Mantis
Das große Fressen
Oder: Beinahe
Prolog
Am Hang des Wolkengebirges erhebt sich wie aus dem Gestein gewachsen die Burg Wolfenfels. Schwarz und stolz ragt sie über dem kleinen Städtchen gleichen Namens empor, und ihre Kerker reichen bis tief in den Berg hinein. Man erzählt sich, dass niemand der einmal diese Kerker betreten hat jemals wieder herausgekommen ist, was dazu führt, dass die Bevölkerung von Wolfenfels-Stadt zu den gesetzestreuesten der Region gehört.
Doch abgesehen von einigen wenigen Eingeweihten weiß niemand, was in den Tiefen der Kerker von Burg Wolfenfels tatsächlich geschieht.
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“Bald ist es soweit, Igudor.” Der schmächtige Gehilfe nickte nur, war er doch nicht einmal davon überzeugt, dass sein Meister ihn überhaupt wahrnahm.
“Tage- und nächtelang haben unsere Alchemisten an der Rezeptur gearbeitet, und heute nacht, vor nur wenigen Stunden ist es ihnen gelungen, das Serum herzustellen. Hier in meinen Händen halte ich die Geheimwaffe, die diesen Krieg, ach, was sage ich – alle Kriege für uns entscheiden wird!” Heinrich von Grundingen lachte, ein trockenes, heiseres Lachen das bald in einen Hustenanfall umschlug.
Bis zu einem gewissen Grad konnte Igudor die Begeisterung seines Herren nachvollziehen: wenn – falls – dieses Experiment gelingen würde, konnte selbst der Tod die Armeen von Wolfenfels nicht mehr aufhalten. So ganz gelang es ihm jedoch nicht, sich darüber zu freuen, doch wenn man die Tatsache betrachtete, dass er schon Wochen in dieser feuchten, schlecht beleuchteten Krypta zugebracht hatte ohne das Tageslicht zu sehen, zur Gesellschaft nur den möglicherweise verrückten Heinrich von Grundingen und die Toten, dann konnte man es Igudor kaum verübeln.
“Unbesiegbar werden wir sein, mein Junge! Unbesiegbar, hörst du?” Igudor nickte wieder, doch sein Herr war schon wieder herumgewirbelt und hantierte mit einem kleinen Flakon und einer langen Nadel am leblosen Körper eines Soldaten, der seine besten Tage eindeutig hinter sich hatte. Seit Wochen schon.
Igudor sah nicht, was dann geschah, doch er erkannte, dass es gelungen sein musste. Ein Schauer lief über seinen Rücken, als er sah wie der Fuß des toten Soldaten zuckte. Unwillkürlich wich er zurück.
Heinrich von Grundingen trat ebenfalls einen Schritt zurück, um ehrfürchtig und selbstzufrieden sein Werk zu betrachten, das sich mit grauenhafter Trägheit aufrichtete und dann mit einem Pfflumpff von der steinernen Bahre glitt.
“Haha! Es ist vollbracht!!!”
Mit einigem Widerwillen drehte er sich von seinem Werk weg, das mehr an Ort und Stelle zu hängen schien anstatt zu stehen, und wandte sich an seinen Gehilfen. “Eile, Igudor. Lauf zu den Alchemisten und sag ihnen, dass das Serum perfekt ist! Wir brauchen mehr davon, und schnell! Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten!”
Heinrich von Grundingen sah nicht, wie die belebte Kreatur hinter ihm unendlich langsam den Kopf hob und aus leeren Augenhöhlen in seine Richtung starrte. Er sah auch nicht, wie sich die vermoderten Arme ausbreiteten und seinem Hals näherten.
Was er sah, war der Schrecken auf Igudors Gesicht, ebenso wie dessen ausgestreckten Arm, der mit zitterndem Finger auf etwas hinter ihm wies. Also drehte er sich um.
Es war wohl in diesem Moment, dass Heinrich von Grundingen begriff, dass er einen fatalen Fehler begangen hatte.
Doch da war es bereits zu spät.
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Es war ein ruhiger Abend im Herbst. Der verfärbte Laub hing noch an den Bäumen, und ein leichter Nebel hing über den Feldern und Wiesen. Die Straßen und Gassen der kleinen, schläfrigen Stadt am Fuße des Wolkengebirges waren wie leergefegt – die Menschen hatten sich in ihren Häusern vor der beginnenden Kälte verbarrikadiert. Der Schein zahlreicher Kaminfeuer drang aus den Fenstern nach draußen, ein Versprechen von Wärme und Geborgenheit mit sich bringend.
In der Taverne – die einfach nur “die Taverne” genannt wurde, da es das einzige Etablissement dieser Art in Wolfenstein-Stadt war – herrschte reger Betrieb. Nicht nur die Stammgäste aus Wolfenstein hatten sich an diesem Abend hier eingefunden: auch eine Gruppe Abenteurer aus fernen Ländern hatte sich an einem Tisch zusammengefunden, um Geschichten über ihre Taten und Reisen auszutauschen.
Ein älterer Krieger schien das Gespräch zu dominieren, die anderen am Tisch lauschten ihm mit einem Respekt, der nicht allein mit seinem Alter zu erklären war. Der Alte trug sein graues, ausdünnendes Haar in der Art der Schwertheiligen von Kara-Tur zurückgebunden, doch seine Kleidung entsprach nördlichen Gebräuchen und Klima. Über seinen Knieen lag ein gekrümmtes Schwert, seine linke Hand ruhte fast zärtlich auf dem Heft, während er mit seiner Rechten gestikulierend seine Erzählungen begleitete.
Am gleichen Tisch saßen noch fünf andere Personen: Eine junge, unscheinbare Frau mit harten, grauen Augen und der Ausrüstung und Gewandung eines Heilers saß dem Alten direkt gegenüber, den Blick auf ihn geheftet als versuche sie, durch bloßes Starren den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte zu ergründen.
Neben ihr eine kapuzenbewehrte Gestalt, von der nur die behandschuhten Hände und die Griffe seiner zwei Schwerter aus dem dunkelgrünen Umhang hervorragten, und dessen Augen aus den Tiefen der Kapuze rot zu funkeln schienen.
An seiner Seite befand sich eine weitere junge Frau, diese in purpurnen Roben. Ihre weit aufgerissenen Augen sahen so aus, als hätten sie schon mehr gesehen als gut für sie wäre. Ihr Blick war der einzige, der nicht auf dem Alten ruhte – stattdessen sprangen ihre Augen hin und her, schienen den Raum abzutasten, suchend, niemals findend.
Eine Wolfenfelser Wache saß auf der anderen Seite der Heilerin. Offensichtlich befand er sich gerade nicht im Dienst, auch wenn er noch immer in der schwarzblauen Uniform steckte. Kettenhemd, Helm und Hellebarde hatte er allerdings nicht bei sich.
Zuletzt ein kleingewachsener Mann, der es fertigbrachte, selbst an einem runden Tisch abseits der anderen zu sitzen. Er behielt die Tavernentür vermeintlich unauffällig im Auge, eine Hand stets in Reichweite des Schwertgriffs.
Es hätte ein Abend wie jeder andere sein können, mit dieser abenteuerlichen Geschichten, dem Herdfeuer und dem schier unaufhörlichen Nachschub mehr oder weniger verdünnten Alkohols, mit dem die einzige Schankmaid unermüdlich die Gäste versorgte.
Eigentlich war es auch ein Abend wie jeder andere. Bis die Tür aufgestoßen wurde, und ein blutüberströmter Mann mit dem Gesicht zuerst auf den Holzboden fiel.
Schlagartig verstummten alle Gespräche im Raum. Für einen Moment schien es, als wäre das unregelmäßige, hektische Atmen des Verletzten das einzige Geräusch auf der Welt. Dann hob er den Kopf, und obwohl seine Worte kaum mehr als ein Flüstern waren, waren sie in der gespannten Stille deutlich zu verstehen.
„Sie... sie sind hier.“
Im nächsten Moment war die Heilerin an seiner Seite, kniete neben ihm nieder und half ihm, sich auf die Seite zu drehen.
„Beruhigt Euch. Niemand hier will Euch Böses. Ihr seid hier sicher, unter Freunden.“ Während sie leise zu ihm sprach, untersuchte sie ihn und kam zu dem Schluss, dass seine Verletzungen schlimmer aussahen als sie es waren. Tatsächlich schien das ihn bedeckende Blut nicht einmal sein eigenes zu sein; abgesehen von einigen Kratzern im Gesicht und auf den Händen hatte er lediglich eine nicht besonders tiefe Bisswunde am linken Unterarm. Sie runzelte die Stirn, begann dennoch die Wunde zu versorgen.
Sie erstarrte, als der Verwundete sie am Handgelenk packte, mit unerwartet festem Griff.
„Ihr versteht nicht.“ Seine Stimme klang heiser. „Wir sind hier nicht sicher. Sie kommen, sie sind hinter mir her. Wir sind verloren, es gibt keinen Ausweg! Tötet mich, bevor ich so werde wie sie! Sie sind überall!“
Bewegungslos erwiderte sie seinen Blick, suchte nach Anzeichen des Wahnsinns, wurde nicht fündig.
„Wer?“ Ihre eigene Stimme war tonlos geworden, flach.
„Die lebenden Toten.“
Nervöses Gelächter erhob sich im Schankraum. Für einen Moment hatte er es geschafft, die anderen Gäste zu beunruhigen, aber – lebende Tote? In dieser Stadt? Das war doch lächerlich!
Man fuhr fort mit dem Geschichtenerzählen und dem Trinken, während Skeira Hati, die Heilerin, sich mit dem Verwundeten abseits hinsetzte um sich weiter um seine Verletzung zu kümmern, und der Wirt immer öfter besorgte Blicke zur Tür warf.
Es dauerte nicht lange, und die Tür öffnete sich erneut.
Zuerst schien es, als wäre niemand dort. Lediglich ein kalter Luftzug wehte geistgleich durch die Taverne und ließ die Anwesenden frösteln. Schließlich stand einer der Stammgäste auf um die Tür zu schließen, doch noch bevor er sie erreichen konnte stand darin eine Gestalt. Etwas stimmte mit diesem Neuankömmling nicht, davon waren sie alle überzeugt. Schon bevor er sich auf den Stammgast stürzte und mit ihm zu Boden ging.
Innerhalb von Sekunden war in der Taverne die Hölle los: Schreiende Gäste rannten einander über den Haufen, unschlüssig wohin sie fliehen sollten. Der Schwertmeister und der Verhüllte waren aufgesprungen und hatten ihre Waffen gezogen, doch kein Feind befand sich in ihrer Reichweite.
Einzig der Wirt bewies einen klaren Kopf, als er hinter dem Tresen hervor kam, und eine gewaltige zweischneidige Axt im Schädel des Neuankömmlings versenkte.
Da stand auch schon der nächste sonderbare Fremde in der Tür. Diesem merkte man seine Andersartigkeit gleich mit mehreren Sinnen zugleich an – offenbar hatte er schon seit einer Weile das Zeitliche gesegnet, bevor etwas ihn ins Diesseits zurückbeordert hatte. Der Wirt zögerte nicht; einen Sekundenbruchteil später steckte seine Axt im Torso des belebten Leichnams, der unter der Wucht des Aufpralls einige Schritt zurücktaumelte.
Der Wirt schlug die Tür zu und schob den Riegel vor.
„Ruhe!“
Seine Gäste hielten inne, alle Blicke richteten sich auf ihn.
„Er hatte Recht.“, sagte er, und deutete auf den Verletzten, der bei der erneuten Attacke bewusstlos geworden war. „Die Untoten kommen, und wir sind hier nicht sicher.“
Panisches Stimmengewirr erhob sich.
„Ruhe, bitte. Schweigt!“ Auch dieses Mal reichte seine Autorität aus; er war der Wirt, die Leute hörten ihm zu.
„Wenn wir hierbleiben, werden wir gefressen. Wie Johnny hier.“ Er gestikulierte in Richtung des Unglücklichen, der nur eine Tür hatte schließen wollen und damit mit Teilen seines Gesichts bezahlt hatte.
„Ich habe hier genug Waffen, um euch alle auszurüsten. Es gibt einen geheimen, unterirdischen Gang, der von hier direkt in den Kerker der Burg führt. Und wo könnte es sicherer sein, als in der Burg?“
Die Gruppe um den alten Schwertmeister nickte zögerlich, doch die übrigen Gäste schienen weniger überzeugt.
„Wir sollten uns aufteilen! Dann haben wir größere Chancen ihnen zu entkommen.“, rief einer von ihnen.
„Aye!“
Und so geschah es, dass der größte Teil der Tavernengäste durch den Hinterausgang verschwand, nicht ohne sich vorher am Waffenarsenal des Wirtes zu bedienen.
„Sagt, Wirt“, begann der Alte, „wie kommt es, dass ihr über eine solche Vielzahl Waffen verfügt? Ich wusste nicht, dass die Gastronomie hierzulande ein so gefährliches Gewerbe ist. Tatsächlich dachte ich, dass einzig die Bewohner der Shygyu-Inseln im Gründrachenmeer für solche Gewaltbereitschaft bekannt seien. Damals, als ich...“
„Altersvorsorge.“, knurrte der Wirt ungehalten, während er Armbrüste, Munition und Beile an die Wartenden aushändigte. Dann drehte er sich zu dem Verhüllten und der Wolfenfelser Wache.
„Ihr da! Meine Tochter wird mit euch gehen.“ Er nickte kurz in Richtung der Schankmaid, die sich just in diesem Moment zwei Äxte umschnallte.
„Ich erwarte von euch, dass ihr sie mit eurem Leben beschützt. Nennt mir eure Namen.“
„Man nennt mich Jo.“, erwiderte der Gardist mit einer leichten Verneigung.
Der Verhüllte zögerte, doch dann schien ihm aufzugehen, dass dies kein Moment war um sich zu zieren.
„Ich bin Spizz´zhâ-zirrhim Tlin´orzza. Auch Spizz genannt.“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
Von draußen drang nun deutlich hörbar ein hohles Stöhnen nach drinnen, kurz darauf begann jemand – oder etwas – in einem unsteten Rhythmus gegen die Tür zu schlagen.
„Das soll mir genügen. Ihr habt meinen Segen. Und nun geht – ich halte sie auf!“
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Zunächst sah es danach aus, als würde der Schankwirt recht behalten. So weit sie dank ihrer Fackeln sehen konnten, befanden sich keinerlei Lebewesen im Geheimgang, wenn man mal von ein paar Spinnen und Ratten absah, die flüchteten sobald sie die kleine Gruppe näher kommen hörte.
Jedoch dauerte es nicht lange, bis Jo, der ein Stück vorauslief, abrupt stehen blieb und den anderen mit erhobener Hand bedeutete still zu sein.
„Was ist?“, flüsterte die Purpurgekleidete nervös. „Hast du etwas gesehen?“
„Sshhht...“ Er lauschte in die Stille hinein, schloss die Augen um sich durch die tanzenden Fackelschatten nicht ablenken zu lassen. War es Einbildung, oder...?
„Da vorne ist etwas.“
Ein gutes Dutzend der ruhelosen Toten schleppte sich nach und nach in ihr Sichtfeld, die Arme nach ihnen ausgestreckt als wollten sie sie umarmen, begrüßen wie einen lange verloren geglaubten Freund. Der Anblick war ebenso schaurig wie auf groteske Weise faszinierend, und so starrten sie den Untoten entgegen, bewegungslos. Bis ein Beil an ihnen vorüberflog und den Schädel des ersten Monsters spaltete. Mit einem leisen Stöhnen ging die Kreatur zu Boden, und der Bann war gebrochen.
Armbrüste wurden geladen und abgefeuert, während Jo und Spizz sich gemeinsam mit dem alten Schwertmeister und der Schankmaid den heranrückenden Wesen im Nahkampf stellten.
„Das ist gar nicht so schwer, wie ich dachte!“, rief die Schankmaid, verzückt von der schieren Menge an Gliedmaßen, die sie in so kurzer Zeit von den belebten Körpern getrennt hatte. Doch die gewaltsamen Amputationen schienen die Untoten nicht aufzuhalten; Kreaturen ohne Arme rückten weiter vor und schnappten in Ermangelung geeigneter Greifwerkzeuge mit ihren Kiefern nach den Abenteurern, abgetrennte Arme zogen sich mühsam, aber unermüdlich vorwärts. Und dann geschah, was früher oder später geschehen musste: die Schankmaid verlor ihre Balance und fiel zu Boden. Innerhalb weniger Sekunden, schneller als ihre Gefährten reagieren konnten, hatten die ersten der wandelnden Toten sich schon auf sie gestürzt und zerrissen sie vor ihren Augen. Schlimmer als ihre Schreie war die relative Stille als ihre Stimme schließlich nach quälend langer Zeit verstummte.
„Jetzt fällt es mir wieder ein!“ Der alte Schwertmeister vollführte mit einer für sein Alter erstaunlichen Agilität einen Tritt, der seinen verwesenden Kontrahenten einige Schritt weit zurückwarf.
„Die Köpfe! Wir müssen die Köpfe erwischen, nur so können wir sie besiegen!“
Mit neuer Kampfeswut und neuer Hoffnung warfen die Gefährten sich den Untoten entgegen, und tatsächlich – war der Kopf erst einmal vom Hals getrennt, oder schwer beschädigt, fielen die Kreaturen so tot zu Boden wie sie es eigentlich zu sein hatten.
Als der letzte Untote gefallen war, senkten sie erschöpft die Waffen. Die Schankmaid war die einzige Tote auf ihrer Seite, doch Jo, der Wächter, blutete aus einer Wunde am Knie und konnte sich kaum auf den Beinen halten. „Seine Kniescheibe ist zerschmettert.“, stellte Skeira fest, während sie einen Verband anlegte, der nicht viel mehr tat, als die Blutung aufzuhalten.
Jo richtete sich auf, und schaute ihnen nacheinander in die Augen. „Ihr müsst ohne mich weitergehen. Ich halte euch nur auf.“ Die Purpurne wollte protestieren, doch Jo ließ es nicht dazu kommen. „Ohne mich könnt ihr es schaffen, und für mich ist es schon zu spät.“ Er zeigte ihnen seine Hand – die blutige Bisswunde war deutlich zu sehen, und der junge Mann machte sich keine Illusionen darüber, was dies für ihn bedeutete.
Er war nicht umzustimmen, und so ließen sie ihn in jenem Gang zurück, zusammen mit einer Fackel sowie einer Armbrust samt Munition.
„Denk daran – wenn sie kommen, nimm so viele von ihnen mit wie du nur kannst. Doch bewahre den letzten Bolzen für dich selbst auf.“
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„Sie können uns unmöglich bis hierhin gefolgt sein.“, sagte der Alte. Sie hatten den dunklen Gang mit seinen Gestalten und Gefahren und einigen ihrer Gefährten hinter sich gelassen, und waren nun in einem der Gästezimmer der Burg angekommen.
Dies musste einst eines der luxuriösen Gästezimmer von Burg Wolfenfels gewesen sein – die steinernen Wände waren mit prächtigen Teppichen und Gemälden behangen, und kunstvoll geschnitzte Eichenmöbel und silberne Fackelhalter hätten den Raum wohnlich gemacht, wären da nicht die allgegenwärtigen Spuren der Verwüstung gewesen. Blutige Fußabdrücke vielerlei Herkunft zogen sich durch das Zimmer, Blut auch an den Wänden und dem Mobiliar.
„Das mussten sie auch nicht.“, sagte Spizz.
„Wovon redest du?“, fragte der Schwertmeister.
„Sie sind schon hier.“
Und so mussten sie ihr blutiges Handwerk fortsetzen.
„Seid ihr in Ordnung?“, fragte Skeira, die sich erschöpft an eine Wand lehnte, und die Augen halb geschlossen hielt – so musste sie die Toten nicht betrachten, deren leblose Hüllen im Halbdunkel die Gesichter von Bekannten anzunehmen schienen. Nein... nein, das ist nicht wahr. Sie haben mit unseren ehrwürdigen Toten nichts gemein.
Der Schwertmeister brummte etwas Unverständliches, das allerdings nach Zustimmung klang. Ein leises, fast geflüstertes „Ja“ kam von der anderen Frau, und auch der kleingewachsene, verschwiegene Mann gab zu erkennen, dass er wohlauf war.
Erleichterung durchströmte Skeira, bis sie bemerkte, dass das nicht alle ihre Gefährten war. Auch dem alten Meister war dies augefallen.
„Was ist mit dir, Spizz? ... Spizz?“
Keine Reaktion.
Skeira beobachtete, wie die junge Frau im purpurnen Gewand zu dem verhüllten Krieger hinüberging, der ein Stück abseits der Gruppe stand, die blutigen Schwerter noch immer in seinen Händen.
„Spizz? Spizz?! Bist du noch d-aahhhhh!!“
Der Schrei der Purpurnen erstarb abrupt, als die Klingen des Dunkelelfs ihre Kehle durchschnitten.
Skeira war mit einem Mal hellwach.
Verrat! Wie konnte es sein, was erhoffte er sich davon?
Doch dann setzte Spizz sich in Bewegung, und sie erkannte, was geschehen war.
Einer von ihnen... Wie hat er die Wunde vor uns verbergen können?
Obwohl der Untod ihn erheblich langsamer machte als er es zu Lebzeiten gewesen war, schafften seine Attacken es dennoch, den Schwertmeister in Bedrängnis zu bringen. Zwar parierte der Alte jeden Schlag, doch die Kampffähigkeiten waren dem Dunkelelfen selbst nach dem Tod noch erhalten geblieben. Sein Gegner war gezwungen, immer weiter zurückzuweichen.
Sie hatte sich geschworen, es nie wieder zu tun. Zu viel Leid war aus ihren Taten hervorgegangen, es hatte zu viele Tote gegeben, mehr als sie jemals mit ihren Heilungen würde ausgleichen können.
Doch Skeira konnte nicht einfach dastehen und zusehen, wie ihre Verbündeten starben.
Ich muss es tun!
Der Schwertmeister stand mit dem Rücken zur Wand. Seine Bewegungen waren langsamer geworden, nun gelang es ihm nur noch mit Mühe sein Schwert rechtzeitig zur Parade zu erheben.
Mit der nächsten Attacke gelang es dem untoten Spizz, das Katana des alten Mannes zur Seite zu schlagen, seiner Deckung völlig beraubt.
Spizz holte zum nächsten Schlag aus
- und wurde mitten in der Bewegung von einer großen, haarigen Gestalt gerammt.
Gemeinsam fielen der Untote und der Werwolf, Klauen und Fänge und Klingen blitzten im Fackellicht während beide den anderen zu bezwingen versuchten.
Es war ihr Glück, dass der Schwertmeister nicht lange zögerte und getreu des Prinzips handelte, dass eines Feindes Feind sein Freund sein musste. Und mit einem kräftigen Schlag im richtigen Moment befreite er den entseelten Dunkelelfen von seinem Kopf und Skeira von ihrem Kontrahenten.
Gerade noch rechtzeitig – denn sie fühlte ihre Kräfte bereits wieder schwinden, und konnte sich noch mit Mühe unter dem leblosen Körper ihres einstigen Gefahrten hervorziehen, bevor sie erneut menschliche Gestalt annahm.
Kommentarlos reichte der alte Mann ihr seinen Waffenrock und wartete geduldig, bis sie aufgestanden war und seinem Blick begegnete. Auch der letzte ihrer Begleiter, der sich im letzten Kampf gekonnt unauffällig zurückgezogen hatte, gesellte sich nun wieder zu den beiden.
Schließlich fand der Alte seine Worte wieder. „Wa... wie hast du...?“, und verstummte wieder.
Skeira lächelte unglücklich. „Das ist eine lange Geschichte – doch nun lasst uns erst einmal von hier verschwinden.“
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Nun hatten sie erstmals Zeit, sich ihrer Umgebung bewusst zu werden, und jetzt erkannten sie auch, dass sich zu ihrer Rechten und ihrer Rechten weite Gänge erstreckten. Am Ende des Einen konnten sie einen bläulichen Schimmer ausmachen. Konnte dies tatsächlich schon der Weg nach draußen sein?
Skeira und der alte Schwertmeister würdigten den anderen Gang nicht einmal eines zweiten Blickes, doch ihr letzter verbleibender Begleiter teilte ihre Ansichten nicht.
„So wartet doch.“ Plötzliche Begeisterung hatte ihn erfasst, und trotz all des Grauens lag ein fast fröhlicher Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Wisst ihr denn nicht, dass es in dieser Burg unermesslichen Reichtum zu finden gibt? Keine Wachen um mich aufzuhalten, und niemand, den es stören könnte wenn ich mir ein paar kleine Dinge borge. Wartet hier, ich bin gleich wieder da.“
Und mit diesen Worten eilte er von dannen.
Sie hörten seinen schnellen Schritten zu, die sich von ihnen entfernten und denen man beinahe schon die Vorfreude anhören konnte mit denen ihr Besitzer sich dem unermesslichen Reichtum näherte, der ihn ganz gewiss hinter der nächsten Ecke erwarten würde.
Dann verstummten die Schritte, und für einen Augenblick war die Stille im Halbdunkel nahezu absolut. Der alte Mann und die junge Frau warfen sich einen Blick zu.
Ein Schrei hallte durch die Gänge, und Skeira setzte sich in Bewegung. Er braucht Hilfe, er braucht uns, wir müssen ihm helfen!
Doch eine Hand auf ihrer Schulter hielt sie zurück. Sie drehte sich zum Schwertmeister, dieser schüttelte nur den Kopf. Zu spät...
Der Schrei wurde zu einem hysterischen Kreischen, dann war es wieder still. Bis auf ein kaum hörbares Schlurfen in der Dunkelheit.
Skeira schluckte hart und umklammerte ihre Armbrust. Sie sind hier.
Sie hob die Waffe und zielte auf den Schemen, der sich langsam aus der Dunkelheit herausschälte. Im Zwielicht meinte sie, die Überreste einer schwarzblauen Uniform zu erkennen, die in Fetzen vom geschändeten Körper herunterhing. Ihr wurde übel.
Ihre Hand zitterte als sie versuchte, den Kopf anzuvisieren.
Ziel´ auf den Kopf. Die Worte des Schwertmeisters in ihrem Kopf, seine Hand um die ihre, sanften Druck gebend, sie stabilisierend.
„Das ist nicht Jo, nicht mehr. Er würde es dir danken. Tu es – für ihn.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch mit seinen Worten und seinen Händen gelang es ihr schließlich, ihre eigenen Hände ruhig zu halten, und den Bolzen abzuschießen. Keine Gnade.
Die Kreatur fiel, doch das Schlurfen hielt an. Ein vielstimmiges Stöhnen ertönte aus dem finsteren Gang, kam näher.
Skeira suchte hektisch nach ihrer Munition, doch der Köcher war leer. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Erneut rettete sie eine Hand in der ihren, die sie dieses Mal energisch mit sich zog. Durch die unbeleuchteten Gänge, durch offenstehende Türen, durch weitere Bildnisse der Zerstörung bis zum großen hölzernen Tor, das auf den Burghof führte.
Sie hielten nur kurz inne, um das Tor mit zwei Hellebarden zu verbarrikadieren, die sie durch die weit geschwungenen Türgriffe steckten. Vielleicht würde das Tor die Untoten sogar kurze Zeit aufhalten können...
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“Wie sollen wir jemals hier weg kommen? Sie sind überall, und es werden immer mehr!” Skeira konnte nun nicht mehr verbergen, dass die Panik schon lange von ihr Besitz ergriffen hatte. Der alte Schwertmeister schien jedoch geradezu unangebracht gelassen. Seit er wie aus einem Reflex heraus die Führung übernommen hatte, hatte er nur wenig geredet und die stets kleiner werdende Gruppe sicher durch die untoten Massen geleitet. Skeira hoffte, dass er eine Idee hatte, dass er weiter geplant hatte als bis zu diesem Punkt. Sie hasste es, ihr Schicksal in anderer Leute Hände zu legen, doch es blieb ihr wohl nichts anderes mehr übrig.
Er hielt inne als sie durch das Burgtor auf den Dorfplatz traten, unweit der Taverne, die jetzt wie ausgestorben schien. Niemand war im Schein der Straßenlaternen zu sehen, weder tot noch lebendig.
“Wir können auf meinem Pferd wegreiten.” Der Alte schenkte ihr ein nahezu zahnloses Grinsen. “Das erinnert mich an damals. Damals, als ich während der großen Goblinplage von 1349 von Feinden umringt war, und...” – “Welches Pferd?”, unterbrach Skeira ihn ungehalten. Wie konnte er hier stehen und eine Anekdote zum Besten geben, wo doch die Armee der Untoten sie jeden Moment einholen könnte.
“Mein Pferd, meine treue Ziva. Sie wartet noch draußen vor der Taver...oh.”
Offensichtlich war ihm etwas eingefallen. “Komm, schnell. Wir müssen uns beeilen. Oh, hoffentlich ist es noch nicht zu spät!”
Ziva stand tatsächlich noch auf der anderen Seite der Taverne, und drehte träge den Kopf zu ihnen als sie näher kamen. Skeira zögerte. Dieses abgemagerte Tier sollte sie aus dieser Hölle herausbringen? Tatsächlich sah die Stute aus, als sei sie dem Tode näher als dem Leben.
Aber was habe ich für eine Wahl?
“Ziva! Da bist du ja! Bin ich froh, dich zu sehen, mein Mädchen.“ Fröhlich plappernd ging der Alte auf sein Pferd zu. Irgend etwas stimmt hier nicht, dachte Skeira.
Vielleicht lag es daran, dass sie Pferden noch nie so richtig vertraut hatte. Oder vielleicht lag es doch an den verstümmelten Leichen, die das Ross umringten, oder an dem seltsam blicklosen Ausdruck in Zivas Augen.
Skeira hielt sich hinter dem Schwertmeister, der sein Pferd nun erreicht hatte, die rechte Hand erhoben um dem Tier über die Nüstern zu streicheln. Ziva schnappte nach ihm.
Der Alte, offenbar die Eigenheiten seines Reittiers gewohnt, zog die Hand beinahe rechtzeitig zurück, sodass Ziva nur seine Fingerkuppen erwischte.
Blut spritzte, und der Alte fluchte, während er einen Schritt zurücktrat. „Ziva!“ Er klang empört, und ein klein wenig verwundert.
Ungläubig sah Skeira zu, wie das Pferd seinem Herren nachsetzte, das Maul geöffnet, bereit, erneut zuzubeißen. Der Alte hatte keine Zeit um auszuweichen; die Zähne des Biests gruben sich tief in seinen linken Oberarm und rissen mit einem heftigen Ruck blutige Muskelstränge heraus.
„Pass auf!“, schrie Skeira, obwohl es schon zu spät war. Was in den neun Höllen ist mit diesem Tier geschehen?
Ziva gab einen Laut von sich, der eher an ein Stöhnen als an ein Wiehern erinnerte.
Schreckliche Erkenntnis überkam Skeira im selben Moment, in dem der Schwertmeister das Katana zog und nach Ziva schlug. Die Klinge hinterließ einen tiefen Schnitt quer über Zivas Brust, doch nur eine winzige Menge Blut sickerte aus der eigentlich tödlichen Wunde.
Ziva störte sich nicht daran – sie stieg, und schlug mit den Vorderhufen nach ihrem Meister. Behende duckte er sich unter den Schlägen weg, doch die Strapazen der langen Nacht begannen nun auch an seiner Konzentration zu zehren, und so traf einer der Hufe ihn an der Schulter.
Es klirrte als das Schwert aus seiner tauben Hand zu Boden fiel, ein Geräusch das trotz des Kampfes unnatürlich laut zu Skeira herüberdrang. Ich muss etwas unternehmen!, dachte sie, fieberhaft nach einer Möglichkeit suchend in den Kampf einzugreifen. Sie fühlte sich ausgelaugt, erschöpft. Die Munition für die Armbrust in ihrer Hand war schon seit langem ausgegangen.
Nutzloses Ding!
Sie holte aus und warf die Fernwaffe mit aller Kraft in Zivas Richtung. Die Armbrust schlug einige Meter entfernt auf dem Kopfsteinpflaster auf und zersplitterte wirkungslos in ihre Einzelteile.
Skeira sah hilflos zu, wie das unermüdliche Ross seinen Meister weiter zurückdrängte und ihm stets neue Bisswunden beibrachte. Einer plötzlichen Eingebung folgend griff sie sich einen Pflasterstein, der sich aus der Straße gelöst hatte, und warf erneut. Dieses Mal hatte sie mehr Glück: der kantige Stein traf Zivas Flanke mit einem dumpfen Schlag.
Das Pferd drehte träge den Kopf in ihre Richtung und hielt einen Moment inne, als sei es unschlüssig ob Skeira eine Bedrohung für sie formte oder nicht.
Dieser kurze Augenblick des Zögerns war alles, was der Schwertmeister benötigte: er griff nach seinem Katana, und schwang es in zwei schrecklichen, mächtigen Schlägen gegen sein einstiges Reittier; mit dem Ersten durchtrennte er eines ihrer Vorderbeine, und ehe Ziva das Gleichgewicht verlor, trennte der zweite Schlag ihren Kopf vom Hals.
Doch noch bevor der endgültige Tod die Stute ereilen konnte, machte sie noch einen letzten Satz vorwärts, und begrub im Fallen den überraschten Schwertmeister unter sich.
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Skeira kniete neben dem gefallenen Schwertmeister nieder. Seine Augen waren geschlossen, und obwohl sein Körper zahlreiche Wunden aufwies, lag ein Lächeln auf seinem Gesicht. Sein Geist verweilte schon nicht mehr in dieser Welt als er seinen letzten Atemzug tat. Sie beneidete ihn darum.
Behutsam bettete sie seinen grauhaarigen Kopf auf ihren Knieen und bemühte sich, ihren Blick auf ihn gerichtet zu halten, und nicht auf die langsam, aber stetig näherrückende Armee der wandelnden Toten.
"Beinahe... beinahe hätten wir es geschafft.”
Sie schloss die Augen und versuchte, die Panik zurückzudrängen, sich zu konzentrieren um den Wolf in ihr zu finden. Müdigkeit und Verzweiflung erschwerten es ihr, machten es schier unmöglich jenes vertrautes Kribbeln wahrzunehmen, das sich nach einer gefühlten Ewigkeit von ihrem Innern aus über den ganzen Körper ausbreitete. In jenem schmerzhaften Moment, in dem ihre Gestalt sich wandelte, öffnete sie die Augen wieder, um noch einmal – mit menschlicher Sicht – den alten Schwertmeister anzusehen, dem sie ihr Leben zu verdanken hatte.
Tote, leere Augen starrten zurück und blinzelten nicht einmal, als das, was einmal der Alte gewesen war den Kopf hob und und das Gesicht in ihre Richtung drehte, den Mund zu einem makaberen Grinsen verzogen.