skull
Die 1. Spur — Transformationen
Während ihres Gespräches mit dem Hauptmann musste es geregnet haben; die Pflastersteine unter den Absätzen ihrer festen Stiefel waren nass und rutschig, in den Schlaglöchern der Straßen hatten sich Pfützen gebildet. Aus diesen stieg nun Nebel empor, der durch die Gassen Baldurs Tors zog und sich mit dem Rauch der Feuer und Kohlebecken vermischte, die diejenigen Bewohner entzündet hatten, für die die Straßen trotz Kälte und Regen sprichwörtliches oder tatsächliches Zuhause waren.
Vicky spürte die Blicke, die ihr folgten. Desinteressiert, neugierig oder bedrohlich, unter Hutkrempen und Kapuzen hervor, aus einfachen Verschlägen die sowohl wohltätige Suppenküchen, zwielichtige Geschäfte oder improvisierte Wohnstätten sein konnten. Viele der Gesichter, die sie im Vorbeigehen erhaschte trugen deutlich goblinoide Züge. Die Stadtwache und die Flammende Faust hatten ihre Augen zugedrückt und ihre Hände aufgehalten, als die Händler und die „ehrenwerte Gesellschaft“ der Stadt billige Muskelkraft für ihre fragwürdigeren Betätigungen hinein holten, und nun wurden sie der immer größer werdenden Goblingemeinde hier im Grenzgebiet zum Hafenviertel nicht mehr Herr. Früher oder später würden wieder in einer großen Aktion alle Buden und Verschläge, die sich zwischen den steinernen Gebäuden angesiedelt hatten, niedergerissen und ihre Bewohner, ob nun Menschen, Goblins oder Mischlinge vor die Tore der Stadt getrieben werden. Wie immer würden sich aber genügend der Slumbewohner in der Kanalisation versteckt haben, um das Spiel von vorne beginnen zu lassen.
Vicky fühlte sich jedoch nicht sonderlich bedroht, während sie zielsicher durch die engen Straßen schritt und dabei versuchte, den widerlichsten Ansammlungen aus angespültem Dreck auszuweichen. Sie sinnierte darüber, ob ihre zunehmende Vertrautheit mit dieser Stadt dafür sprach, dass sie tatsächlich begann sich heimisch zu fühlen, oder es eher ein Zeichen des fortschreitenden Niedergangs von Baldurs Tor war.
Sie hatte ursprünglich überhaupt nicht damit gerechnet, dass ihr Fall sie in dieses verkommene Viertel führen würde. Die erste Person, die sie im Zusammenhang mit dem Verschwinden des Fräulein Silberschild befragen wollte, war ein recht wohlhabender Händler namens Marvis Telpas, der über die Route Nashkel – Beregost – Baldurs Tor Schmuck importierte. Es hätte eine Routinebefragung werden sollen. Marvis hatte Elisa Silberschild über die Jahre mehrere kostbare Schmuckstücke verkauft und sich mit der jungen Dame angefreundet, es war also nicht ganz auszuschließen, dass er etwas über die Interessen und Pläne des Fräuleins wusste.
Die Angelegenheit hatte jedoch auf dramatische Art und Weise an Brisanz gewonnen, als ihr ein den Tränen naher Schreiber im Kontor von Marvis Gesellschaft eröffnet hatte, dass sein Herr zusammen mit seiner gesamten Handelskarawane eine Tagesreise nördlich von Beregost brutal abgeschlachtet aufgefunden worden war. Der Fall war von einer Einheit der Flammenden Faust unter einem Hauptmann Lindendorf untersucht worden, mehr wusste der sichtlich aufgelöste Schreiber nicht.
Vicky kannte Lindendorf oberflächlich von einer früheren Untersuchung her.
Ein junger Kadett an der Pforte des Hauptquartieres der Flammenden Faust ließ sie stotternd wissen, dass der Hauptmann tatsächlich schon wieder in der Stadt war. (Die Schlachtenmagier der Faust ermöglichten schnelle Reisen.) Vicky ließ ihren Charme ein wenig mehr spielen (und beobachtete fasziniert, wie die Haut des jungen Mannes sich einem schon fast bedenklichen Tiefrot annäherte) und wurde letztendlich ohne größeres Aufhebens direkt zur Stube des Hauptmanns geführt.
Die Glut ihrer langstieligen Zigarette spiegelte sich im polierten Metall des Vollhelmes, den der grauhaarige Söldner auf seinem Tisch abgestellt hatte. Neben dem Helm hatte Mono es sich bequem gemacht und spielte Feuerzeug. Lindendorf hatte dankend abgelehnt, als Vicky ihm von ihrem Tabak angeboten hatte, und trank stattdessen Bier aus einem Zinnkrug mit dem namensgebenden Wappen der Flammenden Faust. „Schreckliche Sache das“, meinte Lindendorf und wischte sich den Bierschaum vom Mund. „Über Nacht zerfleischt, die gesamte Karawane. Auch die Tiere. Wir waren leider erst einige Tage nach der Tat am Lager, Zeit genug für einige unerschrockene Plünderer sich zu bedienen. Ob bei dem Überfall selber etwas gestohlen wurde, können wir nicht mehr mit Sicherheit sagen, ich denke aber nicht.“
Vicky hob eine Braue.
„Wieso erwägst du überhaupt einen Raubüberfall? Nach diesen Unterlagen—“ sie deute auf einen Stapel Dokumente der neben Lindendorfs Helm und Mono aufragte „—ist das ganze Gemetzel vermutlich auf, Zitat, ein Rudel tollwütiger Warge oder Winterwölfe, Zitat Ende, zurückzuführen.“
Lindendorf schnaubte in seinen Bierkrug.
„Leicht zu durchschauen, nicht wahr? Die Schlussfolgerung wurde uns von oben, ah, nahegelegt. Auf die Art können wir den Fall abschließen, ohne dass zu hohe Kosten entstehen. Letzten Endes ist die Flammende Faust immer profitorientiert…“ Der Söldner versank kurz in Gedanken und kratzte seine Bartstoppeln. „Unsere Führung scheint mal wieder darauf zu vertrauen, dass sich eine Gruppe von naiven Tunichtguten und Abenteurern findet, die das Problem löst. Und wenn nicht, und solange kein reicher Verwandter auftaucht, der auf Aufklärung sinnt…“ er zuckte mit den Achseln.
Vicky lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und blies nachdenklich blauen Rauch in Richtung des schmalen Fensters, nicht ohne daran zu denken, vorher der Form halber an ihrer Zigarette zu ziehen. „Zu welcher Schlussfolgerung bist du denn inoffiziell gelangt?“
Er betrachtete fasziniert die Rauchschwaden. „Oh, Wölfe, durchaus. Aber die Sorte, die den meisten Ärger macht.“ Ein weiterer Schluck Bier. „Lykanthropen.“
Lindendorf erzählte, dass er und seine Männer schnell zu dem Schluss gekommen waren, dass als Mörder höchstens ein oder zwei Wesen in Frage kamen, die sich dafür aber äußerst schnell und mit enormer Kraft auf ihre schlafenden Opfer gestürzt hatten. Die meisten Leichen wiesen in der Tat Bisswunden auf, wie sie auch ein besonders großer Warg oder Winterwolf verursachen könnte, dazu kamen aber Verletzungen wie Knochenbrüche oder Opfer, die einfach in Zwei gerissen waren.
„Und jetzt kommt das Interessante“, sagte Lindendorf, „es ist nämlich gar nicht die gesamte Karawane umgebracht worden. Ein Mitglied fehlt. Eine junge Frau aus Beregost namens Hati. Skeira Hati. Hat sich der Karawane erst einen Tag vor dem Überfall angeschlossen.“ Er schwieg einen Moment vielsagend. „Wir haben natürlich versucht, sie zu finden. Einige Bauern haben einer Frau Unterschlupf gewährt, auf die die Beschreibung passt. Alle haben sie außerdem als verwirrt und ängstlich beschrieben. Jedenfalls hat sich ihre Spur vor ein paar Tagen verloren, kurz bevor wir den Befehl bekommen haben, die Untersuchungen einzustellen. Und zwar in—“ eine weitere Kunstpause „—Baldurs Tor."
Vicky hatte sich eine Beschreibung für Skeira Hati geben lassen. Blass, langes Haar, blaugraue Augen und zuletzt in hellblauer Kleidung gesehen worden. Insgesamt durchaus hübsch, aber ein wenig unscheinbar. Lindendorf hatte Vicky einen Silberanhänger gegeben, der, von den Plünderern übersehen, am Ort des Überfalls gefunden worden war. Aussagen von Beregoster Bürgern zufolge gehörte er Hati. „Nimm ihn nur, wenn dich der Fall interessiert.“ meinte er. „Wenn ich den an den Zeugmeister weitergebe, ist er morgen schon verschwunden.“
Es gab eine Verbindung zwischen Hati und einem Kleriker des Lathander in Baldurs Tor, der Flammenden Faust zufolge war Skeira jedoch nie bei diesem aufgetaucht.
Keine große Überraschung; Vicky wusste, was einem einsamen, unerfahrenen Mädchen aus der Provinz in Baldurs Tor zustoßen konnte— und deswegen war sie nun eben hier, im verrufensten Viertel der Stadt.
Von der Ecke an der sie stand hatte sie einen guten Blick auf ihr Ziel, während sie sich eine weitere Zigarette drehte und sie in das lange Mundstück einsetzte. Mono gab ihr begleitet von einem höflichen Klicken Feuer.
Mittlerweile war es dunkel, aber Rollo stand gut sichtbar im Schein einer der wenigen funktionierenden Gaslaternen. Durch den Rauch ihrer Zigarette hindurch beobachtete Vicky, wie der Halbling seine Mädchen die Straßen auf und ab schickte und ihnen das erarbeitete Geld abnahm. Stets flankiert von seinen beiden muskelbepackten nicht-ganz-menschlichen Aufpassern, die ihren Chef gut und gerne um das doppelte überragten. Nach einer kurzen Weile beschloss Vicky, dass sie genug gesehen hatte. Sie öffnete ihren Mantel und spazierte gemächlich auf die Dreiergruppe zu.
„Hallo, Rollo.“ sagte sie und blies Rauch in die Gesichter der beiden Knochenbrecher, die sich sofort schützend vor ihrem Brötchengeber aufgebaut hatten. „Pfeif deine Wachhunde zurück, wir müssen reden.“
„Vicktory!“ Rollo ließ die Wurstsemmel fallen, die er eben noch in seinen fettigen Händen gehalten hatte. „Verschwinde! Du hast nichts gegen mich in der Hand!“
„Ganz im Gegenteil.“ Sie deutete auf die beiden Leibwächter, die ihre Fäuste gesenkt hatten und wie paralysiert auf ihre Oberweite starrten. „Wenn die beiden hier noch grüner wären, müsste man sie gießen. Pfeif sie zurück oder ich sorge dafür, dass die Stadtwache deine ganze degenerierte Schlägertruppe mal genauer unter die Lupe nimmt.“
Der Halbling befahl den beiden fluchend, etwas Abstand einzuhalten. Dann kramte er aus einer seiner Westentaschen ein Stück Salami hervor und begann mürrisch, darauf herumzukauen. „Also, was willst du?“
Vicky zog ihren Mantel wieder enger um sich. Mit ihrem Aussehen konnte sie Rollo nicht beeinflussen, das wusste sie. Höchstens, wenn ich mich in eine Schweinshaxe verwandeln könnte.
„Skeira Hati, sagt dir der Name etwas?“ Vicky gab Rollo eine Beschreibung der jungen Frau. „Ich muss wissen, ob jemand auf den diese Beschreibung passt auf den Straßen hier aufgetaucht ist. Sollte nicht mehr als ein paar Tage her sein.“
Rollo legte sein fleischiges Gesicht in Falten und schluckte den Rest der Wurst herunter. „Oh ja, von der habe ich gehört. Hat einige Aufmerksamkeit im Gewerbe verursacht, als sie so alleine durch das Tor ist, das dumme Ding.“ Rollo lachte meckernd und zauberte einen Apfel aus den unergründlichen Tiefen seiner Westentaschen. „Ist allerdings gleich gekascht worden… neuer Unternehmer, betreibt Etablissements bei den Docks. Wird wahrscheinlich grade, ah, eingearbeitet, die Kleine.“ Wieder das meckernde Lachen.
„Welches Gebäude?“
„He.“ Rollo hob seinen Apfel zum Mund. „Du weißt doch, eine Hand wäscht die andere…“
Es regnete wieder. Vicky warf den Apfelbutzen in eine Pfütze am Straßenrand und betrachtete das alte Lagerhaus, in dem Skeira Rollo zufolge festgehalten wurde.
Sie wusste nach wie vor nicht, ob das Mädchen überhaupt in irgendeinem Zusammenhang mit ihrem aktuellen Auftrag stand, und im schlimmsten Fall war es sogar verantwortlich für das Massaker an der Karawane, aber Vicky hoffte dennoch inständig, dass die Zuhälterbande noch nicht mit der „Einarbeitung“ ihres neuesten Fanges begonnen hatte.
Aus einigen der schmalen Fensterluken des Gebäudes drang flackerndes Licht. Der Eingangsbereich würde todsicher bewacht sein. Aber im Schutze der Dunkelheit war Vicky bereit, eines ihrer besonderen Talente einzusetzen. Sie seufzte und verstaute ihren schweren Mantel an einer Stelle, an der sie hoffte, ihn später wiederzufinden.
Sie schlug keuchend auf dem Dach des Lagerhauses auf. Verdammt dachte sie, während sie sich überschlug und brennende Schmerzen ihren Rücken durchfuhren, du bist aus der Übung, Mädchen!
Ein Tutor, den ihr Vater engagiert hatte, hatte ihr einmal erklärt, dass ihre Flügel rein metaphysischer Natur seien. Dafür waren sie verdammt empfindlich.
Langsam ließ der Schmerz nach, während Vicky zu ihrer menschlichen Gestalt zurückkehrte. Zumindest hoffte sie, dass sie keine allzu deutlichen dämonischen Züge übersehen hatte. Immerhin, es gab zwei Lichtblicke. Die höllischen Kopfschmerzen (haha) die sie manchmal plagten, wenn sie ihre Gestalt veränderte blieben aus, und das Dach verfügte wie erhofft über eine Luke. Zwar mit einem Schloss gesichert, aber dieses war kein Problem für den fröhlich surrenden Mono, der sich mit Elan an diese erste wirkliche Herausforderung des Tages machte.
Vicky schlich äußerst vorsichtig und ohne einen Laut durch den Dachstuhl hin zu der Luke, die zum oberen Stockwerk des Lagerhauses führte. Früher hatten sich dort die Kontore der Buchhaltung befunden, und Vicky vermutete, dass diese sich am besten als Zellen eigneten.
Ein vorsichtiger Blick durch die Luke verriet ihr dann, dass all ihre Vorsicht in Bezug auf die Wachen überflüssig gewesen war.
Am Fuße der Leiter lag die Leiche eines Mannes, ein Kurzschwert in der leblosen Hand, die grobe Lederkleidung ebenso zerfetzt wie das Fleisch darunter. Am Gürtel des Mannes hing ein Schlüsselbund. Von der Leiter führte ein gerader Gang zu einer Treppe, einige Öllampen spendeten schummriges Licht. Zu beiden Seiten des Ganges befanden sich solide Türen mit Vorhängeschlössern. Bis auf eine standen alle offen. Eine Blutspur führte von der Treppe zur Leiche.
Von unten hörte Vicky Geräusche hinauf schallen. Schreie, zerberstendes Holz. Mono klickte fragend.
Ja, Flucht ist wahrscheinlich keine schlechte Idee.Aber Vicky hätte ihren Beruf nicht ergriffen, wenn sie nicht von einer ausgemachten Neugier besessen wäre. Sie nahm den Schlüsselbund an sich, machte ihre Handarmbrust schussbereit und öffnete die Zelle.
„Skeira Hati?“ Die junge Frau, die zusammengekauert in einer Ecke des Raumes hockte, schreckte auf. Ihr hübsches Gesicht war dreckverschmiert, die Augen vor Tränen verquollen. Die Haare hingen wirr in Strähnen herab, die einstmals blaue Kleidung war zerfetzt und schmutzstarrend.
„Bitte!“ schluchzte Skeira, „lasst mich gehen. Ich kann nichts dafür! Ich wollte niemandem Schaden zufügen. Bitte!“
„Ganz ruhig.“ Vicky warf einen raschen Blick über ihre Schulter, versuchte aber in beruhigendem Tonfall zu reden. „Ich weiß was passiert ist“ eine kleine Notlüge „und dass du unschuldig bist. Aber wer immer die Händler getötet hat, tobt sich gerade unten in der Lagerhalle aus, wir sollten also verschwinden.“ Vicky redete weiter beruhigend auf die offensichtlich verwirrte Skeira ein, während sie sie behutsam aber bestimmt auf die Füße zog und aus der Zelle in Richtung Speicher bugsierte. Keine Geräusche mehr von der Treppe.
Vicky bewegte Skeira mit sanfter Gewalt über die Leitern auf das Dach. „Das wäre geschafft.“ Sie sog die frische Nachtluft ein. „Ok Kleine, was Du jetzt siehst wird dich vielleicht erschrecken aber—“
„Kein Grund, sich zu erschrecken.“ Eine Männerstimme. „Das ist doch ganz natürlich.“
Vicky und Skeira wirbelten herum. Nur wenige Meter von ihnen entfernt auf dem Dach stand ein nackter Mann. Das Mondlicht reflektierte sich glitzernd in dem Blut, das seinen muskulösen Körper bedeckte.
„Hallo, kleiner Welpe.“ sagte der Mann grinsend (wölfisch!) und trat näher. Vicky hatte eine ausgezeichnete Nachtsicht, sie sah klar die klassisch-schönen Gesichtszüge, die von dichtem, schwarzem Haar eingerahmt wurden. Aber grausame Augen. Skeira gab einen erstickten Schrei von sich und wich einige Schritte zurück. Vicky wünschte sich, dass sie ihre Armbrust nicht weggesteckt hätte.
„Es war schwer dich zu finden, Welpe.“ Der Mann kam wieder näher. „Nicht genug, dass du dich wehrst dem Rudel beizutreten, dann läufst du auch noch davon und lässt dich von diesen Affen einfangen.“ Er trat in den Schatten eines hohen Schornsteins, für einen Moment sah man nur seine weißen Zähne aufblitzen. „Aber ich werde dich lehren, keine Sorge.“
„Du warst es!“ keuchte Skeira. „Du hast die Händler getötet. Und ich… habe gegen dich gekämpft?!“
„Bemerkenswert gut sogar.“ Die Stimme aus der Dunkelheit. „Aber jetzt kommst du mit mir. Und deine Freundin —stirbt!“ Und aus dem Schatten sprang der Werwolf mitten in die Leere, wo sich soeben noch Vicky befunden hatte.
Kopfschmerzen! Vicky meinte, ihr Schädel müsse zerspringen und ihre Augen würden jeden Moment platzen, während ihre Schwingen sie wenige Meter über dem Dach hielten. Das schwarze Mischwesen aus Wolf und Mensch unter ihr knurrte irritiert und sah sich nach allen Richtungen um; der Überraschungseffekt würde nur kurz anhalten und Vicky wusste nicht, wie lange sie sich in der Luft halten konnte. Konzentriere dich! Trotz der Schmerzen gelang es ihr, die Armbrust zu ziehen. Das schnappende Geräusch erregte die Aufmerksamkeit des Wolfsmenschen; seine Augen weiteten sich in dem Moment erstaunt, als Vickys Bolzen das Linke durschlug.
Ein schmerzerfülltes Aufjaulen des Werwolfs, und ein schmerzhafter Aufschrei Vickys als sie die Kontrolle verlor und zurück auf das Dach stürzte. Der Werwolf trat über sie. Der Bolzen steckte in der blutigen Augenhöhle und pulsierte leicht, schien das Monster aber sonst nicht zu beeindrucken. Eine rasche Bewegung, und der Bolzen fiel zu Boden. Eine kräftige Klaue fuhr auf ihr Gesicht herab— dann riss ein grauer Schemen von hinten den schwarzen Werwolf um, sodass sich beide Gestalten mehrfach überschlugen, bis der Schornstein sie stoppte.
Hati! dachte Vicky.
Die beiden Werwölfe wanden sich in einer tödlichen Umklammerung, während sie versuchten die Kehle des jeweils anderen zu zerbeißen. Vicky griff auf der Suche nach irgendeiner Waffe in ihre Tasche, als sie einen kleinen, scharfkantigen Gegenstand spürte. Mit einem Schrei stürzte auch sie sich auf den schwarzen Werwolf und presste den Gegenstand mit aller Gewalt in die blutige Augenhöhle. Ein weiterer Schrei, dann verlor sie das Bewusstsein.
Als Vicky wieder zu sich kam, fand sie sich neben der Leiche eines nackten Mannes wieder. Aus einer leeren Augenhöhle baumelte das Lederband, das zu Hatis Silberanhänger gehörte. Vicky hustete und richtete sich langsam auf, ihr Kopf und jeder Muskel schmerzte.
Skeira Hati stand nackt auf dem Dach und betrachtete den Mond. Vicky schleppte sich neben sie.
„Was für eine Nacht, hu?“ Sehr schlagfertig, Vicky.
Skeira sagte nichts, aber sehr vorsichtig und zaghaft befühlte sie die Hörner, die sich auf Vickys Stirn manifestiert hatten.
„Hör mal, Kleine“ sagte Vicky, „ich weiß, dass das alles im Moment vielleicht ein bisschen viel ist für dich; die ganze ungewohnte Geschichte mit dem Verwandeln und so, aber wenn du erstmal zu dir kommen willst…. Ich habe eine Wohnung mit jeder Menge Platz, da können wir über alles reden.“
Skeira hatte wieder Tränen in den Augen. „Wie soll ich jemals sicher sein, dass ich nicht doch jemanden umgebracht habe? Wie soll ich so leben?“
Vicky seufzte. „Wichtig ist erst einmal, dass du dir selbst für die Dinge vergibst, für die du nichts kannst. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“ Sie streichelte der jungen Frau über den Rücken. „Lass uns gehen, ja? Ich heiße übrigens Vicktoria, aber nenn mich Vicky.“
Etwas später, in ihrem Kontor, lauschte Vicky den Geräuschen die Skeira im Badezuber im Nebenzimmer machte. Sie seufzte. Sie hatte schon immer eine fatale Schwäche für die unschuldigen und naiven gehabt. Sie konnte nur hoffen, dass diesmal für sie beide etwas Gutes daraus entstehen würde.
Da war doch noch etwas…
„Sag mal“, rief sie durch die Tür, „hast du zufällig einmal etwas von einer Elisa Silberschild gehört?“
"Nein ich glaube nicht, wieso?"
Seufz