Licht... Wo bei allen Göttern sollte sie hier Licht herbekommen? Es gab in dem Zimmer nichts, das auch nur entfernt an eine Lichtquelle erinnert hätte. Anoras Blick glitt über die alten Bücherregale. Brennstoff hätte es sicher genug gegeben, doch sie hatte nicht die Zeit, ein Feuer zu entfachen. Ilthiur wäre mit Sicherheit schon tot, noch bevor die erste Flamme kraftlos vor sich hin züngeln würde. Noch einmal sah sie sich in dem halbdunklen Raum um. Es gab tatsächlich weder Lampen noch Kerzen noch sonstige lichtwerfende Gegenstände. Aber wie konnte dies in einer Bibliothek sein? Der Magier, der einst hier gelebt hatte, hatte doch sicherlich nicht nur bei Tageslicht in seinen Büchern gelesen?
Einer plötzlichen Idee folgend stürzte die Halbelfe zu dem Tisch am Fenster des Raumes. Schnell begann sie damit, Oberfläche und Schubläden des Tisches zu durchwühlen. Es musste hier einfach irgendetwas geben, das ihnen helfen konnte - Davon war sie in ihrer Verzweiflung fest überzeugt. Ihre Hände glitten über mehrere merkwürdige Gegenstände, deren Sinn sie nicht feststellen konnte. Sie konnte doch nicht alle ausprobieren!
Panik befiel sie. Was sollte sie tun? Auf einen Kampf, in dem man weder mit Schwert noch mit Worten etwas ausrichten konnte, war sie nicht vorbereitet. Vielleicht hätte ihnen ein Magier in diesem Moment helfen können. Schon ein einfacher Lichtzauber könnte ihre Rettung bedeuten.
"...aber ich bin kein Magier..."
Ihre Hände hörten wie von selbst auf, in den Schubläden zu wühlen. Anoras Panik war verflogen, doch ihren Platz hatte eine schreckliche Gewissheit übernommen: Sie würde nichts finden, das ihnen helfen könnte. Es gab für sie keine Rettung. Selbst der Weg nach unten, der ihr hätte zur Flucht verhelfen können - mit dem Preis natürlich, dass sie Ilthiur seinem Schicksal überlassen hätte - war durch das schauerliche Schattenwesen versperrt. Überhaupt schien sich die Kreatur jetzt, wo sie sie in Ruhe betrachten konnte, immer weiter auszubreiten. Jeden Schlag, den Ilthiur ihr zusetzte, schien sie zu stärken. Es war hoffnungslos. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Ilthiur sterben würde - Und sie würde ihm kurz darauf folgen.
Anora schloss die Augen und murmelte leise Worte der Beruhigung vor sich hin. Seit sie ihr zerstörtes Dorf verlassen hatte, hatte sie geglaubt, sie würde sich vor dem Tod nicht mehr fürchten. Doch nun, da sie Auge in Auge mit ihm stand, nun begann sie zu zittern. Sie war noch nicht bereit dazu, ihre Seele zu entlassen und zu ihrer Familie zurückzukehren. Es war noch zu früh...
In ihrem Kopf begann es zu rauschen. Es war unangenehm, doch erträglich. Was ist das, fragte sie sich, doch sie konnte es nicht erkennen. Alle ihre Sinne waren nun auf dieses Rauschen gerichtet und sie vergaß alles um sich herum. Wäre der Schatten in diesem Moment zu ihr gekommen um ihr das Leben zu nehmen - Sie hätte es nicht bemerkt. Denn das Rauschen formte sich, veränderte sich im Ton und wurde schließlich zu einem von weit her zu ihr klingenden Lachen.
Ein Lachen? Hier?
Obwohl es nur schwach zu hören war, erkannte Anora doch, dass es menschlich war und nicht von einer dieser Kreaturen ausgestoßen wurde, die vielleicht gerade ihre Freunde tötete. Nein, es war ein Mensch, der lachte, und er klang... Hoffnungsvoll? Zuversichtlich? Triumphal? Der Mensch lachte das Dunkel aus! Er lachte...
Als Anora die Augen öffnete, sah sie, dass die Schattenkreatur ihre Gestalt geändert hatte. Sie war nun nicht mehr nur ein Schemen, sondern deutlich erkennbar, wenn auch nicht von fester Form. Auch war sie ein Stück weit von Ilthiur zurückgewichen, wie als hielte sie irgendetwas für einen Moment ab, anzugreifen. Und die Tür... Der Weg zur Tür war wieder frei! Dies war ihre Chance - Sie konnte entkommen! Aber Ilthiur nicht.
Ihr Blick fiel wieder auf die Schublade, in der sie zuletzt gewühlt hatte... Und wurde magisch angezogen von einer kleinen Flasche, kaum so groß wie ihre geschlossene Hand, mit einer göldlich schimmernden, kristallenen Flüssigkeit darin. Und wieder erklang das Lachen in ihrem Kopf, wurde lauter, je näher sie ihre Hand auf das Gefäß zu bewegte. Kam das Lachen etwa aus der Flasche? Als ihre Finger das Glas berührten, war es plötzlich wieder still. Wohl nicht, dachte sie sich, ein wenig enttäuscht. Doch noch bevor sie überhaupt wusste, was sie tat, hatte sie das Fläschchen auch schon geöffnet. Rauch trat daraus hervor und verbreitete einen scharfen Geruch. Scharf... Oder heiß... Heiß wie Feuer.
Es war eher eine Eingebung als eine logische Folgerung, dass sie aufsprang und das Fläschchen mit aller Kraft auf den Boden in der Nähe des Schattenwesens schleuderte, so dass es zerbrach - Und explodierte. Es war nur eine kleine Explosion und doch musste Anora sich reflexartig abwenden. Als es vorbei war, hatten mehrere der am Boden liegenden Bücher und Pergamente Feuer gefangen und die Flammen fanden auch gleich immer mehr Nahrung, so dass sie sich rasch ausbreiteten. Der Schatten hatte indes vollständig von Ilthiur abgelassen und huschte zischend hin und her. Das Feuer hatte ihn bereits erreicht und es schien so, als hielte es ihn gefangen. Zumindest konnte er nicht entkommen. Die immer panikartiger werdenden Laute, die er ausstieß, liesen erahnen, welche Qualen er litt. Schon bald würde das Feuer ihn aufgezehrt haben...
In diesem Moment besann Anora sich, dass es ihr ähnlich ergehen würde, wenn sie weiter auf der Stelle stehen blieb. Mit wenigen Sätzen war sie über die Feuer hinweg und an dem Schatten vorbei, krallte sich in den Arm des völlig überraschten Silberelfen und zerrte ihn aus dem Raum hinaus und die Wendeltreppe hinunter. Auch dort blieb sie nicht stehen sondern zerrte ihren Gefährten weiter hinter sich her. Aus den Augenwinkeln glaubte sie, zwei Gestalten zu sehen. Sie nahm sich nicht die Zeit, sie einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, doch für den Fall, dass sie, wie sie vermutete, Nebressyl und Crye waren, schrie sie ihnen über die Schulter ein fast schon gekrischenes "Raus!" zu.
Anora stoppte nicht eher, als bis sie die Straße erreicht hatte, und auch dort rannte sie noch einige Häuser weiter, bevor sie endlich stehen bleiben konnte. Hustend und zitternd zugleich stand sie da - Ilthiurs Arm hatte sie mitlerweile freigegeben - und versuchte, Herr über ihre schnell dahinrasenden Gedanken zu werden.
Langsam, sehr langsam, beruhigte sie sich wieder.
Die Gefahr war vorbei. Vorerst.