„Wacht auf junge Dame!“. Etwas rüttelte vorsichtig an Tamaras Arm. Erschrocken zog sie ihren Arm weg und riss die Augen auf. Wo bin ich? schoss es durch ihren Kopf und sie spürte, wie ihr ganzer Körper in helle Alarmbereitschaft versetzt wurde, das Herz schien in ihrem Hals zu schlagen. Bin ich in einen Hinterhalt geraten? Jede Nervenfaser erwartete einen Schlag oder einen stechenden Schmerz, doch beides blieb aus. Langsam entspannte sich Tamara und atmete tief durch. Jetzt erkannte sie ihre Umgebung. Sie saß in einer Kutsche und war auf dem Weg nach Norden. Der Kutscher hatte sich über sie gebeugt und sah sie aus seinen müden alten Augen an. „Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken aber wir haben gerade den ‚Freundlichen Arm’ erreicht und werden hier bis morgen früh bleiben. Sowohl das Pferd als auch meine Wenigkeit brauchen etwas Verpflegung und eine Mütze voll Schlaf.“ Tamara nickte und streckte ihre frisch erwachten Glieder ausgiebig aus. Erst jetzt bemerkte sie die junge Frau, die der andere Fahrgast war. Mit scheuen Augen betrachtete sie die Druidin. Diese erwiderte kurz den Blick, sagte aber nichts. Zu Beginn der Fahrt hatte sie versucht, mit ihrer Gegenüber etwas Konversation zu betreiben, doch Tamara hatte dieses Vorhaben recht schnell aufgegeben, denn die junge Frau schien zu schüchtern zu sein, um mit einer Fremden zu reden. Das war Tamara auch recht und so hatte sie die Zeit genutzt, um ein wenig zu schlafen. Nun fühlte sie sich putzmunter und war etwas enttäuscht, dass sie die ganze Nacht nicht weiterkommen würde. Dennoch verzichtete sie auf Protest und stieg aus. Das großräumig eingefriedete Areal des freundlichen Arms beeindruckte die junge Druidin. Obwohl sie sich im Wald wohler fühlte, waren ihr Mauern und Häuser nicht wirklich fremd. Geduldig wartete sie, bis der Kutscher die Treppen zum Gasthaus erstiegen hatte, dann folgte sie ihm mit leichten Schritten.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, daher war Bentley Spiegelschattens Gaststube gut besetzt. Viele Reisende stärkten sich, waren fröhlich und gesprächig. Der Kutscher hatte schnell einen Platz gefunden und winkte Tamara zu. Doch die Druidin besann sich eines besseren und marschierte direkt zum Tresen, wo der kleine Gastwirt und mehrere Gehilfen Getränke vorbereiteten. Bentley blickte auf und grinste die Druidin fröhlich an. „Guten Abend, schöne Frau, nehmt einfach Platz, ich komme sofort zu Euch.“ „Zuerst wollte ich Euch gerne etwas fragen...“ „Tut mir leid“, keuchte der Wirt, „gerade ist hier ziemlich viel los. Stärkt Euch erst, später habe ich mehr Zeit.“
Um nicht unhöflich zu erscheinen, setzte sich Tamara an den Tisch des Kutschers. Einen Moment fragte sie sich, wo wohl die andere Frau aus der Kutsche blieb. Doch im Grunde war es ihr egal. Sie wollte nur möglichst schnell herausfinden, ob Bentley Spiegelschatten etwas über das Krähensymbol wusste, welches sich auf dem Amulett des toten Anführers der Banditen befand. Zuerst wartete sie ungeduldig darauf, dass sich der Wirt endlich Zeit für sie nehmen würde, doch nach einem deftigen Pilzeintopf mit wohlschmeckendem Brot wurde sie geduldiger. Als sie mit dem Essen fertig war, waren alle Gäste in der Wirtschaft ausreichend versorgt und Bentley konnte es sich leisten, an ihren Tisch zu kommen. „Nun, ich hoffe es hat geschmeckt. Was kann ein alter Gnom für Euch tun?“ Die Druidin kramte das Amulett hervor und sagte: „Ich wollte Euch nach der Herkunft dieses Anhängers fragen.“ „Aha...“ brummte der Wirt. „Folgt mir bitte, ich brauche besseres Licht.“ Tamara nickte dem Kutscher kurz zu und ließ sich dann von Bentley in ein gemütliches Nebenzimmer führen. „Hier sind wir ungestört“, sagte der Wirt. „So, lasst mal sehen.“ Der Gnom betrachtete das Amulett und dachte angestrengt nach. Auf seiner Stirn zeigten sich immer tiefere Falten und das gut eingeübte Gastwirtlächeln verblasste zusehends. Bevor er ansetzte, musterte er die Druidin von Kopf bis Fuß. Sie war sicherlich attraktiv und besaß Entschlossenheit aber dennoch war sie jung, jung und sicher nicht sehr erfahren. „Tja...“ begann Bentley und hielt kurz inne, „ich weiß nicht, ob Ihr das wirklich wissen wollt. Zunächst möchte ich wissen, woher Ihr das Amulett habt.“ Tamara schluckte hart und begann die unangenehme Geschichte des Überfalls auf den Druidenhain kurz zu erzählen. Sie beendete ihre Ausführung mit der Bitte, etwas über das Schmuckstück zu erfahren. „Also gut“, seufzte der Wirt, „ich bin mir nicht ganz sicher aber vor vielen Jahren, da konnte man mich noch als jung bezeichnen (Bentley lächelte kurz), gab es in Tiefwasser einen Kult, der die Krähen als Symbol hatte. Die meisten Vereinigungen dieser Art sind relativ ungefährliche Splittergruppen, doch hin und wieder wird eine solche Vereinigung gefährlich. So war es auch mit diesem Kult. Er brachte das empfindliche politische Gefüge zwischen Tiefwasser und den umliegenden Regionen ins Wanken. Überall machte sich Misstrauen breit und es sah nach bewaffneten Konflikten aus. Die genauen Ziele des Kults und seiner Anführer blieben unbekannt, selbst als es dem Orden des Strahlenden Herzens gelang, dem Kult einen empfindlichen Schlag zu versetzen und ihn in den Untergrund zu treiben. Bei der Razzia kamen viele Anhänger ums Leben aber wie es bei solchen Gruppierungen ist, ein paar bleiben immer übrig. Möglicherweise stammt das Amulett von Anhängern einer Zelle dieses Kults, vielleicht ist es auch etwas anderes. In jedem Fall...“ Bentley musterte Tamara mit einem strengen aber auch besorgten Blick, „ solltet Ihr sehr vorsichtig sein, wenn Ihr etwas gegen diese Leute unternehmen wollt.“
„Da hat Bentley vollkommen recht.“ dröhnte eine tiefe Stimme hinter Tamara und ließ sie zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden zusammenzucken. Schnell drehte sie sich um, und sah eine große Gestalt, die in einen gewöhnlichen Reiseumhang mit Kapuze gehüllt war. Offenbar hatte der Fremde sich in einer dunklen Ecke hinter dem Kamin des Zimmers versteckt, darauf hatte sie nicht geachtet. Zunächst konnte sie das Gesicht des Mannes nicht sehen doch dieser hatte schon die Hände an die Kapuze gelegt, um sie abzunehmen.
„Cheros“, entfuhr es Tamara und sie lächelte erleichtert. Doch sie besann sich sehr schnell, dass der Erzdruide wohl kaum zufällig hier war. Hatte er sie beobachtet? Würde er sie nun mit sich nehmen, damit sie nicht alleine auf einen törichten Rachefeldzug gehen könnte? „Ja, Tamara, ich bin es, und offenbar kenne ich Dich gut genug, um Dein Handeln vorauszusehen.“ Unter dem strengen Blick ihres obersten Lehrmeisters wurde Tamara so schüchtern wie ein kleines Mädchen. Rote Flecken auf ihren Wangen unterstrichen ihre Unsicherheit noch etwas. „Cheros, ich...“ „Ich hatte geahnt, dass Du nicht nach Hohenwald zurückkehren würdest, wie wir es vereinbart hatten. Das habe ich gleich in Deinen Augen gesehen. Daher beschloss ich, selbst zum ‚Freundlichen Arm’ zu reisen, in der Hoffnung, Du würdest dorthin kommen, was auch geschehen ist. Und nun, beantworte mir folgende Frage: Was genau hast Du vor?“ Die Frage war weder belehrend, noch vorwurfsvoll gestellt, was Tamara überraschte. Der Ton war eher väterlich besorgt gewesen. „Ich möchte herausfinden, wer für unser Unglück verantwortlich ist. Nicht mehr und nicht weniger. Ich hänge zu sehr an meinem Leben, als dass ich es allzu leichtfertig aufs Spiel setze aber trotzdem will ich es wissen, schon um unseren toten Gefährten die Ehre zu erweisen.“ „Du willst keinen Rachefeldzug starten?“ fragte Cheros ruhig. Seine Augen behielten Tamara fest im Blickfeld, nein sein Blick schien sie zu fesseln. Der Erzdruide erwartete eine Antwort, eine ehrliche Antwort. „Nein“, brachte Tamara hervor. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie sich nicht sicher, was sie wirklich wollte aber eine Lüge wäre nicht möglich gewesen unter diesem dominierenden Blick. Jetzt, da sie das Ziel, welches ihr Herz sich gestellt hatte kannte, fühlte Tamara sich besser als in den ganzen letzten Tagen. Cheros betrachtete sie noch immer bedächtig aber auch er wirkte erleichtert. „Setzen wir uns, Tam, wir haben noch was zu bereden.“ Nachdem Bentley ihnen noch etwas zu trinken gebracht hatte, entschuldigte er sich und verschwand wieder hinter seinem Tresen, um seinen Pflichten als Gastwirt nachzukommen.
Nach einem kräftigen Schluck Wein fand Cheros, dass es an der Zeit sei, Tamara seine Meinung mitzuteilen. „Tam, ich kenne Dich gut genug um zu wissen, dass ich Dir dieses Vorhaben nicht ausreden kann. Daher vertraue ich darauf, dass Du wirklich nicht blind Rache üben willst. Dein Vorhaben ist auch so gewagt und gefährlich aber ein wenig Hilfe kann ich Dir anbieten.“ Tamara fiel ein Stein vom Herzen, denn mit so einer Antwort hatte sie nicht gerechnet. Offenbar schien der Erzdruide sie besser zu kennen als sie über sich selbst im Bilde war. Und so blickte sie Cheros gespannt an, fast wie ein kleines Kind, dass mit leuchtenden Augen seine Geburtstagsgeschenke erhält. „Das einfachste zuerst,“ brummte Cheros und legte einen Beutel auf den Tisch. „Hier hast Du Gold, es wird Dir Deine Reise deutlich vereinfachen.“ Als nächstes zog der alte Druide ein Fläschchen aus seiner Tasche. „Körperliche Größe ist nicht immer von Vorteil, manchmal sogar hinderlich. Wenn wir die Tiere des Waldes studieren wollen, um mehr über das Gleichgewicht zu erfahren, stoßen selbst wir Druiden auf Hindernisse.“ Cheros warf Tamara einen amüsierten Blick zu. „Außerdem, kann man so ganz neue Erkenntnisse sammeln. Das Geheimnis ist die Dosierung. Ein Tropfen verkleinert Dich auf die halbe Größe, zwei Tropfen und Du wirst so klein wie ein Unterarm lang ist. Bei drei Tropfen ist eine Hand das Maß der Dinge und bei vier Tropfen wirst Du ein Däumling. Viel mehr würde ich nicht trinken, es sei denn, Du willst das Leben einer Ameise studieren. Der Trank wirkt pro Anwendung zwischen ein bis zwei Stunden, es hängt vom Benutzer ab.“ Tamara sperrte vor Staunen Mund und Nase auf, von so einem Trank hatte sie noch nie gehört und sie war doch länger als nur ein paar Tage Druidin in Cheros’ Zirkel gewesen. Ja, dieser Trank könnte sich als nützlich erweisen. „Ein Geheimrezept,“ erklärte Cheros, „für die professionelle Herstellung nicht interessant, denn es ist auch gefährlich, so klein zu sein. Plötzlich ist eine winzige Spinne oder ein Insekt ein gefährlicher Gegner. Sei also vorsichtig damit.“ Noch einmal kramte der Druide in seiner Tasche und zog ein weiteres Glasgefäß heraus. „Dieser Trank ist aufgrund der vielen Schandtaten, die mit seiner Hilfe verübt worden sind, nicht unbedingt beliebt aber für Deine Aufgabe durchaus dienlich. Ein kräftiger Schluck und Du bist für eine oder sogar mehrere Stunden unsichtbar. Aber bedenke hier: Wer unsichtbar ist, kann sich leicht durch Geräusche verraten.“ Während Tamara noch über die Möglichkeiten der Tränke nachdachte, fasste ihr Lehrmeister sie wieder ins Auge. „Hab Vertrauen in Deine Fähigkeiten und setze alle Deine Mittel mit Umsicht ein. Dann kannst Du erfolgreich sein. Ach ja, kannst Du Dich eigentlich schon verwandeln?“ „In nichts wirklich nützliches“, flüsterte sie und lief rot an, „mit Mühe in eine Katze.“ „Wie schon gesagt, Größe ist nicht alles.“ brummte Cheros. „Ich wünsche Dir viel Glück, Mädchen, finde heraus, was Du wissen willst und kehre heil zurück. Bentley wird Dir ein Pferd geben, wahrscheinlich willst Du gleich aufbrechen.“ Er umarmte Tamara und verließ dann das Zimmer.
Das versprochene Ross erwies sich als kräftig und gesund. Auch war die Nacht sternenklar, sodass Tamara ein recht hohes Tempo anschlagen konnte. Kurz nach Sonnenaufgang erreichte sie das Stadttor von Baldurs Tor. Bereits zu morgendlicher Stunde war allerhand los. Anscheinend Händler von auswärts, dachte sie. Nachdem sie von der Wache den Weg zum nächsten Gasthaus, dem Elfgesang erfahren hatte, stieg Tamara von ihrem Pferd und führte das müde Tier die letzten Meter bis zum Stall nahe des Elfgesangs. Sie tätschelte seinen Kopf und flüsterte: „Braves Tier, Du hast Dir das Futter redlich verdient.“ Die Druidin verließ den Stall und trat wieder auf die Straße, da hörte sie plötzlich einen dumpfen Schlag. Neugierig aber auch vorsichtig lief sie in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Zunächst dachte sie, dass vielleicht ein Blumentopf von einem der Fensterbretter heruntergefallen war, doch als sie näher kam verwarf sie den Gedanken. Für einen Blumentopf war das Ding am Boden zu groß. Sie war noch gut zwanzig Meter weit entfernt, da fiel ihr die Identifikation schon leichter. Ein kleines Wesen, ein Gnom oder ein Halbling? Für einen Zwerg war der Körper nicht kräftig genug. Halblinge sind doch oftmals Diebe überlegte Tamara und sah sich verstohlen um. Natürlich, nichts zu sehen, aber hier gibt es auch genügend Ecken. Irgendwie schien es ihr auch für Halblinge gewagt, am hellen Morgen noch einen Überfall durchzuführen, dennoch beschloss sie, sich vorsichtig an den liegenden Körper heranzutasten. Für einen Beobachter musste es seltsam wirken, wie sie von einer Deckung zur nächsten huschte aber immer darauf bedacht, näher an ihr Ziel zu kommen. Schließlich war sie nur noch wenige Schritte von dem Körper entfernt, der sich nach wie vor nicht regte. Als letzte Vorsichtsmaßnahme nahm sie ihren Stab fest in die linke Hand und setzte sich so, dass sie die Hauswand im Rücken hatte. Sie fasste nach der Hand des Gnoms und fand einen Puls. Er ist noch nicht tot, mal sehen, was ihm fehlt. Als sie den bewusstlosen Gnom näher betrachtet hatte, fielen ihr der offene Bruch im linken Bein auf. Na, jetzt kann ich sicher sein, dass das kein Trick ist. Kein Dieb würde sich als Köder anbieten, wenn er solche Verletzungen erleiden müsste . Diese Erkenntnis ließ Tamara sich etwas entspannen. Sie stand auf und sah die Wand hinauf und entdeckte ein offenes Fenster, dass sich gut fünf Meter über ihr befand. Ein leises Stöhnen verkündete, dass ihr "Patient" inzwischen wieder bei Bewußtsein war. Kopfschüttelnd kniete sie sich wieder neben dem Gnom nieder, legte je eine je eine Hand auf die Beine des Gnoms und wirkte einen Heilszauberspruch. „Das sollte genügen Kleiner“, brummte sie und wartete auf eine Reaktion.