Puh- hier ist soviel an interessanten Gedanken und Argumenten zusammengekommen, dass ich fast nicht mehr wage, noch weiter mitzumachen, aus Angst, den Rest des Abends hier mit Tippen zu verbringen.
Veldryn:
Die Realität ist für uns durch unsere Sinne in gewissem Maße, aber eben nur in gewissem Maße, erfahrbar. Die Wissenschaft liefert uns Werkzeuge, diese Sinne zu erweitern, z.B. durch verbesserte Sicht oder Detektoren für Dinge, die wir als Menschen nicht haben (UV-Licht, Radioaktivität nur als Beispiele), um durch Experimente, Thesen, Versuch und Irrtum die Realität, die wir nie 100% erfahren werden können, so gut wie möglich zu umschreiben.
Ich denke, Du vertrittst hier einen ähnlichen Realitäts-Begriff wie Chiburi, weswegen ich auf dessen Ausführungen nicht eingehen werde, sondern Euch beide adressiere. Beide scheint Ihr davon auszugehen, dass "die Realität" unabhängig von uns, also denen, die sie erleben und über sie Aussagen treffen, gültig ist/existiert, und dass das probateste Mittel, Aussagen über sie zu treffen und den Wahrheitsgehalt solcher Aussagen zu bewerten, die empirische Methode sei, korrekt?
Gleichzeitig bist Du vorsichtig und schränkst ein, dass wir die Realität nie hundertprozentig erfahren, sondern nur "so gut wie möglic umschreiben" können. Interessant wäre für mich jetzt erstmal Folgendes: aus welchem Grund schränkst Du diese Aussage ein? Wenn Du 100% schreibst - handelt es sich da um eine Einschränkung, die quantitativer Natur ist, also darauf abhebt, dass die Ressourcen nicht ausreichen, um ein Ereignis vollständig zu modellieren (weil z.B. nicht genügend Zeit innerhalb dieser Welt zur Verfügung steht, um das Modell in seiner vollen Komplexität zu beschreiben)? Handelt es sich hier also um das gegen den Laplace'schen Dämon ins Feld geführte Argument, dass man, um ein Ereignis vollumfänglich zu beschreiben, die ganze Welt dafür bräuchte?
Oder ist es das Unschärfe-Argument entsprechend der
Heisenberg'schen Unschärferelation?
Andersrum gefragt: vertrittst Du ein grundsätzlich deterministisches Weltbild, bei dem die empirische Wissenschaft nur aus quantitativen Gründen an Grenzen stößt, aber
prinzipiell immer das Mittel der Wahl ist, um Erkenntnisse zu generieren? Oder vertrittst Du ein grundsätzlich indeterministisches Weltbild, bei dem die empirische Wissenschaft nur
generell das Mittel der Wahl ist mangels einer besseren Methode?
Der Gedanke, der mich überhaupt hier in die Diskussion einsteigen ließ, war ein Dritter, wobei ich mir nicht sicher bin, ihn gut formulieren zu können. Die grundlegende Frage, die sich demnach stellt, lautet: Warum sollte die Logik gültig sein? Alle diese Frage beantwortenden Argumente kranken daran, dass sie nur unter der Voraussetzung verstanden werden können, dass Logik Gültigkeit hat. Die Akzeptanz der Gültigkeit logischer Regeln ist Voraussetzung aller vernünftiger Kommunikation - aber das bedeutet, dass man, da die Logik nicht hergeleitet werden kann, an ihre Gültigkeit zu
glauben hat. Man kann nicht wissen, das sie gilt, insbesondere ist ihre Gültigkeit nicht vernünftig falsifizierbar.
Es gibt also eine Art philosophischen Axioms: Was den Austausch über die Welt angeht, sind die Regeln der Logik die Regeln unseres Denkens. Unlogische Argumente werden somit automatisch verworfen.
Nun kann man sich freilich auf Regeln des Diskurses einigen. Aber sind die Realitäten der Welt denn abhängig von unserem Diskurs?
Wir kennen die Grenzen der Logik: sie enden unseres Wissens an der Singularität (des Urknalls). Was jenseits des Ereignishorizonts liegt, wissen wir nicht, darüber, dass auch jenseits von ihm die Logik noch Gültigkeit habe, kann nur spekuliert werden.
Insofern könnte man vielleicht sagen: Wissenschaftsgläubige verlassen sich darauf, dass die Regeln der Logik objektiv gelten, ohne dies wissen zu können.
Deswegen würde ich den von Gala eingeführten Begriff "Wissenschaftsgläubige" nicht vorschnell als unangemessen oder unbgründet abweisen. Der Begriff wird sicherlich in 99,9% aller Fälle im Rahmen einer religiösen Agenda (siehe die
wedge strategy) als Kampfbegriff verwendet. Das sollte uns aber nicht daran hindern, uns für das letzte Zehntel Prozent zu interessieren. Will sagen: vielleicht hat der Begriff ja doch einen sinnvollen Inhalt.
Beim Wiki-Surfen zum Thema stieß ich auf den Artikel zum Stichwort
"Positivismus". Schon gleich zu Anfang finden sich darin Formulierungen, die Galas Formulierung bzgl. der Wissenschaftsgläubigkeit zu bestätigen scheinen:
Der Positivismus geht in der Namensgebung und ersten Institutionalisierung auf Auguste Comte (1798–1857) zurück und wurde unter diesem und seinen Nachfolgern im 19. Jahrhundert zu einem weltumspannenden humanistischen Ansatz in den Geisteswissenschaften ausgebaut, der alles Transzendente aus den Überlegungen ausschloss. Zwischen der erkenntnistheoretischen Position, die vor allem die Wissenschaftsdiskussion auf sich zog, und dem institutionalisierten Positivismus, der einen Religionsersatz anstrebte, entstanden im Verlauf des 19. Jahrhunderts erhebliche Spannungen.
Fettung von mir. Positivismus als Religionsersatz, weltumspannender humanistischer Ansatz... Mutig, mutig! möchte man da rufen.
Weiter unten im Artikel findet sich bezüglich des logischen Empirismus folgende Passage bzgl. Wittgenstein:
In einer Analyse von Aussagen und unseren Vorstellungen einer Verifikation lässt sich im nächsten Schritt erwägen, wo das positivistische Projekt einer Forschung, die Tatsachen erfasst, seine Grenzen hat. Aussagen über Kausalität und Moral lassen sich, wie Wittgenstein im Tractatus Logico-Philosophicus eingehender durchspielt, nicht als sinnvolle Sachverhaltsformulierungen auffassen. Wir können mit sinnvollen Aussagen formulieren, dass ein Gegenstand umfällt, wenn das von seinem Schwerpunkt aus herab hängende Lot außerhalb der Grundfläche fällt. Überführt man die wenn/dann Aussage, die die Beobachtungen sinnvoll beschreibt, in eine Kausalitätsaussage (in einen Satz mit „weil“), dann gewinnt er dadurch nicht mehr Sinn. Es ist nicht klar, mit welchem Versuch wir die wenn/dann-Aussage als falsch und die weil-Aussage als die überlegene bewerten können. Wenn es darum geht, aus der Wissenschaft unnötige Entitäten, Wesenheiten, Kräfte herauszuhalten und eine korrekte Abbildung der Welt über wissenschaftliche Erkenntnis zu versuchen, dann ist dieses Projekt der sinnvollen Abbildung an dieser Stelle an einer Grenze.
Eine vergleichbare Grenze besteht bei allen Sätzen, die Handlungsanweisungen geben sollen. Der Satz „Du sollst nicht töten!“ formuliert eine weitverbreitete Anweisung menschlichen Zusammenlebens. Bei einer Begründung, warum man nicht töten soll, muss man das Projekt einer Abbildung von Realität jedoch in jedem Fall verlassen. „Weil menschliches Zusammenleben sonst schwierig wird“, „Weil Gott einen andernfalls straft“. Begründungen wie diese verschieben das Problem von der einen in andere Handlungsanweisungen. Man muss am Ende sagen: „wenn ich dies will, muss ich dies tun“, kommt jedoch nicht über den Punkt hinaus, dass man dies will.
Nota bene! : Nicht nur über Moral,
auch über Kausalität lassen sich keine Sachaussagen treffen! Das ist, wie ich finde, ein ziemlich heftiger Tritt in den Unterleib eines fröhlich-optimistischen Naturalismus...
Wenn die Konjunktion "weil" aufgegeben werden muß, kommen wir bei der Formulierung von naturwissenschaftlichen Theorien, oder genauer: bei unseren Vorstellungen davon, was naturwissenschaftliche Modelle abbilden, doch ein wenig in die Bredouille, oder?
Ein "wenn --> dann"-Zusammenhang benennt nur eine empirische Korrelation, nicht aber ein (Natur-) Gesetz! Und nun frag mal etwas herum unter den "Säkularen", wie problematisch für die der Begriff "Naturgesetz" ist. Die meisten werden ihn ohne jegliche Bedenken verwenden...
Noch ein Gedanke, den ich nicht ganz rund im Kopf zusammenbekomme und den ich hier mehr als Assoziation/Vermutung/skizzenhafte Idee in die Runde werfen möchte:
Was ist der Zweck der Wissenschaften? Ist er identisch, ähnlich oder völlig verschieden vom Zweck des religiösen Glaubens?
Meine Vermutung ist, dass hier zumindest eine Ähnlichkeit besteht, wenn nicht sogar eine ursprüngliche Identität. Bitte dabei zu beachten: ich spreche nicht über die Methode, sondern über den Zweck. Dass religiöser Glaube und (natur-) wissenschaftliches Denkens sich im Modus operandi grundsätzlich unterscheiden, will ich gar nicht bestreiten, da bin ich völlig mit Euch auf der gleichen Linie: während Zweifel, Skepsis und Hinterfragen die Grundpfeiler der wissenschaftlichen Methode bilden, rütteln sie am Fundament des Glaubens.
Aber beim ursprünglichen Zweck sieht es anders aus, falls ich richtig liege.
Meine Lektüre der "Dialektik der Aufklärung" liegt schon recht lange zurück, aber so wie ich die Autoren verstand, stand am Anfang die Kontingenzerfahrung der Menschen, die auch heute noch existentiell für alle von uns ist: als einzelner kleiner, schwacher, verletzlicher Mensch stehen wir einer Welt gegenüber, in der nichts sicher und vieles - gefühlt: alles - möglich ist. Das macht begründet Angst, sozusagen: Urangst. Alles kann mir passieren, morgen schon, gleich, in der nächsten Minute. Es gibt keine Sicherheit gegen die Unwägbarkeiten des Lebens und der Welt.
Mit dieser Urangst, mit dieser Unsicherheit müssen wir irgendwie zurande kommen. Wir brauchen psychologische Strategien, damit umzugehen, um nicht zu erstarren vor Angst.
Eine probate Strategie ist: Machtakkumulation. Macht im Sinne von: bestimmen können, was geschieht. Einfluß nehmen. Dafür sorgen, dass die gewünschten, nicht die unerwünschten Ereignisse eintreten.
Es ist, ausgehend von der Kontigenzerfahrung, also sinnvoll, Methoden zur Machtakkumulation zu entwickeln. Wobei hier Macht über die Welt gemeint ist, nicht bloß (aber auch) und nicht mal in erster Linie über andere Menschen. Wir sind mächtiger in der Welt, wenn wir mehr über sie Wissen. Eine Methode also, um dieses Wissen zu mehren, kann dem Menschen zwecks Kontigenzbewältigung, nur gerade recht kommen. Da bietet sich die empirische Methode an, welche ja entsprechend auch schon längst angewendet wurde, als vom modernen naturwissenschaftlichen Konzept niemand auch nur träumte: jedes Kleinkind wendet sie instinktiv an, wenn es Sachen runterfallen läßt, um zu sehen, was geschieht. Sie können unten liegen bleiben (und damit unerreichbar sein), sie können unten kaputt gehen, sie können wieder hochgehoben werden von Mama und Papa, oder sie können runterfallen, kaputt gehen und für Schimpfe von Mama und Papa sorgen... Oh, es läßt sich viel lernen, wenn man Sachen runterschmeißt! Sachen runterschmeißen ist der erste Schritt auf dem wissenschaftlichen Weg zur Weltherrschaft!
Aber empirisch war über viele Jahrhunderte auch erfahrbar, dass bestimmte Bereiche sich sehr schwer beherrschen lassen, dass die eigene Macht an Grenzen stößt, und zwar gerade dort, wo die Ängste so richtig gravierend werden: beispielsweise beim Sterben oder auch nur bei großen, existentiellen Bedrohungen (Natur-Katastophen, Krankheit, Verlust von geliebten Menschen).
Wie damit umgehen, wenn Oma stirbt und man da nix machen kann? Um mal aus dem
Wikiartikel zum Thema zu zitieren:
Kontingenzbewältigung ist die Einschränkung des Risikos, enttäuscht zu werden. Das Risiko der Enttäuschung entsteht durch Ungewissheiten, für die man keine Erklärung hat. In der Kulturgeschichte des Menschen wurden dazu viele Strategien entwickelt, um die Welt berechenbarer zu gestalten. (...) „Religion ist Kontingenzbewältigungspraxis handlungssinntranszendenter Kontingenzen.“ Damit ist gemeint, dass Religion für die schlimmsten Abstürze des Lebens, den Tod, die Trennung nicht etwa Trost, sondern eine Form des Handelns bietet, die das Umgehen mit solchen Katastrophen überhaupt ermöglicht.
Das halte ich für einen wichtigen Gedanken, der zwar nicht darauf hinausläuft, dass die Glaubensinhalte der Religion korrekt sind, der aber den Erfolg der Religionen verständlicher macht: Religion ist eine
Handlungsmethode! Und zwar eine, die augenscheinlich über die Jahrtausende bei vielen Leuten ziemlich erfolgreich war, bzw. für die sich keine überlegene, erfolgreichere Methode fand.