Therion Nacar - auf einer kleinen Insel nahe Seyda Neen
Nach mehreren Tagen wolkenverhangenem Himmel und feuchter Hitze hatte sich mit aufkommendem Seewind der Dunst verzogen und die Sonne schien von einem klaren blauen Himmel. Ein hungriger Cliffracer auf der Jagd nutzte die vorherrschende Luftströmung, um aufmerksam über die kleine Inselgruppe südöstlich von Seyda Neen zu gleiten. Seine scharfen Augen machten auch schließlich auf einem der Felsen eine einzelne Gestalt aus, welche scheinbar reglos den Horizont betrachtete. Nach zweimaligen Umkreisen war sich das Tier sicher, eine arglose und einfache Beute vor sich zu haben und stürzte aus der Bewegung heraus auf den Altmer herab. Kurz bevor sich aber seine messerscharfen Krallen in den ungeschützten Körper des Elfen bohren konnte, wich dieser mit einer blitzschnellen Bewegung zur Seite aus und ein stechender Schmerz durchraste die rechte Seite des Cliffracers. Dieser versuchte nun irritiert Höhe zu gewinnen, bemerkte dabei aber nicht, daß der Schmerz von einer Art Widerhaken aus Chitin stammte, an dem ein ledernes Seil aus Kagouti-Haut befestigt war. Therion Nacar, nur mit Hemd und Hose bekleidet, hatte das Ende der Leine um einen starken Baum geschlungen, was der Cliffracer auch sogleich bemerkte, als diese ihn abrupt wieder zu Boden zwang. Sobald er dort mit einem lauten Krachen aufgeschlagen war, sprang der Elf auf das wild um sich schlagende Tier und packte dessen Hals mit seiner eisernen Hand. Einige Minuten später hatten die Zuckungen aufgehört, so daß er den Abtransport seiner Beute vorbereiten konnte. Zwar galten Cliffracer gemeinhin als ungenießbar und zäh, allerdings hatte Therion herausgefunden, daß sie, ein paar Tage lang in einem Lehmmantel gebacken, durchaus eßbar waren - außerdem schmeckten sie immer noch besser als Ogrims...
Therion Nacars Heim bestand aus Strandgut sowie einigen Teilen des Schiffswrack, welches an der Westseite der Insel lag, und sollte wohl eine Art von Hütte darstellen. Zumindest so weit dies die handwerklichen Fähigkeiten des Elfen zuließen. Immerhin hielt sie den Regen ab und hatte auch schon einige Stürme überstanden, ohne über ihrem Erbauer zusammenzubrechen. Sie war zwischen die Felsen der größten Insel der kleinen Inselgruppe direkt sudöstlich von Seyda Neen gelegen, so daß man sie weder von Land noch von See her erkennen konnte. Auf der Insel lebten außer Schlammkrabben keine größeren Tiere, und daher ernährte sich der Altmer von den Krabben, Fisch und Cliffracern. Die umliegenden Gewässer waren von Schlachterfischen und Dreugh regelrecht verseucht, so daß kaum jemand seinen Weg hierher fand. Selbst unter den ewig lästigen Abenteurern hatte es sich herumgesprochen, daß das hier liegende Schiffswrack keinerlei Schätze mehr enthielt – und wenn doch einer meinte, hier sein Glück versuchen zu müssen, wurde er meist von den Schlachterfischen gefressen oder den Dreugh zerrissen.
Nach einem ertragreichem Tag mit der Angel auf See näherte sich Therions Boot dem kleinen natürlichen Hafen zwischen den Inseln, welcher von ihm mit einem Anlege- und Verbindungssteg ausgestattet worden war. Die Fischer, welchen diesen ab und zu bei Sturm als Schutzhafen anliefen, hatten nicht schlecht gestaunt, als sie dort das erste Mal anlegten. Da sie aber grundsätzlich ein schweigsames Volk waren und sich nicht um die Angelegenheiten anderer kümmerten, war er sich sicher, daß sie seinen Aufenthalt hier nicht verrieten. Am allerwenigsten an das allgemein verhaßte Imperium oder Fremde.
Während Therion sich seiner Hütte näherte, spürte er sofort die Präsenz des Eindringlings. Er verstaute umsichtig die gefangenen Fische in dem hohlen Baum vor dem Eingang und trat ohne weitere Vorbereitung durch die bereits von der Seeluft verwitterte Tür. Wie er es bereits geahnt hatte, saß ein hochgewachsener Altmer auf dem wackeligen Hocker vor seinem Tisch, auf dem ein zur Hälfte gelesenes Buch lag, und bemühte sich, eine würdevolle Erscheinung abzugeben. Er war von Therions Eintreten keineswegs überrascht, und ein überhebliches und arrogantes Lächeln lag auf seinem Gesicht, was wohl auf die Anwesendheit eines Feueratronachen und zweier Skelette zurückzuführen war. Außerdem schien er sich sicher, daß die kruden Chitinwaffen seines Gegenübers weder seinen Kreaturen noch ihm selbst gefährlich werden konnten. "Therion Nacar, nehme ich an", begrüßte ihn der Fremde, "der Verräter und Brudermörder. Es wird mir eine Freude sein, Euren Kopf dem Rat in Alinor darzubringen, mein Name ist Selian Kanioles. Merkt ihn Euch, er ist das letzte, an das Ihr Euch in diesem Leben erinnern werdet. Denn für ein derart abscheuliches Wesen wie Euch gibt es kein Gericht und die einzige Strafe kann der Tod sein." Selbstbewußt sah der Altmer seinem Gegenüber in die gold-grünen Augen, ohne daß diese nur die geringste Regung zeigten. "Ich habe Euch weder hergerufen, noch seid Ihr hier erwünscht", erwiderte Therion mit leiser, ausdrucksloser Stimme. "Verlaßt diesen Ort, dies ist die einzige Warnung, welche Ihr erhaltet." Mit mühsam unterdrücktem Zorn setzte Selian hochmütig zu einer Antwort an, jedoch kam er nicht mehr dazu. In einer schnellen, fließenden Bewegung hatte Therion die Distanz zu seinem Gegner überwunden und ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Der Altmer fiel mit einem Krachen vom Hocker, während Blut aus seiner gebrochenen Nase floß. Den kurzen Moment, welche die beschworenen Kreaturen benötigten, um auf den Angriff zu reagieren, nutzte Therion, um aus einem Geheimfach seines Tisches einen Glasdolch zu ziehen. Schon mußte er den Hieben des Atronachen und eines Skelettes ausweichen, während er das Schwert des zweiten Skelettes mit seiner eisernen Hand parierte. Mit zwei, drei schnellen Schritten gelang es ihm, den Feueratronachen zwischen sich und seine weiteren Gegner zu bringen. Er versuchte gar nicht erst wieder zur Tür zu gelangen, da diese inzwischen von innen mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder mit einer Falle oder einem Verschlußzauber gesichert war. In diesem Moment beendete der feindliche Altmer, dessen Blut aus der zertrümmerten Nase sein Gewand besudelt hatte, einen Zauber und eine Kugel aus Eis raste auf Therion zu, traf aber den Atronachen, welcher sich just in die Bahn des Zaubers bewegt hatte. Dieses unversehene Scheitern seines Zaubers durch das Mißgeschick seines Dieners überraschte den feindlichen Magier, und verschaffte Therion einen kurzen Augenblick, welchen er auch sogleich nutzte. In der Dauer eines Augenaufschlags verschwand der Elf aus dem Blickfeld seiner Gegner und nur ein Flimmern verriet noch kurz den Ort, an welchem er kurz vorher gestanden war. Der Altmer, welcher einen hinterhältigen Angriff erwartete, hatte schon zu Beginn des Kampfes eine Schutzformel gesprochen, welche ihn vor Elementarschäden schützen sollte und beschwor nun einen daedrischen Panzer herauf. So gewappnet erwartet er einen Angriff. Um so überraschter war er, als Therion schließlich reglos direkt vor ihm stehend wieder erschien, ein melancholisches Lächeln auf dem Antlitz. Einen Herzschlag lang blickte er erneut in die goldgrünen gnadenlosen Augen seines Gegenübers, als sich dieser plötzlich wieder mit einer fast nicht wahrnehmbaren Geschwindigkeit bewegte und dessen Glasdolch Selians Hand verletzte. Die Wunde war nicht tief, aber von ihr ging eine eisige Kälte und ein helles Leuchten aus, und er spürte, daß sich ein starkes Gift in seinem Körper verbreitete. Als er realisierte, daß außerdem eine Seelenfalle auf ihm lag und er die Stärke des Giftes nicht einschätzen konnte, kam Panik in ihm hoch. Fieberhaft suchte er in seinem Gedächtnis nach einem Gegengiftzauber, so daß er erst nicht wahrnahm, daß sich Therion währenddessen mit Magie und Geschick seiner übrigen Gegner entledigte. Erst als er nach zwei durch seine Nervosität bedingten Fehlschlägen seinen Körper entgiftet hatte, bemerkte er, daß von seinen Dienern nur noch ein Haufen Knochen und glühende Asche übrig war und der Elf wieder vor ihm stand. Therion ließ ihm aber keine Zeit mehr, weitere Worte – sei es ein Zauber oder ein Schmähung – zu sprechen; den unglücklichen Altmer traf ein sengender Flammenstoß aus der Hand seines Gegners, das magische Feuer verbrannte seine Robe, seine Haut und sein Fleisch, und erst als der grün schimmernde Dolch durch seine Kehle schnitt, erkannte er, daß inzwischen seine Schutzzauber wieder erloschen waren. Seine Schreie erstickten in Blut, während sich seine Seele von dem sterbenden Körper löste und in einen Seelenstein eingekerkert wurde.
Nach dem Tod des Altmers, welcher einmal den Namen Selian Kaliones getragen hatte, herrschte Stille. Therion blickte auf die Leiche herab und seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit, an den Ort eines blutigen Gemetzels, als ein unbarmherziger Feind in den Palast Familie Nacar eingedrungen war und sie zum größten Teil auslöschte. An die Schreie der Sterbenden und die Ströme von Blut und das vergebliche Flehen um Gnade…
Schnell schüttelte er diese finsteren Erinnerungen ab und machte sich daran, die Leiche des Altmers und die Überreste seiner Kreaturen zu beseitigen. Die Asche des Atronachen besaß für einen Alchimisten einen gewissen Wert, während die Knochen in der Abfallgrube landeten. Den Körper des toten Altmers schaffte er in sein Boot, band einige Steine daran und versenkte ihn an einer tiefen Stelle im Meer, von der er wußte, daß es dort auch genügend Schlachterfische und Haie gab, welche sich dessen annehmen würden. Nachdem die Leiche, ohne daß er sie noch einmal eines Blickes gewürdigt hätte, in dem dunklen Wasser versunken war, ruderte er zu der Insel zurück, auf welcher er für einige Zeit relativ ungestört gelebt hatte; aber die Zeit des Friedens schien nun vorbei zu sein…
Der Palast der Familie Nacar lag still und friedlich, über seinen Kuppeln und Türmen waren die ersten Sternbilder am abendlichen Himmel zu sehen, während die Zikaden der Summerset Isles ihre Nachtmusik zum Besten gaben. Keine der aufmerksamen Hauswachen nahm den fast unsichtbaren Schatten war, welcher sich mit unvergleichlicher Anmut und Schnelligkeit zwischen patrouillierenden Soldaten hindurch zu einem Nebeneingang bewegte. Trotz ihrer nicht geringen Komplexität waren sowohl die dort angebrachte Falle wie das Schloß schnell ihrer Funktion beraubt und die katzenhafte Gestalt huschte in das Gebäude. Zielstrebig bewegte sie sich durch die labyrinthartigen Gänge und Korridore, wich den ebenfalls im Gebäude patrouillierenden Wachen aus und vermied die unsichtbaren magischen Fallen. Schließlich erreichte sie ihr Ziel, ein Schlafraum, aus dessen einen Spalt weit geöffneter Tür Licht drang. Ohne ein wahrnehmbares Geräusch öffnete der Eindringling die Tür und erblickte den Rücken eines an seinem Schreibtisch sitzenden Hochelfen, welcher in seine Bücher vertieft war. Lautlos schlich die Khajiti näher, ohne daß sein Opfer eine Chance hatte, sie zu bemerken, hob die Hand zu Schlag - und versetzte dem Altmer einen freundschaftlichen Schlag auf den Hinterkopf. Therion zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum, sein Ärger wandelte sich aber Freude, als er die mehr elfischen denn katzenhaften Züge Rhailyns erkannte. Lachend fiel sie in seine Arme und bemerkte unter einem Schnurren: "Die Sicherheitsmaßnahmen Deiner Familie sind ja nicht schlecht, aber einen echten Dieb können sie nicht aufhalten. Im Ernstfall hätte es Dich sogar Deinen hübschen Kopf kosten können..." Therion lachte spitzbübisch und erwiderte: "Wenn die Wachen Dich erwischen und unser Techtelmechtel auffliegt, wird es unser beider Kopf sein, welcher in Gefahr ist - schließlich hat meine Familie andere Pläne mit ihrem Erstgeborenen." "Dann mußt Du halt Deine Schreie während unseres Liebesspiels etwas unterdrücken, mein Prinz", schnurrte die Khajiti, während sie mit ihren Krallen die Knöpfe seines Gewandes abriß. "Ich muß meine Schreie unterdrücken?" Der junge Altmer spielte seine Empörung nicht sonderlich überzeugend. "Wer hat denn das letzte Mal beinahe das gesamte Dienerschaft aufgeweckt, so daß ich eine mißlungene Beschwörung vortäuschen mußte? Außerdem waren Deine Krallen auch nicht sonderlich zart zu mir." Auf dem faszinierenden Antlitz seiner Gefährtin mit den leuchtend grünen Augen erschien ein Grinsen. "Oh, ich erinnere mich gut, ich mußte mich die ganze Zeit in der Ecke über der Tür im Schatten verstecken, was gar nicht so einfach ist, wenn man verschwitzt und ausgelaugt ist. Und jetzt komm mein Elfen-Mäuschen, ich bin hungrig!" Und mit einem gespielten Fauchen stürzte sie sich auf Therion, welcher sich inzwischen zu seinem Bett bewegt hatte, und beide versanken in ihrer Leidenschaft..."
Das kalte Wasser war wie ein Schock, das Dunkel und die mangelnde Bewegungsfreiheit in dem rauhen Tuch waren wie gemacht, um eine Panik aufkommen zu lassen. Doch der Wille zu überleben war stark und ausgeprägt und der Kampf gegen die eisern Fessel war ebenso brutal wie die Folter der letzten Stunden. Während die Gewichte den groben aber stabilen Jutesack erbarmungslos in die dunkle Tiefe zogen, dauerte das Ringen an, aber die Lungen begannen zu brennen, das Verlangen nach dem lebensspendenden Odem wurde übermächtig und langsam begann der Lebensfunke zu erlöschen. Die Finsternis brach schließlich über Rhailyn herein, das kalte, gnadenlose Naß verschlang sie in seinen unergründlichen Tiefen, löschte ihr Lebenslicht und ihre letzten Gedanken galten Therion, ihrer großen Liebe, und ihre Hand hielt den Herzkristall fest, während ihre Seele in eine andere Welt entfloh…
Schweißgebadet schreckte Therion Nacar in der ärmlichen Hütte aus dem altbekannten Alptraum auf, seine Hand war um den vor langer Zeit erloschenen Herzkristall gekrampft, dessen Pendant ihn den Todeskampf seiner geliebten Rhailyn hatte miterleben lassen. Es gab wenige, welche ein ähnliches Erlebnis am Geiste unbeschadet überlebt hatten, und er fragte sich, ob er wirklich davongekommen war. Draußen herrschte tiefste Nacht, selbst die Tierwelt war zur Ruhe gekommen, so daß es totenstill war. Er setzte sich auf und lehnte seinen Oberkörper an die rauhe Holzwand und wartete darauf, daß sich sein Atem wieder beruhigte. Durch seine rechte Schulter, auf der sich das Brandmal in Form eines groben Löwenkopfes befand, zuckte ein kurzer Stich, außerdem registrierte er aufmerksam, daß von der Prothese an seinem linken Arm ein Ziehen ausging. Es ist wohl kein Zufall, dachte er bei sich, daß die Alpträume nach dem heutigen Besuch wiederkehren. Seiner Vergangenheit kann man nicht entfliehen, hat ein großer Mann mal gesagt, aber was würde derselbe sagen, wenn er wüßte, daß Therion nicht floh? Daß eigentlich seine Vergangenheit vor ihm fliehen müßte? Daß er es leid war, die Ursache von derart viel Gewalt und Tod zu sein, und er deshalb seine Heimat verlassen hatte? Zumindest redete er sich dies ein. Na ja, wenn er ihn kennengelernt hätte, wäre er vermutlich ebenfalls tot – wie so viele, die seinen Weg kreuzten, im Guten wie im Bösen. Therions Gesichtszüge verhärteten sich und er dachte bitter: Besonders traf dies ja auf die zu, welche er liebte… Rhailyn… Plötzlich entrang sich ein Schrei seiner Brust, voller Trauer, Verzweiflung und Wut, so laut und voller Zorn, daß er einen Cliffracer, welcher auf einem der Felsen schlief, aus einem Schlummer weckte und in die Flucht schlug. Therion stürmte aus der Hütte, sein weißes Haar hing wirr von der Stirn, die Augen glitzernd vor salzigen Tränen welche sich mit der schwarzen See vermischte, als er in das nachtdunkle Meer sprang und einfach in die Finsternis hinausschwamm. Seine Bewegungen waren voller Wut und Kraft, all der Schmerz seines Verlustes lag darin, und erst nach einer Weile fanden seinen Züge einen gleichmäßigen Rhythmus, ebenso wie sich seine aufgewühlte Seele nur langsam beruhigte. Aber er kehrte nicht um, noch nicht, sondern schwamm weiter auf den für ihn unsichtbaren Horizont zu, eingedenk dessen, daß er jenseits seiner Wahrnehmungsfähigkeit existierte. Nach und nach kam er wieder zu Sinnen, und wurde sich nun bewußt, daß er ohne irgendeine Waffe in einem von Schlachterfischen und Dreugh nur so wimmelnden Gewässer schwamm. Trotzdem ließ er sich erst noch einige Augenblicke treiben, um seine Gedanken zu ordnen, auch weil er merkwürdigerweise das Gefühl hatte, von irgend jemanden oder irgend etwas beschützt zu werden. Zwar gab er auf sein Leben nicht viel, aber die Sache machte ihn neugierig – hinzu kam, daß er vermeinte, einen großen Schatten unter Wasser zu sehen, welcher ihn in weitem Bogen umkreiste. Als er aber versuchte, seinem Beschützer nachzutauchen, war dieser verschwunden. Schließlich kehrte er doch zurück und erreichte mit schmerzenden Muskeln den Strand der Insel. Dort ließ er sich erschöpft in den weichen Sand sinken und verfiel sofort in einen tiefen und traumlosen Schlaf.
Die ersten Strahlen der rosenfingrigen Eos umschmeichelten Therions Körper, als dieser nur mit einer einfachen Hose bekleidet an einem einsamen Strand nahe Seyda Neen stand und auf die weite See hinausblickte. An seinem Handgelenk hatte er mit einer Kordel einen Chitindolch befestigt, um die harten Schalen der perlentragenden Muscheln zu öffnen. Gelassenen Schrittes ging er den Strand hinab zum Meer, welches zuerst seine bloßen Füße, dann seine Knie und schließlich seine Hüfte umspülte, bevor er mit einem eleganten Satz hineintauchte. Mit kräftigen, kontrollierten Zügen stieß er hinab in die Tiefe, wo er schon bald die vertrauten Umrisse der ersten drei Perlenmuscheln erblickte. Mit flinken Handbewegungen und unter Zuhilfenahme seines Dolches hatte er sie schnell geöffnet, eine davon enthielt tatsächlich eine große und ebenmäßige Perle. Einen kurzen Augenblick genoß er die Ruhe und die Schwerelosigkeit um ihn herum, sie erinnerten ihn an letzte Nacht, als er allein in der dunklen See getrieben war und die Idee schoß ihm durch den Kopf, nicht mehr aufzutauchen, einfach hierzubleiben und des Endes zu harren, welches ihn erwartete. Irgendwo in der unergründlichen und selbst mit der stärksten Magie nicht erreichbaren Tiefe mußte sich Rhailyn befinden, wartete sie vielleicht schon auf ihn. Regungslos verharrte er nahe des Grundes, seine Gedanken bewegten sich in immer langsameren Kreisen und er war kurz davor in eine Art Dämmerzustand zu verfallen. Da glitt eine elegante Gestalt in sein Blickfeld und verwundert erkannte er einen großen Delphin, welcher eigentlich in diesen Gewässern nicht heimisch waren. Das Tier stand einige Schritt von ihm entfernt im Wasser und blickte ihn, wie es schien, aus nachdenklichen Augen an. War dies der Schatten, welcher ihn auch letzte Nacht begleitet hatte? Plötzlich wurde er sich seiner akuten Atemnot wieder bewußt, und mit einem letzten Blick zu dem ungewöhnlichem Tier tauchte er wieder auf, um Luft zu schöpfen. Der Aufstieg kam ihm ungewöhnlich lang vor, seine Brust brannte, und er spürte, daß er kurz davor war, das Bewußtsein zu verlieren, als er die Wasseroberfläche erreichte. Während er in tiefen Zügen seine Lungen mit dem lebensspendenden Sauerstoff füllte, beobachtete er aufmerksam seine Umgebung sowohl über wie unter der Wasseroberfläche. Es kam zwar selten vor, daß sich ein Cliffracer so weit hinauswagte, aber es gab auch so genug Raubfische, welche Altmerschenkel auf ihrem Speiseplan zu schätzen wußten. Außerdem versuchte er einen Blick auf den rätselhaften Delphin zu erhaschen, aber dieser schien verschwunden zu sein.
Nachdem er in vier weiteren, diesmal ereignislosen Tauchgängen genug Perlen gesammelt hatte, nahm er seine am Strand auf einem Felsen deponierte Kleidung auf und verstaute seinen Fang in einem kleinen Ledersäckchen, welches er in seinem breiten Gürtel verbarg. Sein Lebensretter war nicht wieder erschienen, doch Therion hatte das Gefühl, daß er dem Wesen nicht zum letzten Mal begegnet war. Zusammen mit den Ereignissen der letzten Tage verstärkte der Vorfall aber sein Gefühl, daß die Fäden des Schicksals neu gewebt wurden, und sich wie in Schlingen um ihn legten…