Mantis
Heilende Hände
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- 27.02.2003
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Jemand meinte mal, hier im Geschichtenforum bräuchte es mehr Threads einzelner Personen statt vieler Einzelposts in einem Sammelthread.
Deshalb hier mal einer von mir, vielleicht füllt er sich ja mit der Zeit mit noch anderen Gedankengebilden an.
Hier erst einmal eins, das vor kurzem entstanden ist.
Kommentare sind willkommen und erwünscht, gerne auch Kritik.
Viel Spass beim Lesen.
~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~ ~~
Bahnsteig
Kurz bevor ich das Bahnhofsgebäude erreiche, sehe ich ihn. Meinen Zug. Rotleuchtend, und immer kleiner werdend: er fährt gerade weg – ohne mich.
Ich fluche, kann mich gerade noch beherrschen, nicht gegen die Wand zu treten. Es ist dunkel, es ist kalt, ich bin müde und ich will nach Hause.
Auf dem Bahnsteig. Der erste Blick gilt dem Fahrplan, bringt die Erkenntnis, dass nun wenigstens vierzig Minuten vergehen werden, bevor der nächste Zug kommt.
Erst dann fällt mir auf, dass ich alleine bin in dieser zweigleisigen Ödnis.
Ich stehe neben den windgeschützten Sitzplätzen, meine Tasche zwischen meinen Füssen, breitbeinig, als wollte ich sie verteidigen, auch wenn weit und breit niemand zu sehen ist. Den Rucksack habe ich noch nicht abgenommen, noch ist die Erkenntnis, dass ich hier noch eine Weile stehen muss, nicht ganz bei mir angekommen.
Als meine Schultern zu schmerzen beginnen, setze ich mich doch hin – es kommt mir vor wie eine Kapitulation.
Zeit vergeht.
Die Uhr ist nicht normal. Oder vielleicht folgt die Zeit hier auch anderen Gesetzen.
Als ich hier ankam, da bin ich mir ganz sicher, zeigte sie zehn Minuten nach zwei an. Es ist zwar Nacht, aber es kann unmöglich so spät sein. Die Uhr geht falsch.
Ich versuche, mich zu beschäftigen, lese ein wenig. Als meine Finger zu kalt werden um die Seiten umzublättern, höre ich auf, vergrabe die Hände tief in den Manteltaschen, schaue erneut zur Uhr. Zwei Minuten vor acht.
Eine Bewegung hinter mir lässt mich aufschrecken, es ist ein älterer Mann der die Treppe zum Bahnsteig hochkommt. Zu zweit an diesem Ort – das ist einer zu viel, oder einer zu wenig.
Ich schaue wieder auf die Uhr – zehn nach neun. Etwas stimmt hier nicht.
Der ältere Mann ist verschwunden. Ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, mich bloss nicht suchend umzudrehen. Wenn er noch hier ist, soll er nicht merken dass mich seine Anwesenheit verunsichert, wenn er mich beobachtet, soll es für ihn so aussehen, als wüsste ich nicht einmal dass er da ist. Ich entscheide mich dafür, vorbeifahrende Autos auf der Strasse am unteren Ende der Böschung zu zählen, nach einhundertzwölf merke ich, wie die Gedanken zähflüssig werden, nach einhundertdreiundfünfzig fallen mir die Augen zu.
Ich reisse sie weit auf, mir fröstelt, die Augen tränen in der kalten Nachtluft. Ich habe keine Ahnung wie spät es ist – die Uhr zeigt halb zwölf an – oder wie lang ich hier schon sitze und warte, auf diesen verdammten Zug.
Wieder einmal stehe ich auf, begutachte den Fahrplan.
Vierzig Minuten Wartezeit – sind die nicht schon längst vorbei?
Zeit tröpfelt vor sich hin, auch wenn ich gerade aus den Augenwinkeln beobachten konnte wie der Stundenzeiger der Uhr eine Vierteldrehung vollführte – in die verkehrte Richtung.
Mein Blick wandert wie von allein, die Strasse, der Fahrplan, meine Hände, nichts davon ist spannend genug, um meine Aufmerksamkeit längere Zeit fest zu halten.
Ich bin immer noch alleine auf dem Bahnsteig, doch ich höre Geräusche. Geräusche die nicht von der Fahrbahn kommen, die nicht dem Wind zuzuschreiben sind.
Ich höre Schritte, von der dunkleren Seite des Bahnsteigs, weg von der Treppe, dem Ausgang. Doch sobald ich den Kopf drehe, und die Augen anstrege die Finsternis zu durchdringen, wird es wieder still.
Während ich ins Dunkel starre, wird mir mit einem Mal bewusst, dass ich hingegen durch die Beleuchtung gut sichtbar gemacht bin, dass sogar meine Mimik für einen weiter entfernt stehenden Menschen zu erkennen sein müsste.
Wieder höre ich Geräusche, Schritte, dieses Mal aus der anderen Richtung. Hallend, als wäre es mehr als einer, und gleichzeitig gedämpft, als bemühten sie sich, leise zu gehen, ungehört zu bleiben, unbemerkt von mir.
Der Mann, der den Bahnsteig betritt, ist in einen dunklen Mantel gekleidet, hat den Kragen gegen Wind und Regen hochgeschlagen. Er stellt sich einige Meter entfernt von mir hin ohne mich anzusehen, also bemühe auch ich mich, ihn nicht mit der Neugierde oder vielmehr dem Misstrauen zu mustern, das ich verspüre.
Der Mann beobachtet mich doch. Immer dann, wenn er denkt, ich würde es nicht sehen, dreht er seinen Kopf, nur ein kleines bisschen, nur eine Nuance, um mich besser im Blick behalten zu können.
Worauf wartet er, frage ich mich, während ich meine Muskeln anspanne und wieder entspanne. Erst jetzt merke ich, dass mir wirklich kalt ist, die Beine schon ganz steif geworden sind. Und was wenn ich jetzt wegrennen müsste? Wie weit würde ich kommen bevor er mich einholt? Bis in die Unterführung? Sicher nicht bis zum Bahnhofsvorplatz.
In diesem Moment fährt der Zug ein, die grellen Scheinwerfer erhellen den Bahnsteig, ich drehe mich reflexartig vom Licht weg, mein Blick fällt dabei auf den Mann neben mir. Bilde ich mir das ein, oder ist da ein Anflug von Missbilligung zu sehen gewesen, ein Aufflackern der Enttäuschung, bevor er seine Gesichtszüge wieder vollkommen unter Kontrolle hat?
Im Zug setze ich mich mit dem Rücken zur Wand, Gesicht zur Tür.
Mir fällt auf, dass ich beim Festhalten der Tasche viel mehr Kraft verwende als nötig wäre, dass sich meine Hände um den Haltegriff verkrampft haben. Als ich loslasse, dauert es nur wenige Sekunden bis meine Finger sich in nervöser Unruhe selbstständig machen, die Hände wringen, sich zur Faust ballen, nur mühevoll wieder entspannen können.
Wieder sehe ich den Mann, der am Bahnsteig noch neben mir stand, nein, nicht nur neben mir stand, mich beobachtete.
Er setzt sich ein paar Reihen weiter hinten in den Zug, und dennoch habe ich das Gefühl, als hätte er sich mir gegenüber gesetzt. Er holt eine Zeitung aus seiner Tasche, hält sie vor sein Gesicht, tut so, als würde er lesen, aber ich weiss, was er in Wirklichkeit tut. Er beobachtet mich, durch die Zeitung hindurch, vielleicht hat er Löcher hineingeschnitten, oder vielleicht braucht er nicht einmal Löcher um mich durch das dünne Papier hindurch zu sehen. Ich weiss,er wartet darauf, dass meine Aufmerksamkeit nachlässt, doch das wird nicht passieren.
Kurz bin ich versucht, ihn zurück anzustarren, dann komme ich mir komisch vor, die Rückseite seiner Zeitung anzusehen, und schaue zur Seite, ins Dunkel.
Vom beleuchteten Zuginnern aus sieht der Bahnsteig noch dunkler aus als er vorhin war, während ich noch darauf stand.
Jetzt sehe ich auch wieder den alten Mann von vorhin. Er steht am Fahrplan, das Gesicht kann ich nicht erkennen, dafür ist es zu finster. Aber auch wenn ich nichts von seiner Mimik erkennen kann, so habe ich doch den Eindruck, als ringe er mit sich selbst, während er die nun geschlossenen Zugtüren betrachtet. Als überlege er sich, nicht doch noch einzusteigen, oder vielleicht doch noch zu warten, weitere vierzig Minuten Wartezeit, auf die nächste Person, die diesen Zug verpasst, die vielleicht weniger wachsam ist.
Der Zug setzt sich in Bewegung, und unwillkürlich seufze ich auf. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich den Atem angehalten hatte, und jetzt, da mir mein Atem bewusst geworden ist, ist es schwierig, nahezu unmöglich die Aufmerksamkeit wieder davon zu lösen, wieder automatisch zu atmen. Der Gedanke, ich müsste ersticken wenn ich aufhöre, über Atmung nachzudenken, versucht sich in meinem Kopf einzunisten, fast gelingt es mir nicht mehr ihn zu vertreiben.
Jemand räuspert sich, es ist der Mann mir gegenüber. Er hat seine Zeitung gesenkt, unsere Blicke kreuzen sich, er lächelt, nein, er grinst mich an. Nicht aus Freundlichkeit – aus blankem Hohn. Er spürt meine Angst, dafür braucht er mir nicht einmal in die Augen zu sehen, er geniesst seinen Triumph über meine Nerven.
Dann, langsam, genüsslich, blättert er die Zeitung um, hebt sie wieder vor sein Gesicht. Und noch immer spüre ich seine Augen auf mir.
Ich halte das nicht mehr aus, irgend etwas muss ich tun, um mich zu beruhigen, um wach zu werden. Bilde ich mir all diese Dinge nur ein?
Ich kneife mich in den Unterarm, zumindest der Schmerz ist eindeutig real. Vielleicht sollte ich mir ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht spritzen, vielleicht sind das alles nur Ermüdungserscheinungen?
Ich stehe auf, schultere Rucksack und Tasche. Um zur Zugtoilette zu kommen muss ich am Zeitungsleser der seine Zeitung nicht liest vorbei. Ich gehe schnell, den Blick starr geradeaus gerichtet. Er kichert leise, kaum hörbar als ich an ihm vorbeirausche. Ich bleibe nicht stehen, drehe mich nicht nach ihm um. Nur weg von hier.
Das Klicken des Türschlosses verspricht Sicherheit, doch an diesem Ort will ich lieber nicht länger als unbedingt nötig bleiben. Offenbar ist dieser Zug schon eine Weile unterwegs, und der Mangel an guter Belüftung ist hier eindeutiger als im Abteil.
Ich schaue in den Spiegel. Fast erkenne ich mich selbst nicht wieder. Angst verzerrt meine Züge, schafft eine Maske aus Panik und Abwehr, und die Augen springen hin und her, im verzweifelten Versuch, alle Ecken zugleich im Blick zu halten. Ich beschliesse, dass ich ein Mimik-Makeover nötiger habe als kaltes Wasser, und mache mich daran, meine Mundwinkel in eine halbfreundliche Position zu bringen, meine Augen zu beruhigen, kurzum, eine Tarnung zu erschaffen, hinter der ich mich verstecken kann bis ich in Sicherheit bin.
Gerade als ich mit dem Ergebnis zufrieden bin, höre ich wieder das Geräusch.
Vorhin habe ich es wohl einfach zu den normalen Zugfahrtgeräuschen gerechnet, Lärm, Hintergrundakustik, aber jetzt, als es zum wiederholten Male auftritt, bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Es klingt, als stünde jemand auf der anderen Seite der Tür, und stosse mit jeder Kurve dumpf gegen ebendiese, begleitet von einem metallischen klink, wie von einer Mantelschnalle. Als hätte dieser jemand ein schlechtes Gleichgewicht, vielleicht, weil er sich nicht festhalten kann. Vielleicht, weil er etwas anderes in der Hand hält. Eine Zeitung etwa.
Ich schlucke, schaue erneut in den Spiegel. Die Mühen von vorhin scheinen vergebens, und dieses Mal brauche ich bedeutend länger, um mein Gesicht unter Kontrolle zu kriegen. Doch endlich gelingt es - obwohl ein verräterisches Blitzen in den Augen bleibt, das man aber auch als unterdrückte Aggression auslegen könnte. Nicht das Schlechteste also, um die anderen von mir fernzuhalten.
Mit einem Ruck vom Handgelenk öffne ich das Schloss und stosse die Tür weit auf - wenn da jemand vorsteht, dann werde ich ihn voll erwischen, denke ich, kampflos werde ich nicht untergehen.
Die Tür schwingt ins Leere, auch der Gang ist leer, kein Mensch zu sehen.
Für einen Moment zögere ich, dann gehe ich zurück nach dort von wo ich gekommen war - da habe ich wenigstens den Zeitungsleser im Blick, denke ich mir. Besser, als ihn in meinem Rücken zu haben.
Mein alter Platz ist unbesetzt - genau wie der Platz des Zeitungslesers.
Ich zwinge mich zum Weitergehen, zum Hinsetzen, konzentriere mich auf meine Gesichtszüge. Jetzt bloss nicht die Fassung verlieren, denn auch wenn ich auf den ersten Blick allein zu sein scheine, ich kann nicht wissen, ob sie nicht doch hier sind, besser versteckt.
Der Zug hält wieder. Ich schaue die Gespenster an die die Nacht in das Neonlicht der Zugeingeweide ausspuckt, und als ihre Augen den meinen begegnen, zwinge ich meine Mundwinkel zu so etwas wie einem Lächeln.
Sie erwidern die Mimik, es ist, als würde ich in einen zeitverzögerten Spiegel schauen.
Sie durchschauen meine Tarnung nicht, doch ich, ich weiss genau, wer sie sind, was sich hinter ihren täuschend menschenähnlichen Masken verbirgt.
Ich bin wachsam – mich werden sie nicht kriegen.
Deshalb hier mal einer von mir, vielleicht füllt er sich ja mit der Zeit mit noch anderen Gedankengebilden an.
Hier erst einmal eins, das vor kurzem entstanden ist.
Kommentare sind willkommen und erwünscht, gerne auch Kritik.
Viel Spass beim Lesen.
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Bahnsteig
Kurz bevor ich das Bahnhofsgebäude erreiche, sehe ich ihn. Meinen Zug. Rotleuchtend, und immer kleiner werdend: er fährt gerade weg – ohne mich.
Ich fluche, kann mich gerade noch beherrschen, nicht gegen die Wand zu treten. Es ist dunkel, es ist kalt, ich bin müde und ich will nach Hause.
Auf dem Bahnsteig. Der erste Blick gilt dem Fahrplan, bringt die Erkenntnis, dass nun wenigstens vierzig Minuten vergehen werden, bevor der nächste Zug kommt.
Erst dann fällt mir auf, dass ich alleine bin in dieser zweigleisigen Ödnis.
Ich stehe neben den windgeschützten Sitzplätzen, meine Tasche zwischen meinen Füssen, breitbeinig, als wollte ich sie verteidigen, auch wenn weit und breit niemand zu sehen ist. Den Rucksack habe ich noch nicht abgenommen, noch ist die Erkenntnis, dass ich hier noch eine Weile stehen muss, nicht ganz bei mir angekommen.
Als meine Schultern zu schmerzen beginnen, setze ich mich doch hin – es kommt mir vor wie eine Kapitulation.
Zeit vergeht.
Die Uhr ist nicht normal. Oder vielleicht folgt die Zeit hier auch anderen Gesetzen.
Als ich hier ankam, da bin ich mir ganz sicher, zeigte sie zehn Minuten nach zwei an. Es ist zwar Nacht, aber es kann unmöglich so spät sein. Die Uhr geht falsch.
Ich versuche, mich zu beschäftigen, lese ein wenig. Als meine Finger zu kalt werden um die Seiten umzublättern, höre ich auf, vergrabe die Hände tief in den Manteltaschen, schaue erneut zur Uhr. Zwei Minuten vor acht.
Eine Bewegung hinter mir lässt mich aufschrecken, es ist ein älterer Mann der die Treppe zum Bahnsteig hochkommt. Zu zweit an diesem Ort – das ist einer zu viel, oder einer zu wenig.
Ich schaue wieder auf die Uhr – zehn nach neun. Etwas stimmt hier nicht.
Der ältere Mann ist verschwunden. Ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, mich bloss nicht suchend umzudrehen. Wenn er noch hier ist, soll er nicht merken dass mich seine Anwesenheit verunsichert, wenn er mich beobachtet, soll es für ihn so aussehen, als wüsste ich nicht einmal dass er da ist. Ich entscheide mich dafür, vorbeifahrende Autos auf der Strasse am unteren Ende der Böschung zu zählen, nach einhundertzwölf merke ich, wie die Gedanken zähflüssig werden, nach einhundertdreiundfünfzig fallen mir die Augen zu.
Ich reisse sie weit auf, mir fröstelt, die Augen tränen in der kalten Nachtluft. Ich habe keine Ahnung wie spät es ist – die Uhr zeigt halb zwölf an – oder wie lang ich hier schon sitze und warte, auf diesen verdammten Zug.
Wieder einmal stehe ich auf, begutachte den Fahrplan.
Vierzig Minuten Wartezeit – sind die nicht schon längst vorbei?
Zeit tröpfelt vor sich hin, auch wenn ich gerade aus den Augenwinkeln beobachten konnte wie der Stundenzeiger der Uhr eine Vierteldrehung vollführte – in die verkehrte Richtung.
Mein Blick wandert wie von allein, die Strasse, der Fahrplan, meine Hände, nichts davon ist spannend genug, um meine Aufmerksamkeit längere Zeit fest zu halten.
Ich bin immer noch alleine auf dem Bahnsteig, doch ich höre Geräusche. Geräusche die nicht von der Fahrbahn kommen, die nicht dem Wind zuzuschreiben sind.
Ich höre Schritte, von der dunkleren Seite des Bahnsteigs, weg von der Treppe, dem Ausgang. Doch sobald ich den Kopf drehe, und die Augen anstrege die Finsternis zu durchdringen, wird es wieder still.
Während ich ins Dunkel starre, wird mir mit einem Mal bewusst, dass ich hingegen durch die Beleuchtung gut sichtbar gemacht bin, dass sogar meine Mimik für einen weiter entfernt stehenden Menschen zu erkennen sein müsste.
Wieder höre ich Geräusche, Schritte, dieses Mal aus der anderen Richtung. Hallend, als wäre es mehr als einer, und gleichzeitig gedämpft, als bemühten sie sich, leise zu gehen, ungehört zu bleiben, unbemerkt von mir.
Der Mann, der den Bahnsteig betritt, ist in einen dunklen Mantel gekleidet, hat den Kragen gegen Wind und Regen hochgeschlagen. Er stellt sich einige Meter entfernt von mir hin ohne mich anzusehen, also bemühe auch ich mich, ihn nicht mit der Neugierde oder vielmehr dem Misstrauen zu mustern, das ich verspüre.
Der Mann beobachtet mich doch. Immer dann, wenn er denkt, ich würde es nicht sehen, dreht er seinen Kopf, nur ein kleines bisschen, nur eine Nuance, um mich besser im Blick behalten zu können.
Worauf wartet er, frage ich mich, während ich meine Muskeln anspanne und wieder entspanne. Erst jetzt merke ich, dass mir wirklich kalt ist, die Beine schon ganz steif geworden sind. Und was wenn ich jetzt wegrennen müsste? Wie weit würde ich kommen bevor er mich einholt? Bis in die Unterführung? Sicher nicht bis zum Bahnhofsvorplatz.
In diesem Moment fährt der Zug ein, die grellen Scheinwerfer erhellen den Bahnsteig, ich drehe mich reflexartig vom Licht weg, mein Blick fällt dabei auf den Mann neben mir. Bilde ich mir das ein, oder ist da ein Anflug von Missbilligung zu sehen gewesen, ein Aufflackern der Enttäuschung, bevor er seine Gesichtszüge wieder vollkommen unter Kontrolle hat?
Im Zug setze ich mich mit dem Rücken zur Wand, Gesicht zur Tür.
Mir fällt auf, dass ich beim Festhalten der Tasche viel mehr Kraft verwende als nötig wäre, dass sich meine Hände um den Haltegriff verkrampft haben. Als ich loslasse, dauert es nur wenige Sekunden bis meine Finger sich in nervöser Unruhe selbstständig machen, die Hände wringen, sich zur Faust ballen, nur mühevoll wieder entspannen können.
Wieder sehe ich den Mann, der am Bahnsteig noch neben mir stand, nein, nicht nur neben mir stand, mich beobachtete.
Er setzt sich ein paar Reihen weiter hinten in den Zug, und dennoch habe ich das Gefühl, als hätte er sich mir gegenüber gesetzt. Er holt eine Zeitung aus seiner Tasche, hält sie vor sein Gesicht, tut so, als würde er lesen, aber ich weiss, was er in Wirklichkeit tut. Er beobachtet mich, durch die Zeitung hindurch, vielleicht hat er Löcher hineingeschnitten, oder vielleicht braucht er nicht einmal Löcher um mich durch das dünne Papier hindurch zu sehen. Ich weiss,er wartet darauf, dass meine Aufmerksamkeit nachlässt, doch das wird nicht passieren.
Kurz bin ich versucht, ihn zurück anzustarren, dann komme ich mir komisch vor, die Rückseite seiner Zeitung anzusehen, und schaue zur Seite, ins Dunkel.
Vom beleuchteten Zuginnern aus sieht der Bahnsteig noch dunkler aus als er vorhin war, während ich noch darauf stand.
Jetzt sehe ich auch wieder den alten Mann von vorhin. Er steht am Fahrplan, das Gesicht kann ich nicht erkennen, dafür ist es zu finster. Aber auch wenn ich nichts von seiner Mimik erkennen kann, so habe ich doch den Eindruck, als ringe er mit sich selbst, während er die nun geschlossenen Zugtüren betrachtet. Als überlege er sich, nicht doch noch einzusteigen, oder vielleicht doch noch zu warten, weitere vierzig Minuten Wartezeit, auf die nächste Person, die diesen Zug verpasst, die vielleicht weniger wachsam ist.
Der Zug setzt sich in Bewegung, und unwillkürlich seufze ich auf. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich den Atem angehalten hatte, und jetzt, da mir mein Atem bewusst geworden ist, ist es schwierig, nahezu unmöglich die Aufmerksamkeit wieder davon zu lösen, wieder automatisch zu atmen. Der Gedanke, ich müsste ersticken wenn ich aufhöre, über Atmung nachzudenken, versucht sich in meinem Kopf einzunisten, fast gelingt es mir nicht mehr ihn zu vertreiben.
Jemand räuspert sich, es ist der Mann mir gegenüber. Er hat seine Zeitung gesenkt, unsere Blicke kreuzen sich, er lächelt, nein, er grinst mich an. Nicht aus Freundlichkeit – aus blankem Hohn. Er spürt meine Angst, dafür braucht er mir nicht einmal in die Augen zu sehen, er geniesst seinen Triumph über meine Nerven.
Dann, langsam, genüsslich, blättert er die Zeitung um, hebt sie wieder vor sein Gesicht. Und noch immer spüre ich seine Augen auf mir.
Ich halte das nicht mehr aus, irgend etwas muss ich tun, um mich zu beruhigen, um wach zu werden. Bilde ich mir all diese Dinge nur ein?
Ich kneife mich in den Unterarm, zumindest der Schmerz ist eindeutig real. Vielleicht sollte ich mir ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht spritzen, vielleicht sind das alles nur Ermüdungserscheinungen?
Ich stehe auf, schultere Rucksack und Tasche. Um zur Zugtoilette zu kommen muss ich am Zeitungsleser der seine Zeitung nicht liest vorbei. Ich gehe schnell, den Blick starr geradeaus gerichtet. Er kichert leise, kaum hörbar als ich an ihm vorbeirausche. Ich bleibe nicht stehen, drehe mich nicht nach ihm um. Nur weg von hier.
Das Klicken des Türschlosses verspricht Sicherheit, doch an diesem Ort will ich lieber nicht länger als unbedingt nötig bleiben. Offenbar ist dieser Zug schon eine Weile unterwegs, und der Mangel an guter Belüftung ist hier eindeutiger als im Abteil.
Ich schaue in den Spiegel. Fast erkenne ich mich selbst nicht wieder. Angst verzerrt meine Züge, schafft eine Maske aus Panik und Abwehr, und die Augen springen hin und her, im verzweifelten Versuch, alle Ecken zugleich im Blick zu halten. Ich beschliesse, dass ich ein Mimik-Makeover nötiger habe als kaltes Wasser, und mache mich daran, meine Mundwinkel in eine halbfreundliche Position zu bringen, meine Augen zu beruhigen, kurzum, eine Tarnung zu erschaffen, hinter der ich mich verstecken kann bis ich in Sicherheit bin.
Gerade als ich mit dem Ergebnis zufrieden bin, höre ich wieder das Geräusch.
Vorhin habe ich es wohl einfach zu den normalen Zugfahrtgeräuschen gerechnet, Lärm, Hintergrundakustik, aber jetzt, als es zum wiederholten Male auftritt, bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Es klingt, als stünde jemand auf der anderen Seite der Tür, und stosse mit jeder Kurve dumpf gegen ebendiese, begleitet von einem metallischen klink, wie von einer Mantelschnalle. Als hätte dieser jemand ein schlechtes Gleichgewicht, vielleicht, weil er sich nicht festhalten kann. Vielleicht, weil er etwas anderes in der Hand hält. Eine Zeitung etwa.
Ich schlucke, schaue erneut in den Spiegel. Die Mühen von vorhin scheinen vergebens, und dieses Mal brauche ich bedeutend länger, um mein Gesicht unter Kontrolle zu kriegen. Doch endlich gelingt es - obwohl ein verräterisches Blitzen in den Augen bleibt, das man aber auch als unterdrückte Aggression auslegen könnte. Nicht das Schlechteste also, um die anderen von mir fernzuhalten.
Mit einem Ruck vom Handgelenk öffne ich das Schloss und stosse die Tür weit auf - wenn da jemand vorsteht, dann werde ich ihn voll erwischen, denke ich, kampflos werde ich nicht untergehen.
Die Tür schwingt ins Leere, auch der Gang ist leer, kein Mensch zu sehen.
Für einen Moment zögere ich, dann gehe ich zurück nach dort von wo ich gekommen war - da habe ich wenigstens den Zeitungsleser im Blick, denke ich mir. Besser, als ihn in meinem Rücken zu haben.
Mein alter Platz ist unbesetzt - genau wie der Platz des Zeitungslesers.
Ich zwinge mich zum Weitergehen, zum Hinsetzen, konzentriere mich auf meine Gesichtszüge. Jetzt bloss nicht die Fassung verlieren, denn auch wenn ich auf den ersten Blick allein zu sein scheine, ich kann nicht wissen, ob sie nicht doch hier sind, besser versteckt.
Der Zug hält wieder. Ich schaue die Gespenster an die die Nacht in das Neonlicht der Zugeingeweide ausspuckt, und als ihre Augen den meinen begegnen, zwinge ich meine Mundwinkel zu so etwas wie einem Lächeln.
Sie erwidern die Mimik, es ist, als würde ich in einen zeitverzögerten Spiegel schauen.
Sie durchschauen meine Tarnung nicht, doch ich, ich weiss genau, wer sie sind, was sich hinter ihren täuschend menschenähnlichen Masken verbirgt.
Ich bin wachsam – mich werden sie nicht kriegen.
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