Tatsächlich so, in dieser Detailliertheit, geträumt.
Vielleicht nehme ich ihn irgendwann einmal als Grundlage, um daraus noch etwas anderes, Grösseres zu basteln, mal sehen.
~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~
Die Strassen dieser Stadt sind so voll mit Menschen, die sich mit aller Hast von einem Punkt zum Nächsten bewegen, deren Geschäftigkeit von ihnen ausstrahlt wie aggressives Licht, das in immer schnellerer Geschwindigkeit an mir vorbei, um mich herum aufblitzt. Ehe ich mich versehe, wird mir schwindlig, tanzen schwarze Sterne vor meinen Augen die immer mehr, immer dichter werden und drohen, mir das ganze Sichtfeld zu nehmen.
Zu meiner rechten ist ein Strassencafé, mit kleinen runden Tischen und eleganten Stühlen. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen, vielleicht gerade noch rechtzeitig.
Es dauert nicht lange, da kommt ein Kellner an meinen Tisch. Ich muss ein sehr teures Café erwischt haben, denn der Kellner trägt einen Anzug und verbeugt sich leicht, als er mich anspricht und mir die Karte reicht. Ich muss nicht lang überlegen. „Ein Wasser, bitte – ohne Kohlensäure.“ Er nickt, und zieht sich – unter einer erneuten Verbeugung – wieder zurück.
Ich muss nicht lange auf mein Wasser warten, aber schon das Hinsetzen hat geholfen. Ich würde mir zwar noch nicht zutrauen, sofort wieder aufzustehen, aber das muss ja auch noch nicht sein, nicht innerhalb der nächsten Minuten.
Auf einmal steht ein grosses Stück Erdbeertorte mit Sahne vor mir, und selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich diesem konditorischen Kunstwerk nicht widerstehen können. Erst als ich das Stück schon zur Hälfte gegessen habe, fällt mir auf, dass ich es gar nicht bestellt hatte. Und dass ich es mir bestimmt auch nicht geleistet hätte, denn die Preise in diesem Café sind mit Sicherheit astronomisch.
Der Kellner setzt sich zu mir an den Tisch, er lächelt freundlich. Irgendwoher kommt er mir bekannt vor, aber ich kann ihn beim besten Willen nicht einordnen.
Auch vor ihm steht ein Stück Kuchen, und obwohl ich ihn niemals essen sehe, ist das Stück jedesmal, wenn ich es bewusst ansehe, etwas kleiner geworden.
Er beginnt ein Gespräch mit mir.
„Du bist gerade beinahe umgekippt, oder?“ Ich schaue ihn an, bin zu überrascht über seine Direktheit und zu verlegen ob meiner offensichtlichen Schwäche um zu antworten.
„Ich habe es daran bemerkt was du bestellt hast.“ Er zeigt auf mein Wasser. „Stilles Wasser, das bestellen nur Leute, die gerade einen Schwächeanfall hatten und wieder auf die Beine kommen wollen.“ Als hätte er meine Gedanken gelesen. Mir fällt noch immer keine Antwort ein.
Ich widme mich wieder meinem Kuchenstück, unsicher, was ich mit seiner Gegenwart anfangen soll. Eigentlich wollte ich gar keine Gesellschaft, ich wollte nur hier sitzen, in Ruhe mein Wasser trinken, wieder klar im Kopf werden und dann weitergehen, schliesslich muss ich heute noch irgendwohin. Glaube ich.
„Hast du denn heute noch was vor?“ Wieder er, und wieder ärgere ich mich über mich selbst, dass mich seine Direktheit, die schon an Dreistigkeit grenzt, so überrumpelt.
„Ich bin nachher noch verabredet.“, sage ich, bemühe mich, abweisend zu klingen, schon allein durch meinen hoffentlich eiskalten Tonfall deutlich zu machen, dass ich an einer Fortführung des Gesprächs nicht interessiert bin.
Wieder eine Pause, in der er mich mustert, genau beobachtet. Irgendetwas an ihm scheint nicht zu stimmen, scheint falsch zu sein, doch es ist nichts Fassbares. Irgendwie unheimlich.
„Mit wem denn?“ Mittlerweile frage ich mich, warum ich hier überhaupt noch sitze, warum ich nicht schon längst das Geld für mein Wasser auf den kleinen Marmortisch gelegt und das Weite gesucht habe. Vielleicht liegt es am Kuchen.
„Mit einem Freund von mir.“ Vielleicht, wenn ich nur kurzangebunden genug bin...
„Wie sind sie denn so, deine Freunde?“ Er hat jetzt aufgehört zu essen – es ist mir nicht aufgefallen, aber er hat in der Zwischenzeit unseres kurzen Gesprächs mehrere Hauptgerichte verspeist. Die Teller mit den spärlichen Überresten stapeln sich auf seiner Hälfte des ohnehin schon zu kleinen Tischs. Seine Frage wirft mich – was ich nicht für möglich gehalten hatte – noch mehr aus der Bahn, zum erste Mal in diesem einseitigen Gespräch wird mir bewusst, dass er mich systematisch ausfragt.
„Ich will auf diese Frage nicht antworten. Ich kenne Sie doch überhaupt nicht.“
Ein anderer Kellner, ebenfalls im schwarzen Anzug, kommt nach draussen, ich winke ihn heran und beginne nach meinem Portemonnaie zu suchen. Es ist der gleiche Kellner, der seinem Kollegen die ganze Zeit hindurch neues Essen gebracht hat, auch wenn er mir währenddessen nicht aufgefallen ist.
Ich finde mein Portemonnaie und drehe mich zu ihm herum, und erst dann sehe ich, dass seine Gesichtszüge asiatisch sind, und er nur ein einziges Auge hat – in der Mitte der Stirn.
„Aber du musst doch wissen, was deine Freunde so tun. Es sind doch schliesslich deine Freunde, oder?“
Die Situation überfordert mich, aber gewisse Routinen scheinen selbst in solchen Situationen bestehen zu bleiben. „Ich würde gerne zahlen.“, sage ich, und halte dem neu eingetroffenen Kellner einen zehn-Euro-Schein hin. Er sieht mich bedauernd aus seinem einen Auge an und sagt: „Madame, ich fürchte, das wird nicht reichen.“ Das muss eine verdammt teure Torte sein, denke ich, und suche im Portemonnaie nach einem Zwanziger, finde ihn, halte ihn hin. Der Kellner lächelt nur und schüttelt den Kopf. Das wird langsam absurd, denke ich, während ich mein ganzes Geld (immerhin um die fünfzig) zusammensuche, und ihm abermals anbiete.
Inzwischen hat wohl die Geschäftsführerin Wind von der ganzen Sache bekommen. Sie trägt einen schwarzen Hosenanzug, und auch an ihr ist etwas sonderbar, nicht so offensichtlich wie bei dem einäugigen Kellner, eher etwas Unbestimmbares, wie bei dem jungen Mann, der sich an meinen Tisch gesetzt hat.
„Gibt es hier ein Problem?“ Der Zyklop deutet nur auf meine Hand, die im Vergleich mit der seinen so klein und verletzlich wirkt, dass ich mich durch seine Geste schon fast bedroht fühle. Die Geschäftsführerin hat die Karte dabei, und schlägt sie auf, um mir vorzurechnen, was ich alles gegessen habe, und wieviel ich ihrem Café damit schuldig bin.
„Ich zahle nur für mich“, sage ich bestimmt, nachdem sie mir den Unterschied zwischen einem Lebersteak und einem multiplen Filet ausgerechnet hat, ein Unterschied, der sich auf knapp unter tausend Euro beläuft.
„Oh, na wenn das so ist...“ Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie der Kellner zu meiner rechten bleich wird.
„Aber denken Sie daran, was es für Folgen für diesen armen jungen Mann hier haben wird.“
An dieser Stelle kommt aus dem Nichts ein kleiner Hund, zielstrebig an meinen Tisch, an meinen Stuhl, stellt seine Vorderpfoten gegen meine Oberschenkel und schaut mich traurig an. Wie aus einem Automatismus heraus beginne ich seinen Kopf zu streicheln.
„Er wird diese Rechnung nicht bezahlen können.“ Im Hintergrund beginnt eine Turmuhr zu schlagen. „Und die Glocken dieser Stadt werden nie mehr auf die Weise singen, wie sie es bis jetzt getan haben.“
Ich bin mir zwar nicht sicher, was genau sie damit meint, aber ich glaube, es könnte eine Drohung gewesen sein.