Nochmal wegen Syrien...
In der Welt ist ein
Interview mit dem Blogger "Brown Moses" (ich weiß nicht, ob da eine Paywall ist, weil ich Zugang habe). Quintessenz von Elliot Higgins, der sicherlich nicht total neutral, aber doch unabhängig von irgendwelchen Staaten und ihren Diensten ist: Natürlich gibt es keine "physischen" Beweise (und natürlich warter er auch sehnlichst auf die Ergebnisse der Experten vor Ort), aber doch eine solche Fülle von Indizien, dass man ein paar Dinge als plausibel belegte Fakten bennenen kann:
A) Hat es überhaupt einen C-Waffen Angriff gegeben?
JA (unstrittig). Es hat einen Chemiewaffenangriff gegeben. Die Bilder von den vergasten Männern, Frauen, Kindern und Tieren sind mit größter Wahrscheinlichkeit nicht gefälscht. Das DASS eines Chemiewaffeneinsatzes wird im Übrigen auch vom Regime, Iran und Russland nicht bestritten. Insofern ist es auch etwas müßig auf die Ergebnisse der Inspektoren vor Ort zu hoffen, denn deren Aufgabe ist ausdrücklich, nur festzustellen OB C-Waffen eingesetzt wurden und nicht von wem. Sie werden also nur das ermitteln können, was ohnehin unstrittig ist. Für die Frage des WER werden sie bestenfalls nur weitere Indizien beisteuern können, was aber der Fraktion die BEWEISE fordert nicht genug sein wird.
B) WO und WANN fand der Angriff statt?
In von Rebellen kontrollierten Vorort-Bezirke von Damaskus (unstrittig). eine große Zahl von Indizien deuten auf einen Angriff zeitgleich in mehreren Bezirken hin, dies wurde auch von unabhäniger Seite (Ärzte ohne Grenzen=MSF) bestätigt.
C) Welche Menge wurde eingesetzt?
Es gibt eine Fülle von Hinweisen, dass die Menge des eingesetzten Kampfstoffes erheblich war, eine Vielzahl von Opfern sind unabhängig bestätigt: Wenn MSF feststellt, dass Hunderte in den von ihnen betreuten Krankenhäusern verstorben sind, lässt das auch Rückschlüsse zu, wie viele Opfer das Krankenhaus nicht erreicht haben dürften und tot in Straßen und Häusern liegen.
D) Welcher Kampfstoff wurde eingesetzt?
Genauere Klarheit könnte von den Inspektoren kommen, es ist aber nicht sicher, dass sie beweiskräftige Spuren finden. Es ist aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Nervenkampfstoff gewesen, darauf deuten die beobachteten und dokumentierten Symptome hin. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde ein stark flüchtiger Kampfstoff eingesetzt, also eher Tabun/Sarin als VX, weil die betroffenen Gebiete schon relativ kurz nach dem Angriff wieder gefahrlos betreten werden konnten. Durchaus möglich ist aber auch ein Einsatz eines besondern Gemischs verschiedener Substanzen, oder bisher wenig dokumentierte Gifte wie die aus der russischen Novichok Reihe. Vieles deutet auf den Einsatz eines binären Kampfstoffes hin, also ein Mehrkomponenten-Zeug, das sich erst in der Granate/Rakete mischt um zum tödlichen Gift zu werden (Quelle: Brown Moses Blog).
E) Womit wurde er verschossen? Es wurden Raketenteile gesichert, die offenbar dazu geeignet waren, C-Kampfstoffe zu verschießen (begrenzter Sprengkopf, Zusatztank zur Aufnahme von nichtexplosiver Flüssigkeit/Gas). Der Gebrauch derartiger Raketen durch die syrische Armee ist dokumentiert. In der Hand der Rebellen bislang nicht, auch wenn die theoretische Möglichkeit besteht, dass diese sie erbeutet haben könnten. Der Einsatz durch Kanister oder ähnliches ist durch die verteilte und breite Wirkung im höchsten Maße unwahrscheinlich.
Damit kommen wir zur entscheidenden Frage...
F) Wer hat es getan?
Wichtig ist festzuhalten, dass die Antwort "niemand" wegen oben genannter Faktenlage ungültig ist. Irgendeiner muss es getan haben, und es kommen nur zwei Seiten in Betracht. Dabei muss festgehalten werden, dass jeder Versuch, zu beweisen, dass es die Rebellen gewesen sein könnten, kläglich gescheitert ist. Wenn die Rebellen es aber nicht waren, bleibt nur die Möglichkeit, dass es das Regime war, wenn man nicht irgendwelche kuriosen Außerirdischen bemüht.
Allerdings funktioniert diese Logik nur, wenn die Rebellen wirklich erwiesenermaßen unschuldig sind. Ein Freispruch aus Mangel an Beweisen reicht nicht aus. Das gilt aber auch umgekehrt: Wenn der Versuch, die Schuld des Regimes zu beweisen, nicht lückenlos gelingt, ist das noch lange kein Beweis, dass es die Rebellen gewesen sein müssen.
So sehr auf eindeutige Beweise gepocht wird, muss man leider einräumen, dass es sich hier juristisch gesprochen um einen Indizienprozess handelt. Wir werden kein Geständnis bekommen, und die Chance, wirklich zweifelsfrei ohne die wenigstens theoretische Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit die Wahrheit zu ermitteln sind gleich Null.
Danach muss man aber gleich feststellen: Die Indizien sprechen mit einer erdrückenden Last gegen das Regime.
Erstens sind die Rebellen wirklich durch die Indizien derart entlastet, dass sie praktisch "erwiesen unschuldig" sind. Also auch wenn man ihnen ein starkes Motiv unterstellen könnte (Erzwingung eines Eingriffs von außen bei militärisch immer verzweifelterer Lage), sind ihnen die Mittel und die Gelegenheit zur Tat abzusprechen. Ihnen fehlt praktisch alles, um einen Angriff von dem beschriebenen Ausmaß durchzuführen: Ausgebildetes Personal, die schiere Menge an Kampfstoff, die erforderliche Munition, das nötige Trägersystem von der Rakete bis zur Abschussvorrichtung. Jeder Versuch eine theoretische Möglichkeit einer Verantwortung der Rebellen zu konstruieren endet in der Praktischen Umsetzung in Unmöglichkeiten oder überdehnten Verschwörungstheorien.
Zweitens ist das Regime durch die Indizien so stark belastet, dass es praktisch als erwiesen schuldig zu betrachten ist. Denn alles, was die Rebellen nicht haben, ist auf Seiten des Regimes vorhanden: Die Menge an Kampfstoff, das ausgebildete Personal, Trägersystem mit Munition und Abschussvorrichtung. Wenn du ein erschossenes Mordopfer hast, suchst du ja auch nach jemandem mit einer Schusswaffe und nicht mit einem Baseballschläger. Das Regime hat genau diese Schusswaffen alle im Schrank, und leider sind sie nicht registriert, und es wurde auch nicht gestattet, die Bestände zu sichten oder zu überprüfen. Überhaupt macht sich das Regime durch Vernichtung von Beweisen (intensiver Artilleriebeschuss des betroffenen Gebietes) zusätzlich verdächtig.
Einzig das Motiv bleibt rätselhaft. So sehr natürlich ein Interesse des Regimes besteht, Rebellenhochburgen direkt vor der Haustür der eigenen Haupststadt "auszuräuchern", so sehr muss den Verantwortlichen das Risiko einer solchen Aktion doch bewusst gewesen sein. Macht der Einsatz denn Sinn, wenn doch militärisch die Lage für Assads Armee gerade besser wurde?
Das ist ein Problem, doch zeigt der weitere Gang der Ereignisse: Möglicherweise hielt das Regime das Risiko für beherrschbar. Momentan sieht alles danach aus, als ginge Assad aus der ganzen Chose als Sieger hervor: Wenn die Angriffe so dosiert erfolgen, wie sie jetzt angekündigt werden, wird er sie überleben. In der arabischen Welt aber einen amerikanischen Angriff zu überleben sichert definitiv den Heldenstatus auf Lebenszeit. Wenn dann die Angriffe auch noch seine militärische Infrastruktur soweit schonen, dass damit kein entscheidender Nachteil im Bürgerkrieg entsteht, dann kann er eigentlich nur gewinnen. Die westliche Hoffnung, ihn wie Milosevic an den Verhandlungstisch bomben zu können, halte ich für trügerisch im arabischen Kontext.
Zweitens muss gefragt werden, wie weit Assad wirklich Herr im eigenen Haus ist: Iran könnte ein vitales Interesse haben, den Westen in den Syrienkrieg zu verwickeln. Russland profitiert derzeit erheblich von seiner Rolle als Kriegsverhinderer und Anwalt der Opfer des amerikanischen Interventionismus'. Es ist prägendes Merkmal der langfristigen Putin-Außenpolitik, die monopolare Weltordnung mit den USA als einziger Supermacht zu beenden, und zurück zu einer Bipolarität zu kommen, auch wenn dies einen teilweisen Rückfall in den Kalten Krieg bedeuten würde. Obama dazu zu zwingen gegen das Veto des UN-Sicherheitsrates (das Russland ja in der Hand hat) seine rote Linie zu verteidigen oder sie preiszugeben ist eine klassische Winwin-Situation, in jedem Fall werden die USA in ihrer Rolle als Weltpolizist beschädigt: sie erscheinen entweder als diejenigen, die sich selber gar nicht an Recht und Gesetz halten - oder als diejenigen, die auch den übelsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit tatenlos zusehen.
Als Drittes wird für möglich gehalten, dass der Angriff von den Tätern in seiner Wirkung unterschätzt wurde. Tatsächlich gibt es bei den syrischen C-Waffen zwar ausgebildetes Personal, aber doch keine Erfahrungen im tatsächlichen Einsatz dieses Zeugs, um so mehr, wenn neue Mischungen oder Stoffe eingesetzt werden. Es ist keine völlig abwegige Möglichkeit, dass bei dem Versuch, einzelne Häuser zu entwesen ganze Straßenzüge vergast wurden.
So sehr die zweite und dritte Option die Schuldfrage bezogen auf Assad und sein Regime in Frage stellen, so wenig ändert das an der politischen Verantwortung des Regimes für diese Angriffe.
ZORA