie Ruzdar mit ruhigen Bewegungen eine kleine Handarmbrust spannte, einen vergifteten Bolzen auflegte und sorgsam zielte.
Und dann hatte er ihm sein Messer durch den Stiefel gerammt.
Tork schüttelte den Kopf. Ihr Götter! Er hätte Ruzdar die Kehle aufschlitzen sollen, dann hätte er jetzt ein elementares Problem weniger.
Oder noch besser: Er hätte einfach tun sollen, was Ruzdar ihm geraten hatte, um danach ein glückliches, erfülltes Leben zu führen.
Statt dessen hockte er jetzt in einem Keller, versteckte sich vor der gesamten Welt und musste einer weltfremden Adeptin Nachhilfe geben. Ganz toll.
Mjinn fragte ihn etwas, und ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
„Tschuldigung, was war das?“
„Die Verhüllten“, sagte Mjinn. „Wer sind sie?“
Tork seufzte.
„Ach, die. Die Magiergilde von Athkatla“, antwortete er. „Da Magie in der Stadt verboten ist, treten sie nicht allzu oft in der Öffentlichkeit auf. Aber sie sind mächtig, Monopol auf Magie und so. Und sie haben einen ganzen Berg an Assassinen, die sie durch die Gegend hetzen, wenn ein Feuerball zu auffällig wäre.“
Er spie auf den Boden, und strich sich mit einer fahrigen Bewegung durch die Haare.
„Wir können eigentlich nur hoffen, dass die grade alle ausgebucht sind.“
~~oOo~~
Das Büro des obersten Sekretärs war hell und freundlich eingerichtet, die leichten Seidenvorhänge wehten leise in der kühlen Abendbrise, die den Geruch des Meeres mit sich trug. Die Wände des Zimmers waren an drei Seiten mit Bücherregalen vollgestellt, die kostbare Folianten und Quartbanden hüteten, die vierte bestand zum größten Teil aus eine filigran gearbeiteten Aussichtsfenster, das den von der untergehenden Sonne rot beschienenen Himmel zeigte.
Ino hielt sich gerne in diesem Raum auf. Er war nie sehr lange hier – der Sekretär war ein vielbeschäftigter Mann – aber er liebte die Ruhe, das Gefühl der Ordnung, die das Zimmer ausstrahlte.
„Ino.“
Die Stimme des Sekretärs klang alt und rauchig, ausgewaschen von dem langen Gebrauch, den er von ihr gemacht hatte. Der alte Mann saß in einem gepolsterten Sessel hinter dem reich verzierten Schreibtisch aus gemasertem Walnussholz und deutete Ino mit einer Handbewegung, sich zu setzen.
„Kann ich dir etwas zu trinken bringen lassen, mein Junge? Calimianischen Kaffee? Tee?“
„Eine Tasse Tee wäre sehr freundlich“, antwortete Ino.
„Natürlich.“ Der Sekretär fuhr in einer komplizierten Bewegung über einen grünen Stein, der in das Holz des Schreibtisches eingelassen war, und sah Ino an.
„Kamst du bereits dazu, die Kompositarmbrust zu testen, die wir dir zur Verfügung gestellt haben?“
„Dazu kam ich in der Tat.“
Die Tür hinter ihm ging auf, und eine junge Bedienstete betrat den Raum, ein silbernes Tablett in den Händen, auf dem aus feinstem Porzellan gearbeitetes Teegeschirr Platz fand. Ino bedankte sich höflich, war aber verwirrt.
Das war schnell gegangen.
Der Sekretär lächelte.
„Du verlangst nie nach Kaffee.“
Ino erwiderte das Lächeln und nickte. „Er bringt meine Hände zum Zittern.“
Der Sekretär hob anerkennend eine Braue und wartete, bis die Bedienstete das Büro wieder verlassen hatte.
„Nun?“
„Die Kompositarmbrust?“ Ino wägte seine Worte kurz ab.
„Sie ist kleiner als die Arbalest, dadurch leichter zu verbergen, und hat eine geringfügig höhere Feuerrate.“
„Aber?“ Das Lächeln des Sekretärs blieb unverändert.
„Durch die verringerte Zugkraft ist die Reichweite geringer, und der Bolzen hat eine geringere Wirkung“, sagte Ino. „Ein gut gepanzerter Gegner würde einen Beschuss wohl überleben.“
„So wie etwa Graf D'arlard?“
Ino biss sich auf die Zunge, was den Sekretär dazu veranlasste, beruhigend die Hand zu heben.
„Mach dir keine Gedanken deswegen. Oberste Priorität war es, ihn zu töten. Dein Schuss hat genug von seinem Gesicht übrig gelassen, um ihn identifizieren zu können. Das war gute Arbeit.“
Ein andächtiges Nicken. „Es stimmt wohl, dass einige unserer Mitbrüder das anders sehen, aber um die werde ich mich schon kümmern. Nur keine Sorge.“
Er schob eine Schublade auf, griff hinein und holte zwei Pergamentzeichnungen hervor.
„Diese beiden hier“, begann er, „haben einem guten Freund eine starke Demütigung zugefügt. Er fordert Satisfaktion, und hat mich gebeten, ihn bei diesem Unterfangen zu unterstützen.“
Ino betrachtete die Zeichnungen. Ein Halbork, und eine junge Frau, die Haare kurz geschnitten, ohne auffällige Merkmale.
„Wo kann ich die beiden finden?“
„Eine genaue Adresse konnte mein Freund mir nicht geben. Hätte er sie, bedürfte er wohl nicht unserer Hilfe.“ Ein Lächeln. „Ich möchte dir dies hier geben.“
Der Sekretär legte eine kreisrunde, polierte Achatscheibe auf den Tisch. „Dies sollte dir dabei helfen, die beiden zu finden. Nimm dir noch Zeit, deinen Tee zu trinken, aber danach möchte ich dich bitten, dich umgehend dieser Angelegenheit anzunehmen.“
Das Lächeln verschwand von seinen Zügen. „Und bitte, keine Komplikationen diesmal. Ich fände es schrecklich, dem Drängen meiner Brüder stattgeben zu müssen, die dich als eine Bedrohung für uns ansehen.“
~~oOo~~
Es war Nacht geworden, und der Nebel drängte vom Meer heran. Sanft bedeckte er das Hafenviertel mit seinem dünnen Schleier, der die Sicht nur schwach behinderte, aber die Geräusche der Welt leiser klingen ließ. Hin und wieder sah man warmes Feuer durch die Fensterscheiben dringen, aus den Kneipen, oder aus den Behausungen derer, die sich eine Bleibe in den besseren Teilen der Stadt nicht leisten konnten, aber noch nicht derart verarmt waren, dass sie in den Slums Zuflucht finden mussten.
Mehrheitlich jedoch blieben die Fenster schwarz; sie gehörten zu den Lagerhäusern, Werften und Reedereien, die nachts geschlossen hatten und nun darauf warteten, dass am Morgen wieder Leben in sie kehren würde.
Die Bohlen des alten Lagerhauses knarrten empört, als Ino schnellen Schrittes über sie eilte, die Treppe hinauf und zu dem Fenster, das von Wasser weg Richtung Stadt zeigte. Flink, aber ohne Hast entrollte er er das Bündel, dass er in einem Seesack auf seinem Rücken verstaut hatte, und entnahm ihm seine Armbrust.
Es war nicht die Kompositarmbrust, auch nicht die von ihm bevorzugte Arbalest. Die hohe Reichweite beider Waffen nutzte ihm infolge des Nebels nicht viel, und sie schossen zu langsam.
Vorsichtig wich Ino in gehockter Haltung vom Fenster zurück, so, dass er immer noch einen Gutteil der Straße überwachen konnte, gleichzeitig er aber vor Blicken nervöser Zuschauer geschützt war. Dann kontrollierte er seine Waffe.
Es war eine Repetierarmbrust, eine Waffe, auf die Ino unter anderen Umständen mit Verachtung herab geblickt hätte. Sie hatte eine geringe Reichweite, war unpräzise, und die Pfeile bekamen nicht genug Energie auf den Weg, um eine schwere Panzerung zuverlässig durchschlagen zu können, womit nach Inos Meinung alles über sie gesagt war, was es zu sagen gab.
Der große Pluspunkt – und, seiner Meinung nach, ihre einzige Existenzberechtigung – war die hohe Schussrate, die es einem Schützen erlaubte, in fünfzehn Sekunden bis zu zehn Pfeile abzuschießen.
Man brauchte keine Präzision.
Man füllte die Luft einfach solange mit Geschossen, bis alles tot war, was man tot sehen wollte.
Eine Waffe für Amateure also, oder aber, und das war der Grund, aus dem er diesen Haufen aus Holz, Metall und Tiersehnen mit sich herumtrug, wenn ein einzeln agierender Scharfschütze zwei Ziele auf einmal ausschalten wollte.
So sehr er seine Arbalest auch schätzte, bedeutete ihre verzahnte Spannvorrichtung auch, dass ein geübter Schütze höchstens zwei Bolzen pro Minute auf die Reise schicken konnte – zu viel Zeit also für das zweite Ziel, in Deckung zu springen. Statt dessen also dieses minderwertige...
Er unterbrach den Gedankengang.
Schluss damit.
Es war seine Waffe, sie war der Situation angemessen, und mit ihr würde er seinen Auftrag beenden.
Über die mangelnde Kunstfertigkeit des Vorgangs konnte er sich später noch beschweren.
Mit einer geübten Bewegung setzte er das Magazin ein, kontrollierte mit einem raschen Blick das Visier. Dann hockte er sich in eine etwas bequemere Position, und dann tat er das, was schon immer Teil dieses Berufs gewesen war.
Ino wartete.
Zwei Gestalten schälten sich aus dem Nebel, eine von ihnen hochgewachsen und breitschultrig, eine schwere Axt auf dem Rücken tragend, die Hauer im Mondlicht glänzend. Zur Rechten dieser Gestalt ging eine schmale Frau, klein von Wuchs, ohne eine einzige sichtbare Waffe am Körper.
Schon komisch, dachte Tork. Keiner würde ihm glauben, dass diese Kleine allen Ernstes die größere Gefahr darstellte. Glückspilz, der er war, würden er darum vermutlich auch alle Schläge abkriegen, sollte man sie angreifen.
Oder nein, eigentlich stimmte das nicht. Die Diebesgilde wusste um Mjinns Gefährlichkeit. Scheinbar hatte er also doch Glück. Sie würden erst sie töten und ihn anschließend gefangen nehmen und langsam zu Tode foltern...
Vielleicht hätte er sich doch einfach von Ruzdar in Stücke hacken sollen, als er die Chance dazu hatte.
„Und Ihr seid sicher, dass euer Freund auf uns warten wird?“, fragte Mjinn leise, während sie die Umgebung im Augen behielt. Laut Tork hatte die Diebesgilde nicht genug Leute, um die komplette Stadt abzusuchen, aber sie konnten nicht wissen, ob sie nicht vielleicht von Spähern gesichtet worden waren, die nun weitere Kämpfer anforderten.
Tork zuckte die Schultern, bevor er ihre Frage beantwortete. „Ich weiß ja nicht mal, ob die Taube es zu ihm geschafft hat. Falls ja, wird er auf uns warten. Solan ist nicht so blöd, einen offenen Krieg mit der Diebesgilde zu riskieren, aber ein paar Minuten auf einen alten Kumpel zu warten, das kriegt er schon hin.“
„Und wenn er das nicht tut?“
„Werden wir sterben.“ Tork versuchte, gleichmütig zu klingen, was ihm nicht ganz gelang. Verdammt, war er nicht eigentlich zu alt, um sich solche Gedanken zu machen?
Zwei Gestalten schälten sich aus dem Nebel, eine von ihnen hochgewachsen und breitschultrig, eine schwere Axt auf dem Rücken tragend, die Hauer im Mondlicht glänzend. Zur rechten dieser Gestalt ging eine schmale Frau, klein von Wuchs, ohne eine einzige sichtbare Waffe am Körper.
Mit einer leichten Anstrengung zog Ino den Spannhebel nach hinten. Der kleine Haken fasste die Sehne und zog sie mit sich, betätigte dabei das Magazin, und ein kompakter Pfeil fiel auf die Schiene.
Tork fiel auf, dass Mjinn leise vor sich hinsummte, und nach ein paar Sekunden erkannte er auch die Melodie.
„Summst du da grade das Lied, dass ich vorhin gespielt hab, um die Tauben anzulocken?“
Mjinn nickte. „Es ist sehr schön. Ein Liebeslied?“
Tork grinste breit. „Für Tauben schon. Es geht um Brot.“
Mjinn blickte ihn für eine Sekunde an, dann gingen ihre Mundwinkel in die Höhe.
„Um Brot“, wiederholte sie.
Tork zuckte mit den Schultern. „Hey, ich sing von ewiger Liebe, wenn ich schöne Frauen rumkriegen will. Bei Tauben...“
„Singt Ihr von Brot.“ Mjinns Hand wanderte zu ihrem Mund, um das Prusten zu unterdrücken.
„Ist ja nicht irgendein Brot“, verteidigte Tork sich, den kopf in gespielten Stolz in den Nacken werfend. „Tauben sind bestechliche Bastarde. Um sicherzustellen, dass sie die Nachricht überbringt, musste ich sie davon überzeugen, dass auf diesem einen Schiff im Hafen ein Elf sitzt, der das beste Brot von ganz Athkatla hat. Ich musste die Zartheit des Teigs loben, das dunkle Aroma der Kruste... Scheiße, ich hab dem blöden Vieh die Herkunft des verwendeten Weizens bis in die dritte Generation aufgezählt.“
Mit einer sanften Bewegung aus dem Handgelenk fixierte Ino den Spannhebel und hob die Armbrust. Der Schaft aus Eibenholz schmiegte sich gegen seine Wange, als er Kimme und Korn in eine Linie brachte und sein Ziel anvisierte. Für einen Augenblick überlegte er, wen er zuerst ausschalten sollte – der Halbork erschien ihm gefährlicher, also blieb das Visier auf ihm.
„Was hattest du eigentlich vor, zu machen, wenn du nicht spontan einen Krieg mit der Gilde angefangen hättest?“
„Das weiß ich nicht. Wir gehen hinaus und suchen unser Schicksal. Meistens findet es uns.“
„Du glaubst nicht wirklich, dass diese Katastrophe hier für dich das Beste ist?“
„Nicht das Beste. Aber man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen.“
„Und deines ist das einer großen Heldin, hm?“
Mjinn zuckte nur mit den Achseln, und Tork sprach nicht weiter. Aber letzten Endes sah es ganz so aus. Das Mädel war flink, sie war aufrichtig, und sie konnte erfahrene Straßenkämpfer in wimmernde, sich vor Schmerz krümmende Bündel verwandeln, wenn ihr danach war.
Vermutlich würde sie von dieser Fähigkeit heute Nacht auch noch reichlich Gebrauch machen müssen, aber alles in allem... er kannte diese Geschichten. Er hatte sie oft genug selbst erzählt.
Die aufrichtige Heldin, die gegen alle Chancen durchkam... es musste einfach so laufen.
Sie war ohne Schuld in diesen Schlamassel geraten, und sie hatte es einfach nicht verdient, jetzt zu sterben.
Sie würde es schaffen.
Alles andere wäre einfach nicht gerecht.
Ino lockerte den Finger und berührte ganz sacht den Abzug. Er atmete aus, fixierte sein Ziel.
Dann drückte er ab.