Kingdoms - About Honor and Traitors

Anora

Wanderer
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‚Du hättest niemals wiederkehren dürfen!’
Resignierend seufzte Anora leise in sich hinein. Unter all den Stimmen, die Stunde um Stunde in ihrem Kopf widerhallten, war die der Wildelfe Laureylith, ihrer Mutter, die, die sie am wenigsten hören mochte.
‚Das Monster in dir hat geschlafen, aber *er* hat es erweckt. Und nun bist du ein Ungeheuer, ein Dämon, eine Ausgeburt der Hölle…’
Niemals hätte ihre Mutter solche Worte über ihre Lippen gebracht, niemals sie mit solchen Ausdrücken so verletzt. Doch die anklagenden Blicke, die sie ihr seit ihrer Rückkehr in ihre Heimat vor vielen, vielen Jahren zugeworfen hatte, hatten mehr ausgesagt als Worte es je vermocht hätten. Sie, ihre eigene Mutter, hatte sich vor ihr gefürchtet, sie alle hatten sie gefürchtet.
‚Du warst niemals eine von uns, niemals. Aber als du dich entschieden hast, zu *ihm* zu gehen, *ihm* zu dienen, bei seinem gottlosen Tun, da hast du dich entschieden, deine Götter zu verraten, und damit sollst du verdammt sein für alle Zeit!’
‚Ich habe nicht gewusst…’
‚…Aber du hast diese Entscheidung getroffen. Dein Verlangen danach, *ihm* zu gefallen, war stärker als deine Bande zu deiner Heimat, zu deiner Familie, zu deinen Göttern.’
‚Er war mein Vater!’
‚Sein Blut ist das deine, das ist wahr. Es war mein Fehler. Ich hätte dich niemals gebären dürfen.’
Die Elfe schluckte. Obwohl sie wusste, dass die Stimmen nicht real waren, war es, als hätte sie ein harter Schlag in den Magen getroffen. Jahrelang hatte sie keinen Gedanken an die Frau verschwendet, die sich ihre Mutter nennen konnte, doch solche Worte hörte wahrscheinlich niemand gerne.
‚Du bringst Unglück, wohin du auch gehst. Alle stürzt du ins Verderben. Deine Gefährten, die du deine Freunde nennst, auch sie werden es zu spüren bekommen.’
Wieder seufzte sie. Diese Leier kannte sie allmählich. Dennoch konnte sie sich vor der Wirkung dieser Worte nicht verschließen.
‚Doch früher oder später werden auch sie erkennen, dass du nur Übel über sie bringst, und sie nur der Tod erwartet, wenn sie dir weiter folgen. Aber dann ist es zu spät, zu spät…’
‚Ich werde das nicht zulassen…’
‚Du wirst dafür verantwortlich sein! Versuche nur, dein Gewissen zu beruhigen, irgendwann wirst du die Wahrheit erkennen und dein Erbe annehmen, und dann wirst du gänzlich zu dem, wozu *er* dich gemacht hat. Das ist dein Fluch.’
Bei den letzten Worten wurde die Stimme leiser, wie als würde sie sich entfernen, doch ein Echo hallte weiterhin in ihrem Kopf nach. Ihr Fluch… War das tatsächlich so?
Sie wusste nicht, was aus ihrer Mutter geworden war, als sie ihr Heimatdorf zum zweiten und letzten Mal in ihrem Leben verlassen hatte. Vielleicht war sie längst tot, vielleicht auch nicht. Ihr war es gleich. Ihre Mutter hatte sie verstoßen, als sie ihre Hilfe am dringendsten gebraucht hätte. Aber für sie hatte es längst Ersatz gegeben. Ihr Halbbruder mütterlicherseits war zur Welt gekommen, und er trug nicht *sein* Blut in seinen Adern.
Leicht lächelnd schüttelte Anora den Kopf und tastete dabei nach der ledernen Flasche, die an ihrem Sattel hing. Heute Nacht würde sie dafür sorgen, dass keine Stimmen ihr den Schlaf raubten. Sie konnte zwar nicht mit Sicherheit sagen, dass es funktionieren würde, aber sie hoffte es so inständig, dass es einfach gehen musste! Vor wenigen Stunden hatte sie einen der Nordleute, der gebrochen ihre Sprache sprach, zu einem Tausch bewegen können: Eine Flasche des Fusels der Nordleute gegen ein hübsches kleines Jagdmesser. Sie hatte es ob seiner filigranen Ausarbeitung niemals zu benutzen gewagt, daher machte es wohl auch nichts aus, wenn sie sich davon trennte, dachte sie. Und das starke Gebräu aus dem Norden war ihre Eintrittskarte in das Reich der Träume.
 

Alyndur

Zwielichtiger
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Wieder rief der Nebel nach ihm. Wieder zeigte er ihm, wie sinnlos die Teilnahme an einer fremden Suche war und erbot sich, den Weg nach Süden zu verkürzen.
Doch Alyndur widerstand. Diesmal brauchte es kein trotziges Pferd, um die Verlockung abzuwehren. Er wusste um eine alte Weisheit, die da sagte: „Zuweilen enthüllen die Mächte des Schattens Wahrheiten, wenn es ihren Zwecken dient.“ Doch diese Wahrheit war einerlei. Sein Tun mochte so sinnlos sein, wie es wollte, denn für den Moment gab es keinen Weg anderen Weg. Nur den Tod.
Nachdem die Karawane einen weiteren Tagesmarsch hinter sich gebracht hatte, machte Alyndur es sich so bequem, wie es das raue Lager zuließ. Er schmachtete nach dem süßen Schlaf der Erholung. Doch als er die Hand danach ausstreckte, war es der Nebel, der sie ergriff und ihn fortzog... zu einem vergessenen Schlachtfeld.

Als er seine Augen öffnete, waren die Ebenen des Schweigens fort. Ebenso wie die Karawane mitsamt seiner Gefährten, die keine waren. Der Ort aber war so wenig erstaunlich, dass Alyndur sie schnell vergaß. Der ausweglose Talkessel wirkte so fremd und vertraut zugleich, als er die meisten Tage seines Lebens hier gefristet... und er wusste, das hatten er. Diese vier Felswände umschlossen sein wahres Dasein. Er wusste sich nicht zu erinnern, wann und wie er in den Talkessel gelangt war, nur, dass es daraus kein Entkommen gab. Hier würde er die Jahre zählen, bis er starb oder sich die Schlange der Zeit in den Schwanz biss. Die Felshänge waren nicht zu steil, als dass man an ihnen hätte emporklettern können, doch, wann immer er versuchte, ihrer habhaft zu werden, entzogen sie sich ihm. Das bewirkte jedoch keine Vergrößerung der Schlucht, da die anderen Wände dafür heranrückten. Versuchte er dafür, sie zu erklimmen, ereignete sich das Gleiche. Er konnte für eine Ewigkeit ins Leere laufen, soviel Freiheit war ihm gegeben.
Einst hatten Fichten und Sträucher die Hänge des Tals und in seinen Grund bewachsen, sodass Alyndurs Gefängnis ein wenig hübscher ausgesehen hatte, doch jemandes unerbittlicher Hass hatte sie samt ihrer Wurzeln herausgerissen und vergiftete nun das Bergwasser, auf dass nichts gedeihen konnte.
Die Nächte waren rau, aber klar, doch die Sterne malten Zeichen, die er weder zu erkennen, noch zu deuten vermochte. Jedes Mal, wenn der Mond in voller Kraft schien, schreckte ihn das silberne Licht aus dem Schlaf, als wäre damit irgendetwas verbunden. Doch so sehr er sich auch mühte, hatte es etwas gegeben, so erinnerte er sich nicht mehr daran. Bis zu dieser Nacht. Irgendetwas sagte ihm, dass es um diese Zeit bereits Tag sein musste, statt einer Sonne schien ein roter Mond auf ihn herab. Rastlos, wie er es oft in diesem Tal war, durchstreifte er es, getrieben von Fragen. Was war dies für ein Ereignis und was mochte es wohl bedeuten?
Dann entsinnte er sich an Dola. Die Kräuterfrau hatte es ihm eine Geschichte erzählt über ein Ereignis das dem heutigen sehr ähnelte, damals in ihrer Hütte im Wald von Númar. Viele der Städter hatten ihren Künsten misstraut und ihre Kinder gelehrt, sie zu meiden, doch sein Vater hatte ihn als Jungen oft zu ihr geschickt, um einen Hasen oder ein Rebhuhn gegen eine der nützlichen Salben zu tauschen, die er gerne zu seinen Jagdausflügen mitnahm. Manchmal strich sie ihm übers Haar und belohnte ihn mit einer jener Geschichten über die Vergessenen Tage, als die ersten Götter das Universum schufen oder aber das Universum sie, wie es die alte Lehre zu sagen pflegte, der die Kräuterkundige gehuldigt hatte. Sie war nicht das gewesen, was die Männer in der Stadt als schön bezeichnet hätten, mit der flachen Nase und den breiten Gesichtsknochen. Doch wann immer ihm die schlanke Frau mit dem schwarzen Haar liebevoll zulächelte und ihm sanft wies, sich ihr gegenüber auf den weichen Moosboden der alten Hütte zu setzen, lauschte er gebannt und vergaß seinen Vater mitsamt der abendlichen Schläge und Flüche, was er die ganze Zeit über getrieben hätte.

„In den Vergessenen Tagen gab es zwei Mächte, die der Welt bis heute das Leben schenkten: Die liebliche Herrin des Tages und der kalte Fürst der Nacht. Ihnen waren zwei Diener Eigen, mithilfe derer sie ihr fruchtbares Werk vollbrachten, die du als Sonne und Mond kennst. Die Sonnenstrahlen waren die Arme, mit der die Herrin des Tages ihre geliebte Welt umschlang, um sie zu wärmen. Doch ihre Liebkosungen waren von so inniger Hitze, dass sie ihr Mündel verbrannt hätte, hätte sich der Fürst der Nacht nicht stets zwischen die Liebe gestellt, die er zutiefst verachtete, ehe ihre Zügellosigkeit einen Schaden anrichten konnte. Jedes Mal, wenn er sie von ihrem Schützling fortriss und jedes Mal, wenn sie ihn zurückforderte, kam es zu einem blutigen Ringen, das die Schwelle von Tag und Nacht rot färbte. Das Blut, das die beiden voneinander vergossen, versiegte im Himmel, von wo aus seine Macht zum Ursprung des Seins zurückfloss. So blühte und gedieh das Leben auf der Welt für viele, viele Jahre.“Die alten Worte lebten in seiner Erinnerung, als wären sie erst gestern gesprochen worden, aus einem Mund, dessen Atem nach stets frischer Minze roch. „Eines Tages jedoch war der Fürst der Nacht das ewige, aussichtslose Geringe mit der Herrin des Tages leid. Und so ersann er eine kühne List, um sie für alle Zeit von ihrem Mündel zu trennen: Anstatt die Sonne in blutigen Kämpfen vom Antlitz der Welt fern zu halten, befahl er seinem Diener, dem Mond, sich fortan zwischen sie zu stellen. Als Lohn dafür versprach er, ihm die Freiheit zu schenken, da er fürderhin keine Verwendung mehr für seine Dienste hätte. So tat der Mond, wie ihm geheißen ward, und kein Sonnenstrahl erreichte fortan mehr das Antlitz der Welt.“
Wie Dola es geliebt hatte, gerade an den finstersten Stellen ihrer Geschichten eine Pause zu machen, um ihm, neckisch lächelnd, einen Krug mit frisch gekochtem Tee zu füllen, was einen obendrein noch ungeduldiger machte, weil er viel zu heiß war, um getrunken zu werden. Bei dieser Geschichte aber hatte er sich täuschen lassen. Sie sollte noch finsterer werden.

„Die Herrin des Tages war entsetzt. Wann immer ihre Sonne versuchte, ihrer Verdeckung zu entweichen, folgte ihr der Mond und fing alle Sonnenstrahlen, die der Welt zugedacht waren. Als die Herrin des Tages das sah, beschloss sie, den nunmehr freien Mond ein für alle Mal von ihrem Schützling fortzujagen, denn ihre Macht größer war größer als die eines alten Dieners. Doch als sie diesen beinahe ergriffen hatte, fiel der Fürst der Nacht über sie her und es entbrannte ein Kampf, der entsetzlicher und blutiger tobte als jedweder vor ihm. Das Blut der Ringenden floss in größeren Strömen denn je, doch ehe es im Himmel versiegen konnte, nahm sich der Mond seiner an, da seine Hände nicht länger mit dem Strick seines Herrn gebunden waren, und färbte sein Antlitz rot.
Indes wuchsen Kälte und Tod auf der Welt. Die Wälder verdorrten ohne die Gunst der Sonne und die Wässer gefroren ohne ihre Wärme. Einige unter den ersten Bewohnern der Erde waren Drachen, große schuppige, geflügelte Räuber, die es liebten, ihre prächtigen Körper in Meeren und Seen zu reinigen. Als sie ihre Beute schwinden und das Wasser zu Eis erstarren sahen, waren auch sie ratlos. Da sprach der rote Mond zu ihnen:
,Ich bin der Erbe derer, die euch einst das Leben schenkten und es euch heute wieder nehmen, denn ich trage ihre Macht in meinem Antlitz. Wendet euch mir zu und eure Art soll niemals vergehen. Ihr Blut sei das Siegel eures Lebens. Seine Kraft, um die eure zu erhalten. Sein Strom, um eure Leiber und Seelen vom Makel ihrer Herrschaft zu reinigen. Kommt herbei und labt euch an der Macht, die ich euch biete!’
In dem Moment, da sich die Gierigsten, Zornigsten und Verzweifeltesten unter den Drachen gen Himmel erhoben, um dem Ruf des roten Mondes zu folgen, ward eine neue Macht aus ihm entstanden: Der Herr der Reinigung und des Blutes. Er war die Seele und der rote Mond der Körper, den sie befahl. Die Drachen, die sich ihm zugewandt hatten, zogen aus, um die anderen Bewohner der Erde seinem Willen zu unterwerfen. Sie befreiten Wesen, die von den Dienern anderer Mächte geknechtet worden waren, und führten sie zu ihrem eigenen Herrn.“
„Und doch scheint heute die Sonne wieder am Himmel“, hatte Alyndur bemerkt. „Was ist dann geschehen?“
„Als die Herrin des Tages und der Fürst der Nacht schließlich von ihrem Kampf aufblicken, erkannten beide, dass die Stärke der neuen Macht mit ihrer Schwäche gewachsen war. Sie überragte nunmehr die eines einzelnen von ihnen und war in Begriff sich alles anzueignen, was sie über Äonen erschaffen hatten. So vereinten sie ein einziges Mal die ihnen verbliebene Kraft und entrissen den Mond der Kontrolle des dritte Herrn und der Fürst der Nacht unterstellte ihn wieder seiner Dienstbarkeit. Doch die Geburt des Herrn der Reinigung und des Blutes konnte nicht ungeschehen gemacht werden und als um die Welt wieder der alte Lauf der Dinge zurückkehrte, bestand er fort, denn sein Wille ward ungebrochen. Und manchmal, wenn ihn Tag und Nacht in ihrem Streit vergessen, tritt er noch heute für kurze Zeit hervor und lebt für kurze Zeit seine einstige Herrschaft.“

Manchmal fragte er sich, was wohl aus Dola geworden war. Sein letzter Besuch war ein paar Tage vor dem Ausbruch jener Pest gewesen, die in Númar gewütet und seine Eltern gefordert hatte. Als er später die Spur seiner vom Wahnsinn ergriffenen Schwester im Wald verloren hatte, war er auf der Suche nach Hilfe zur Hütte der Kräuterkundigen geeilt... um sie verlassen vorzufinden.
Ein Schatten verdeckte das rote Mondlicht und ein Laut zeugte vom stetigen Schlagen schwerer Flügel. Windstöße bliesen Staub und kleine Steine über den Talgrund und zerwühlten sein Haar, als er den Drachen über sich gewahrte. Es war ein eindrucksvoller Anblick, als die mächtige Kreatur ihre großen Flügel bis zur Hälfte anzog und eine Elegante Kreislandung vollführte, bei der sie direkt vor Alyndur zum Stehen kam. Das Wesen bedachte ihn mit einem langen, erwartenden Blick. Vorsichtig streckte er eine Hand nach ihm aus und berührte die vom Mondlicht glänzenden Schuppen. Sie waren kalt, hart und glatt wie geschliffener Diamant. „Bist du hier, weshalb ich es hoffe?“
Der Drache antwortete nicht. Er erwiderte Alyndurs Blick, doch sein eigener verriet keine Emotionen. Er war weder Freund noch Feind. Ein Diener seines Herrn, der gehorchte. Nicht mehr und nicht weniger.

„So sei es. Genug gezaudert!“Alyndur nahm einen Anlauf und stieß sich mit Schwung auf den mächtigen Rücken. Er robbte sich ein Stück des Halses hoch, um seinen Sitz mit den Beinen zu sichern, schlang die Arme darum, soweit es ging und hielt sich mit jeder Hand an einer der leicht abstehenden Schuppen fest. Als das mächtige Geschöpf spürte, dass er bereit war, stieß es sich mit kleinen schnellen Flügelschlägen vom Boden ab und trug sie dann gemächlich in die Lüfte. Heute Nacht erlebte er etwas, wonach er jahrelang vergeblich geschmachtet hatte: Einen Blick von oben in das Tal, das ihn nicht länger gefangen hielt. Alyndurs Haar flatterte wild umher und die frische Luft der roten Nacht sog an seinem Körper. Es war der angenehme Sog der Freiheit. Wenn er den Mund öffnete, glaubte er, sie auf seiner Zunge zu schmecken. Ein Lachen ergriff ihn, als er an den Wänden seines ehemaligen Kerkers vorüberflog und stieg bald johlend in die Höhe, erfüllt von einer innigen Heiterkeit. „FREIHEIT!!“ Was würde er als erstes tun, wohin gehen, wenn er dieses Tal hinter sich gelassen hatte? Bevor er darüber nachdenken konnte, landete der Drache auf einem schmalen Felskamm, von wo aus man noch das Rauschen der Tiefe vernahm und deutete seinem Reiter, abzusteigen. Ehe Alyndur soviel wie ein Wort oder eine Geste des Dankes suchen konnte, erhob sich die Kreatur schon wieder über die Gipfel der Berge, hinter denen sie wenig später verschwand.
„Es ist noch nicht vorbei, aber heute werden wir es beenden. Ein für alle Mal.“
Blitzartig wandte er sich um und fand sich Angesicht zu Angesicht mit einem Mann, der ihm wohl bekannt war. Stark, wohlgestalten und zielbewusst stand er ihm gegenüber, als wäre kein Tag seit damals vergangen.
„Wotredh!“
Sein Gegenüber sah ihn mit Augen an, die keinen Gedanken verrieten. Es war jener Blick, auf den er sich im Leben so meisterhaft verstanden hatte, jener, der alles und nichts bedeuten konnte. Mit ihm hatte er viele Gegner in Kampf und Wort zu verunsichern gewusst, weil man nicht ahnen konnte, was er als nächstes plante. Auch diesmal verfehlte er seine Wirkung nicht.

„Ihr seid hier... um mir zu helfen?", fragte er dümmlich. „Heißt das, er hat mir verziehen?“
Wotredh schüttelte den Kopf, doch sein Gesicht blieb ausdruckslos.
„Er verzeiht niemandem. Weder dem Eidesbrecher noch dem Versager.“
Alyndur runzelte die Stirn und wich argwöhnisch einen Schritt zurück.
„Warum seid Ihr dann hier erscheinen?“
Er verzeiht niemanden“, wiederholte der andere neutral und folgte seinem Schritt. „Doch er ist gerecht. Ein Versagen wird auf ewig ein Versagen bleiben, ein Verrat ein Verrat. Aber so, wie es Taten, die den Wert eines Menschen schmälern, aber auch solche, die ihn erheben“, versprach Wotredh und streckte ihm die Hand entgegen. „Darum bin ich hier: um dich auf das Nötige vorzubereiten. So wie ich es einst tat.“
„Wartet...“, bat Alyndur. Gedanken tanzten um ihn herum und waren schwer zu erfassen. „Dies ist eine seltsame Nacht. Ich kann nur erahnen, was hier vor sich geht, doch muss ich mir dessen sicher sein, um eine Entscheidung zu fällen.“ Konnte das alles etwas mit Dolas Geschichte zu tun haben? Vielleicht, doch ihm fehlte die Muße, darüber nachzusinnen, denn
Wotredh warf einen besorgten Blick auf den roten Mond.
„Uns bleibt nicht viel Zeit. Wenn die Sonne obsiegt, ehe das Nötige vollbracht ist, dann wird dein Aufstieg umsonst gewesen sein. Du musst mir vertrauen, damit wir jetzt handeln können!“
„Wie soll ich jemandem vertrauen, wenn ich nicht weiß, ob ich mir selbst trauen kann?“, beharrte Alyndur. Die Heiterkeit, die er während des Fluges verspürt hatte, war einem Gefühl wachsenden Zwiespalts gewichen. „Wenn Ihr irgendein Wissen habt, dann teilt es mit mir! Die Krankheit zu kennen, die einen zerstört, ist der erste Schritt, um sich selbst zu heilen. Teilt Euer Wissen mit mir, wenn Ihr mehr seid als nur ein Diener Eures Herrn.“
„Also gut“, seufzte Wotredh, doch in seinen eben noch souveränen Blick drängte sich etwas, das der Furcht gefährlich nahe kam. „Die Krankheit, von der du sprichst, sie will dich nicht zerstören, zumindest nicht gänzlich. Sie will deinen Willen beugen und deine Seele knechten. Man könnte es einen Fluch nennen, der schon sehr lange auf dir lastet. Er legt seinen Schatten über dein Leben und lenkt dich in deinem Denken und Handeln. Seine wichtigste Waffe ist die Gerissenheit, dich seinen Willen kaum von deinem eigenen unterscheiden zu lassen, bis sie sich wirklich nicht mehr unterscheiden. Er ist seinem Ziel schon sehr nahe gekommen.“
Plötzlich dämmerte es Alyndur.
„Die Gruppe“ , erkannte er. „Ich hatte nie einen Grund, mich ihr anzuschließen. Zumal ich nicht einmal ahnte, welche Ziele sie verfolgt. Selbst, wenn, Warum habe ich zuvor so viele Jahre in den Wäldern verstreichen lassen, anstatt ein Leben zwischen meinesgleichen zu suchen? Ein erfülltes Leben. Die Feinde von einst waren tot, es hätte nichts mehr zu fürchten gegeben.“ Es bestürzte ihn mehr, als er sagen konnte. „Und Ihr… hättet damals nicht sterben müssen.“ Er musste den Wahnsinn hier und heute beenden, um nach so langer Zeit endlich wieder seiner eigenen Wege gehen zu können.
Wotredh nickte.
„Der Ort, den du bereist, beherrscht sich selbst und wehrt sich gegen den Einfluss anderer Mächte, die an ihm wirken wollen. Er gestattet es dir in dieser Nacht, den fremden Willen zu erahnen und zu hinterfragen. Die Gunst des roten Mondes hinzugenommen, könnte reichen, um den Bann zu brechen. Wir müssen die Kraft dieser Stunde nutzen, ehe sie vorüber ist. Rasch!“
Gerne hätte Alyndur ihm geglaubt. Gerne hätte er auf die Hand seines alten Freundes eingeschlagen und sich seiner Pein ein für alle Mal entledigt. Doch etwas in ihm schien noch nicht reif dafür. Etwas ließ ihn zweifeln. Er sah die Ungeduld in Wotredhs in panische Angst umschlagen, doch es musste gesagt werden. Nach dem, was geschehen war, musste er es unzweifelhaft wissen, sollte er den Absichten dieses Mannes wieder vertrauen können.
„So hat er mir nicht verziehen... doch bei all Eurer Hingabe bewahrtet Ihr stets einen eigenen Willen. Ich frage mich...“ Die Worte auszusprechen, war schwerer, als ein Dutzend Feinde zu beschäftigen und forderte ebensoviel Zeit. Entscheidende Zeit. „Konntet Ihr im Schattenreich lernen, was Eurem Herrn fremd ist?“
Er sollte es nie erfahren. Grelle Sonnenstrahlen blendeten ihn und ließen ihn rückwärts taumeln. Vor sich spürte er Wotredhs Macht schwinden und seine Präsenz schwächer werden, bis seine letzten Worte nicht mehr als ein Raunen des Windes waren. „Du ... allein… Wenn dein Wille... verloren.“
Alyndur stolperte weiter nach hinten, suchte Halt und trat ins Leere. Die kahlen Felswände äfften seinen Schrei nach, als er im süßen Morgenlicht an ihnen vorüberrauschte. Es war das Lachen derer, die zu letzt lachten. Unaufhaltsam raste er auf den verhassten Grund zu, doch er würde nicht sterben, denn der Seelenzwang war für die Ewigkeit.
Zuweilen, wenn es ihren Zwecken diente, enthüllten die Mächte des Schattens Wahrheiten.


~ Arnur ~

Er hielt Xanthis das aufgerollte Papier vor die Augen, grinste über den Scherz und legte es wieder auf das zernarbte Holzpult zwischen ihnen.
„Der Rat der Vier wird einberufen.“ Von alt her hielt der Hochmeister eines Ordens eine Versammlung mit seinen drei Heerführern ab, wenn es über schwerwiegende Angelegenheiten zu beraten galt, in Kriegszeiten gewöhnlich öfter als im Frieden. „Der letzte Rat fand vor Jahren statt, als beschlossen wurde, die Regentschaft des Ordens des Lichts nicht zu unterstützen. Was glaubt Ihr, wird diesmal der Grund sein?“
„Sir Reckart ist alt und hat noch keinen Nachfolger bestimmt. Vielleicht beabsichtigt er, seine Heerführer ein letztes Mal zu prüfen, ehe er seine Wahl trifft.“
„Mag sein“, grübelte Arnur. „Aber es muss doch einen Anlass geben. Der alte Wolf wird uns schwerlich vor seinen Thron beordern, um uns dort Modell laufen zu lassen. Wenn es so ist, wie Ihr meint, dann muss es etwas Entscheidendes geben, an dem er uns prüfen wird.“
„Dann wird ein Blick für das, was Reckart sehen will, deine beste Waffe sein. Mehr noch als dein eigenes Urteil.“ Das entlockte Arnur ein höhnisches Lachen. „Ein Blick sagt Ihr? Man sagt, ein Blinder versteht so viel vom Sehen wie ein Wurm vom Fliegen.“
Es war so leicht, den alten Mann aus der Ruhe zu locken, wenn man ihn nur mit seinen verstümmelten Augen reizte. Das hatten er und sein Bruder Amar, als sie noch Kinder waren, schnell herausgefunden. Vater war seinem Alter erlegen, Mutter im Exil und der selbst damals schon betagte blinde Seher war in die Pflicht gekommen, sie im Sinne des Ordens zu erziehen. Einmal, als er erfuhr, dass Arnur und Amar sich einen Spaß daraus gemacht hatten, von der Burgmauer Steine ins Tal zu werfen, wo die Straße verlief, schimpfte er, als hätten sie ihm irgendeinen bitterbösen Streich gespielt - das erst brachte sie auf die Idee. Graufels war ohnehin ein trostloser Ort für Kinder gewesen und als ihnen der Alte noch das Wenige missgönnte, was ihnen so etwas wie Freude bereitete, hatte er bei ihnen verspielt.
„Ich sehe was, was du nicht siehst!“, war es aus Amar herausgeplatzt und Xanthis’ Gesichtszüge hatten sich vor Wut verzerrt, als er immer in die Richtungen stürmte, aus der er sie lachen hörte. Schließlich war er über einen Stuhl gestolpert, den er freilich nicht gesehen hatte, und durch den Dreck gegen eines seiner eng bestückten Bücherregale gerollt, das ihn mitsamt seines Inhalts unter sich begrub, während sich die beiden Brüder in den Armen lagen und sich mit Strömen von Lachtränen benässten.
Das alles war vor zwei Dekaden geschehen, bevor Amar in Kahlar’tha sein frühes Grab finden sollte. Er fragte sich, wie Xanthis wohl über den Tod seines Bruders dachte und fühlte. Begrüßte er das Ableben eines der beiden Männer, die ihn als Kinder gepeinigt hatten? Die Vorstellung verhärtete sein Herz gegenüber dem Seher.
„Ohne meine Augen gewahre ich Dinge, die sich den Sehenden leicht verbergen. Oder wie willst du dir erklären, dass man mich trotzdem einen Seher nennt?“
„Eben darum habe ich Euch aufgesucht, alter Mann. Ich hatte zu hoffen gewagt, Ihr könntet hinter die Kulissen dessen blicken, was dieser Tage im Reich geschieht und mir so in meiner gelobten Pflicht helfen, San’Guis so gut es geht zu dienen. Doch alles, was Ihr mir bietet, sind Ratschläge, wider die Ehre zu handeln. Ich sollte nach dem Vorzug eines anderen handeln und mein eigenes Urteil und mein Gewissen verwerfen, ist es nicht das, wozu Ihr mir ratet?“
„Nur für die Zeit, die es dauert, bis kein anderer mehr zwischen dir und San’Guis steht. Dann wirst du ihm mit deinem eigenen Urteil und deinem Gewissen größere Dienste erweisen als jetzt.“
„Das stünde einem Weymar, einem Corvulus vielleicht...“ Arnur schlug mit der flachen Hand auf das alte Pult, fing sich einen Splitter und fluchte. „Doch keinem Adonor!“
„Ich kannte deinen Onkel“, widersprach Xanthis bestimmt. „Wotredh hätte so gehandelt, wie ich es dir rate.“
„In einem habt Ihr Recht“, räumte Arnur ein. „Es gibt einen Moment, da Würmer das Fliegen lernen. Es ist der letzte Augenblick ihres Lebens, wenn sie sich im Schnabel eines Vogels in die Lüfte erheben. Wenn Euer Augenlicht jemals zurückkehren sollte und Ihr anfangt, mir bessere Ratschläge zu geben, werde ich es als Anzeichen dafür nehmen, dass ich Euch nicht mehr lange ertragen muss.“ Er nahm das Papier vom Tisch und rollte es wieder zusammen. „Besser, ich mache mich noch heute nach Nordend auf, ehe der Verdacht entsteht, ich wäre Einsiedler geworden, weil ich so viel Zeit in den Mauern meiner Burg verbringe“, verkündete er sarkastisch. Tatsächlich war er der Reise nach Nordend gar nicht so abgeneigt, denn das würde eine gute Möglichkeit sein, nach
ihr zu sehen, ohne viel Aufsehen zu erregen.
Er verabschiedete sich von Xanthis mit einem strafenden Blick, doch als er die Hand auf die Türklinke legte, stellte sich ihm eine Frage. Warum kam ihm der Gedanke erst jetzt? Es war einfach immer so selbstverständlich gewesen wie die Tatsache, dass die Mäntel der Ritter in Graufels rot waren und die Mauern rau und kalt.

„Noch ein Wort, Xanthis. Man sagt, dass Ihr nicht immer so wart wie heute und damals, als wir uns kennen lernten. Wie trug es sich zu, dass Ihr blind wurdet?“
Xanthis schwieg. Sein Gesicht wirkte wie eine Totenmaske, nur entsetzlicher, weil man dort Leben erwartet hätte.

„Sprecht! Euer Fürst befiehlt es. Was war es, das Euch die Kraft Eurer Augen nahm?“
„Ein Opfer“, sagte der Alte kühl und wandte sich ab.
 
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Darghand

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Zum wiederholten Male änderte Ulbrun seine Position auf Anjuks Rücken, doch inzwischen linderte dies die Schmerzen kaum noch. Seit Tagen saß er den ganzen Tag über, entweder auf dem Rücken seines Steinspringers oder inmitten der aufgetürmten Gepäckstücken, die die unermüdlichen Mammuts trugen. Ulbruns Hintern war wundgeritten, und die Paste aus Hirschtalg und diversen Kräutern, die Tofleif an viele der Nordleute verteilte, brachte nur allmählich eine gewisse Heilung. Er fühlte sich so alt wie nie zuvor. Nocheinmal rutschte der Alte ein wenig umher, fand eine Stelle, die weniger schmerzte, und fühlte sich nun endlich bereit, dem halben Ivulo ein paar Antworten zu geben.
"Dieses Land schläft" begann er. "Schon seit ungezählten Wintern. Die Geister dieser Wildnis schlafen ebenfalls, sie herrschen über kein Leben mehr, sondern nur noch über den ewigen Stillstand. Sieh dich um... in den Ebenen wächst nichts, und es vergeht auch nichts mehr. Die Geister sehnen sich verzweifelt nach einem neuen Frühling. Sie verachten alles, was mehr Leben in sich trägt als diese Lande. Auf die ein oder andere Weise keimt ihre Verzweiflung in allen, die dieses Land betreten."
"Wer... wer hat sie denn verflucht? Also, die Eben, meine ich?" Bisus Neugier kannte wie üblich keine Grenzen.
"Niemand weiß das. Es gibt Geheimnisse, die für immer vergessen werden. In meinem Volk gibt es keine Legende darüber, wie die Ebenen entstanden. Vermutlich, als das Reich unterging, das die Wegeswächter gebaut hatte. Es heißt, das heutige Aschkh steht auf den Ruinen eines älteren Reichs, aber darüber weiß ich nichts."
Ulbrun lächelte bekümmert.
"Ich weiß nur, was mir die Geister flüstern. Aber einen Rat kann ich euch geben: vergesst, wo ihr seid. Denkt an andere Orte, und an diejenigen, die ihr in euern Herzen tragt. Dann..."
Ein zweistimmiges Lachen durchschnitt die Stille um sie herum. Als Ulbrun den Mammutbullen hinaufsah, der neben ihnen herstapfte, erkannte er seine Schwester. Freja strampelte mit den Füßen in der Luft herum, während Thorreid sie am Kragen ihres Wamses gepackt hielt, damit sie nicht vollends hinunterstürzte. Schließlich gelang es ihm, sie zurück auf den Nacken des Mammuts zu ziehen. Freja rückte mit puterrotem Gesicht ihre Kleidung zurück und begann zeternd mit Thorreid zu schimpfen, aber es war leicht herauszuhören, dass sie es nicht ernst meinte.
'Wahrlich, Schwesterchen, du hast einen Weg gefunden, dich dem Griff der Ebenen zu entwinden', dachte sich der Alte, behielt es aber für sich.
"Nun, wie dem auch sei... haltet euch an meinen Rat. Dem kalten Griff dieser Lande kann man nur in Gedanken entfliehen. Schickt euren Geist auf Reisen."
 

Anora

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Den Rest des Tages verbrachte Anora damit, die Abgeschiedenheit von den anderen zu suchen und darauf zu hoffen, dass die Nacht bald hereinbräche. Hin und wieder beobachtete sie das Geplänkel von Ulbruns Schwester Freya und einem der Nordmannen und verzog verdrossen das Gesicht. Während jeder andere von ihnen mit jedem Tag, den sie in diesen verfluchten Ebenen verbrachten, um ein Jahr zu altern schien, ging dieser Effekt an Freya und ihrem Gefährten scheinbar spurlos vorüber. Im Gegenteil, die resolute Frau aus dem Norden wirkte jünger denn je.
‚Aber, aber… Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf ihr spätes Glück, oder?’, meldete sich Echils Stimme mit unverhohlenem Spott zu Wort, als Anora den beiden wieder einmal bei ihrem Geplänkel zusah.
‚Nein, bestimmt nicht!’ Die Elfe schüttelte ihren Kopf und schenkte Freya und dem Nordmann einen letzten, finsteren Blick. ‚Ich frage mich nur, wie es sein kann, dass sie so glücklich sind… Hier, an diesem Ort.’
‚Tja, das wüsstest du wohl gerne, nicht wahr? Aber ich gebe dir einen gut gemeinten, brüderlichen Rat: Zerbrich dir nicht länger dein hübsches Köpfchen darüber, denn das ist etwas, das du niemals verstehen wirst. Was weißt du schon von Liebe?’
In der Tat war ihr, wie den meisten Elfen, diese bedingungslose und leidenschaftliche Liebe, zu der die kurzlebigen Menschen fähig waren, bisher ein Rätsel geblieben. Die meisten ihres Volkes kamen nie hinter dieses Geheimnis und den wenigsten war es möglich ähnliche Gefühle zu empfinden. Die recht seltenen festen sowie dauerhaften Partnerschaften zwischen Angehörigen ihrer Rasse waren verglichen zu denen der Menschen eher kühl und nicht so leidenschaftlich. Manche sagten jedoch, die elfische Liebe sei nicht weniger tief, denn sie wurde getragen von einem Vertrauen, das die meisten Menschen in ihrer kurzen Lebensspanne nicht erreichen konnten.
Für Anora war das einerlei. Sie war nicht der Typ, der das Glück in einer Partnerschaft suchte. Nicht, dass sie nie einen Gefährten gehabt hätte – Es hatte einige gegeben, doch sie alle waren nur von kurzer Dauer und mehr aus momentanem denn aus langfristigem Interesse gewesen. Ihr Streben nach Ungebundenheit und Freiheit war immer schon stärker gewesen als das Bedürfnis nach Nähe und Vertrautheit.

‚Wirklich immer?’, fragte Echil mit übertriebener Überraschung in der Stimme.
‚Seit sehr langer Zeit.’, antwortete sie.
Dann spuckte sie neben sich auf die Erde und verdrängte alle Gedanken an derlei Dinge.

Als sie nach Einbruch der Dämmerung ihr Lager aufgeschlagen und die meisten sich bereits zur Ruhe gelegt hatten, ließ Anora sich an ihrem Schlafplatz, der etwas abseits lag, nieder und kramte nach der Flasche mit dem Fusel, die sie heute erworben hatte. Als sie sie in den Händen hielt, verharrte sie einen Moment lang in dieser Position. Zweifelnd verzog sie das Gesicht. Für gewöhnlich hatte sie keine allzu hohe Meinung von jenen, die ihre Sorgen im Alkohol zu ertränken versuchten. Und nun war sie kurz davor, selbiges zu tun?

‚Aber nur ein paar Schluck, um den Kopf frei zu bekommen. Das ist nicht das Gleiche!’, entschuldigte sie sich vor sich selbst, und hoffte, dass diese schwache Ausrede genügen würde. Schulternzuckend öffnete sie die Flasche. Dies waren harte Zeiten, und diese verlangten ungewöhnliche Maßnahmen, die sonst nicht ihre Art waren. Sie brauchte Ruhe, und um diese zu bekommen war sie inzwischen sehr vieles zu tun bereit.

Stille.
Diese unglaubliche, allumfassende Stille.
Anora genoss diese lang ersehnte, angenehme Stille wie andere ein erfrischendes Bad in einem kühlen See. Um sie herum war Dunkelheit, und auch diese empfand sie als äußerst wohltuend. Hier war sie ganz mit sich allein, ohne ihre Weggefährten, ohne die Karawane, ohne die… Stimmen. Hier war sie endlich nur sie selbst. Es war ein gutes Gefühl, und auch – oder vielleicht gerade weil – sie wusste, dass es nicht lange anhalten würde, war jeder Augenblick in dieser herrlichen Einsamkeit wie ein großes Geschenk. Zum ersten mal seit langer Zeit breitete sich ein glückliches Lächeln über ihren erschöpften Zügen aus.

„Wie lange willst du hier bleiben, Anora?“
Nein, das konnte nicht sein, das durfte einfach nicht sein! Sie hatte die Stimmen hinter sich gelassen, hatte so viel von dem brennenden Gebräu getrunken, bis sie sich sicher gewesen war, dass sie zurückbleiben würden. Doch als sie sich in ihrer schützenden Dunkelheit umdrehte, wusste sie, dass es diesmal anders war. Alles war anders.
Er stand direkt vor ihr, gerade eine Armlänge von ihr entfernt. Sie hätte ihn problemlos berühren können. Er sah so aus, wie sie ihn als letztes in Erinnerung hatte. Seine fein bestickte, dunkelgrüne Robe wand sich elegant um seinen schlanken, aufrechten Körper, sein langes, blondes Haar war locker in seinem Nacken zusammengebunden, und seine grünen Augen… Seine Augen durchdrangen sie wie Pfeile, lasen in ihr wie in einem offenen Buch. Sie fühlte sich unter ihrem Blick nackt und schutzlos, und dennoch strömte eine seltsame Wärme durch ihren Körper. Es waren diese Augen, die sie nie hatte vergessen können. Sie waren so berechnend, so gefühlskalt… Und dennoch waren es die Augen ihres Vaters. Ein Teil von ihr hatte sich immer nach seiner Anerkennung, seiner Zuneigung gesehnt, auch dann noch, als er längst tot zu ihren Füßen lag und die Wärme bereits aus seinem Körper wich. Sie hatte ihre Tat nie bereut, und doch war mit diesem Mann ein Teil von ihr selbst aus dieser Welt gegangen.

„Wie lange willst du hier noch bleiben?“, wiederholte Elmay’rath seine anfängliche Frage.
„Ich… Was willst du hier?“
„Hier? Das ist dein Ort, deine Zuflucht, dein Schutz… Es ist deiner nicht würdig, dich an einem solchen Platz vor der Wirklichkeit zu verkriechen. Und das weißt du. Deshalb bin ich hier.“
„Pah, und was erwartest du von mir? Dass ich zurückkehre in diese trostlose Welt und mich dem Wahnsinn ergebe?“
„Ich will, dass du endlich zu dir selbst zurück findest, Anora. Wann hörst du endlich damit auf, dir Tag für Tag etwas vorzumachen, dir einzureden, du wärst jemand anderes, dich so zu quälen, wie du es tust… Diese Ebenen, durch die du ziehst, sie sind ein guter und zugleich schrecklicher Ort. Sie kehren dein Innerstes nach Außen, und nur wenn du mit dir selbst im Reinen bist wirst du deine Ruhe finden. Das alles hier…“ Er zeigte mit einer weit ausholenden Geste um sich. „…entsteht aus deinen Zweifeln. Und wie sehr du zweifelst!“
„Ich habe keine Zweifel. In einer Sache bin ich mir sogar sehr sicher: Du bist nichts weiter als ein Lügner, ein Täuscher und ein Manipulierer. Deine Worte sind nichts als Gift…“
„Ist das so? Dann denk noch einmal genau darüber nach. Seit Tagen sind es deine Zweifel, die dich quälen, die dich in den Wahnsinn treiben. Aus ihnen entstand deine Rastlosigkeit, dann deine Unbeherrschtheit und schließlich brachten sie die Stimmen in deinem Kopf hervor. Du zweifelst an deinen Gefährten, an deiner Mission, und letztendlich vor allem an dir selbst. Weil du weißt, dass es nicht RICHTIG ist.“
„Das ist nicht wahr! Ich habe ein Ziel vor Augen, und ich weiß, dass es RICHTIG ist!“
„Du verfolgst den Plan, deinen so genannten Freunden in Elyndorr zu helfen, weil du glaubst, dies wäre deine Pflicht als guter Freund. Doch in Wirklichkeit fühlst du dich dazu gezwungen, sie aus der Feste zu befreien, weil du glaubst, in ihrer Schuld zu stehen, da sie es waren, die dir einst geholfen haben. Und dieses Schuldbewusstsein ist dir so lästig…“
„Das stimmt nicht!“
„Oh doch, es stimmt. Wie oft wünscht du dir, sie wären nicht dort gefangen… Doch ist es wirklich ihretwegen, dass du dir das wünschst, oder weil es dir zuwider ist, dass du dich ihnen verpflichtet fühlst? Diese ganze Reise ist dir lästig, denn sie anzutreten war niemals dein freier Entschluss. Das muss so nicht sein. Du bist zu Großem fähig, Anora, und als meine Tochter liegt viel Macht in dir.“
„Ich bin nicht wie du!“
„Nein, das bist du nicht, aber du bist ein Teil von mir, so wie ich ein Teil von dir bin. Warum wehrst du dich dagegen? Du bist was du bist, und weder du noch irgendein anderer wird jemals etwas daran ändern. Solange du dich jedoch nicht selbst annehmen wirst, wirst du niemals mehr sein als eines von vielen Kindern, die ich gezeugt habe. Ein kleiner Schatten, mehr nicht. Doch in dir schlummert mehr. Erkenne dich selbst! Nimm es an, nimm mein Erbe an, und sei dir sicher, dass du meinen Stolz in dir tragen wirst. Ist es nicht das, was du immer wolltest?“
Anora zögerte. Elmay’rath hatte hier einen Punkt getroffen, dessen Wahrheit sie nicht abstreiten konnte.
„Ich… Aber ich dachte… Echil…“
„Dein Halbbruder war stets mein bester Schüler und auch er trägt großes Potential in sich. Doch sein Weg hat sich von seinem Ursprung entfernt, er folgt seiner eigenen Laune. Er hat nicht das Feuer geerbt, das in mir brannte. Du dagegen schon.“
„Ich bin kein Magier oder Forscher wie du oder Echil…“
„Das ist nicht wichtig. Wichtig ist nicht, was du bist, sondern wie du bist, das ist entscheidend. Aber du unterdrückst dein wahres Selbst. Dabei ist es so einfach! Alles, was du tun musst, ist es geschehen zu lassen. Lass es zu. Willst du das?“
Wieder zögerte sie. So gerne hätte sie die Frage bejaht – Es schien so leicht. Ihr ganzes Leben kam ihr nun belanglos vor, verglichen zu diesem Augenblick, in dem ihr ungeahnte Größen dargeboten wurden. Sie dachte nicht mehr an ihre Freunde, sie dachte nicht mehr an ihre Gefährten. Sie dachte nur noch daran, dass es ihr möglich war, ihren ältesten Traum zu erfüllen, und endlich den Stolz, die Anerkennung und die Zuneigung ihres Vaters erlangen zu können. Das war es doch, das sie immer gewollt hatte? Doch etwas hielt sie noch zurück.
„Ich habe dich nach dem, was du mir angetan hast, gehasst. Ich habe dich verraten und getötet.“
Es folgte ein Moment des Schweigens. Dann aber geschah etwas äußerst merkwürdiges: Elmay’rath lächelte. Es war das erste mal, dass sie ihn so sah. Als sie ihn kennengelernt hatte, hatte er öfters gelächelt, aber es war nie so gewesen wie in diesem Augenblick. Seine Augen hatten das Lächeln nie geteilt. Jetzt aber strahlten sie eine Wärme aus, die sich in Anoras Körper fortsetzte.
„Ich verzeihe dir.“
Es waren drei einfache Worte, doch sie setzten etwas in Anora frei, das sie nicht in Worte zu fassen vermochte.
Lächelnd streckte er ihr seine Hand entgegen. Als sie sie ergriff, durchfuhr sie ein Gefühl von Glück und Geborgenheit, wie sie es noch nie gekannt hatte. In diesem Moment wurde sein Wille zu ihrem Willen. Sie wurden eins.

„Es kam alles so, wie es kommen musste. Es hat dich hierher geführt. Zu mir. Es ist gut.“
Nun erlosch sein Lächeln, und er sah sie statt dessen erwartungsvoll an.
„Willst du mein Erbe annehmen?“
‚Nimm es an!’, sagte die Stimme ihres Bruders.
‚Nimm es an!’, sagte die Stimme ihrer Mutter.
‚Nimm es an!’, sagte die Stimme ihres Vaters.
‚Nimm es an!’, sagte ihre eigene Stimme
Und sie nahm es an.
Und um sie herum wurde es kalt.

„Gut.“, sagte ihr Vater. „Das erste, was du tun musst, ist dich von deinen elenden Fesseln zu befreien, die deine Seele gefangen halten. Befreie dich von dem, was dir lästig ist. Befreie doch von deinen Gefährten!“

Ihr war ein wenig schwindelig zumute, als sie aufstand, doch als sie mit der Rechten den Griff ihres Langschwertes ertastete, wurden ihre Gedanken klar. Sie hatte nun nur noch ein Ziel vor Augen. Ein leises Surren erklang, als sie das Schwert zog. Lautlos schlich sie auf eine der reglos am Boden liegenden Gestalten zu. Sie waren tatsächlich mehr Last als Nutzen für sie, und es wurde Zeit, dass sie sich ihrer entledigte und ihre Freiheit wiedererlangte. Es wurde Zeit, all das zu beenden. Elmay’rath forderte es so. Es war gut. Sie hob das Schwert über ihren Kopf. Die schwere Klinge in ihren Händen fühlte sich RICHTIG an. Mit einem feinen Zischen durchschnitt sie die Luft, als sie kraftvoll hernieder gerissen wurde.
In diesem Moment erkannte Anora, was sie tat.
Mit einer harten Bewegung, die ihr in den Schultern schmerzte, lenkte sie die Klinge im letzten Moment von dem Schlafenden ab und ließ sie los, so dass das Schwert, ihre Eisklinge, in einem großen Bogen einige Meter weit flog, bevor es sich mit der Spitze voran in den dörren Boden versenkte.
Erschrocken wich die Elfe ein paar Schritte zurück. Was zur Hölle machte sie hier? Und was war nur in sie gefahren? Sie kannte die Antwort.
Angewidert starrte sie auf ihre Hände hinab, die gerade beinahe das Leben von einem ihrer Gefährten – Ihrer Freunde! – ausgelöscht hätten. Sie konnte noch nicht einmal sagen, wem die Attacke gegolten hatte, und sie wollte es eigentlich auch gar nicht wissen.
Noch ehe sie sich selbst so recht im Klaren darüber war, hatte sie umgedreht und war zu ihrem Lager zurückgeeilt, hatte sich in aller Hast ihr Zaumzeug gepackt und war zu Aerlynn gelaufen.
Bereits einen Moment später saß sie auf dem ungesattelten Rücken der Stute und trieb diese in gestrecktem Galopp weg vom Lager, weg von den anderen. An Ausrüstung hatte sie nur das bei sich, was sie am Körper trug, und das war wenig genug. Aber das war nicht wichtig. Das einzige, das nun zählte, war, ihre Gefährten vor ihr zu schützen. Vor ihrem wahren Selbst.
Und so wurde sie von der Dunkelheit verschluckt.
 

Darghand

Einer von vielen
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Ungesehen, geschützt von Nebel und Dunkelheit, schlich eine Gestalt durch das Lager. Mit schlafwandlerischer Sicherheit huschte sie gebückt von einem Schatten zum nächsten und verschwand immer wieder rasch hinter niedrigem Buschwerk und herumliegenden Gepäckstücken. Nie zögerte sie auch nur einen Moment lang, sondern schien den Weg schon längst zu wissen. Endlich griff ihre knochige Hand griff nach dem Ding, das hier vor einigen Herzschlägen im Heidekraut gelandet war, und deren Besitzerin nun auf ihrem Pferd davoneilte. Das Getrappel der Hufe verlor sich bereits zwischen den Nebelschwaden.
Neugierig befühlte die Gestalt die Klinge und schwang sie einmal kurz zischend durch die kühle Nachtluft. Die Waffe war leicht und so gut ausbalanciert, dass sie sich wie eine ganz natürliche Verlängerung des Armes anfühlte. Ein leichtes, kaltes Prickeln durchströmte die Hand der Gestalt - vermutlich lag ein Zauber auf der Klinge.
Schnell und ohne Hast wickelte sie das Schwert in einen dreckigen Lumpen. Das Bündel mit beiden Händen fest umschließend begab sich die Gestalt auf den Rückweg; wieder floss sie von einem tiefschwarzen Schatten zum nächsten. Bald schon würde diese Klinge ihre Bestimmung erfüllen, besser, als es jedes andere Schwert würde tun können. Es war nur noch eine Frage der Zeit und des richtigen Augenblicks...
 

Alyndur

Zwielichtiger
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Die Flammen leckten gierig an dem dunklen Haar und verschlangen es binnen Sekunden, als wäre es Stroh. Noch ein Schnitt und eine neue Strähne glitt ins Feuer, bis auch sie unter strengem Geruch zu feinster Asche zerschmolz. Alyndur beugte sich, so gut es ging, über den kleinen Spiegel, den ihm der Zwerg geliehen hatte, als er sich das Jagdmesser übers Haupt zog. Nori saß ihm schweigend gegenüber und verfolgte sein Tun mit fragenden Augen, die keine Antwort bekamen. Der schwierigste Teil war der Hinterkopf gewesen, wo Alyndur sein Haar trotz des Spiegels lediglich ertasten konnte. Ein paar Mal hatte er sich verschnitten und die kleine Klinge hatte blutige Andenken auf seiner Nackenhaut hinterlassen. Der Vorderteil war vergleichsweise einfach und schließlich reichte das Haar nur noch bis zur Stirn und sonst bis zum Halsbeginn und zu den Ohren, wo es vorher schwer auf den Schultern gelastet hatte. Alyndur wischte sich das Blut aus dem Nacken und prüfte sein neues Antlitz. Fast wie früher, stellte etwas in ihm zufrieden fest, als er sich im Spiegel besah. Es war die Sehnsucht nach etwas Verlorenem, die ihn hierzu getrieben hatte, und obgleich er es dadurch noch nicht wiedergewann, fühlte er sich ihm so näher.
Der Abend wandte sich zur Nacht und es war an der Zeit für die erste Wache. Alyndur erhob sich von seinem Lager, entzündete eine Fackel, nickte Nori zu und überließ ihm das muffige Feuer. Die Nordleute waren selbst mit ihren Holzvorräten zu sparsam, um einem Fremdling wie ihm ein paar Scheite für ein eigenes Feuerchen zu überlassen, doch in der Nähe des Lagerplatzes hatte er das Skelett eines uralten Baumes entdeckt. Stamm und Äste waren längst tot gewesen und doch wollten sie sich nicht brechen lassen, wie man es bei über Jahren totem Holz erwartet hätte. Schließlich hatte er sich für eine Axt an den Zwerg gewandt, um dem schwarzen Gehölz genug Materie für ein Lagerfeuer abzugewinnen und es im Gegenzug mit ihm geteilt. Die Flammen wärmten allerdings kaum, der Rauch war so schwarz wie das Holz selbst und erinnerte mit seinem Gestank unangenehm nahe an verwesendes Fleisch. Nicht zuletzt deshalb sahen sie davon ab, etwas Essbares über dem Feuer zuzubereiten. Um was für einen Baum es sich einst gehandelt haben mochte? Weder die faule Rinde noch der ekelerregende Dunst gaben Aufschluss darüber. Alyndur hatte versucht, sein Alter zu bestimmen, doch die Ringe im Holz waren zu winzig und zu undeutlich, als dass man sie als einzelne hätte erkennen können. Der Waldläufer vermutete mehrere hundert, wenn nicht gar tausende. Selbst in diesem Zustand... oder gerade so verriet der tote Baum alles Wesentliche, was es über die Ebenen des Schweigens, in denen er einst gediehen war, zu wissen gab.
Alyndur verrichtete seine Wache eher schlecht als recht. Noch plagten ihn die schmerzvollen Nachahnungen von einem Traum, den er letzte Nacht geträumt haben musste, der ihm beim Erwachen jedoch entglitten war. Für gewöhnlich gab er nicht viel um die Gespinste seines Bewusstseins bei Nacht, doch dieser Traum war anders gewesen... auf eine gewisse Art
wichtig. So sehr er sich auch mühte, konnte er sich allmählich nicht mehr gegen die schleichende Erkenntnis wehren, dass beim heutigen Erwachen mehr für ihn verloren gegangen war als nur ein Traum.
Schließlich war es an Anora, die Nachtwache zu übernehmen, also marschierte er zu ihrem Lager... und fand es leer auf. Ihre Stute war ebenfalls fort, doch als Alyndur die Fackel dort über den Boden hielt, wo er die Elfe ihr Pferd hatte anbinden sehen, zeigte sich ihm eine Spur. Deutliche Abdrücke folgten einander in großem Abstand, als hätte ein Pferd seine Hufe in schwerem Galopp in den sandigen Boden geschlagen. Nach einem dutzend Meter verlor sich die Spur im Nebel. Alyndur wusste es besser, als ihr zu folgen. Er eilte dorthin zurück, wo sich Anora zur Nacht eingerichtet hatte und fand ihre Ausrüstung in einem großen Bündel verschnürt neben ihrer Schlafstätte... die verbliebenen Gefährten hätten von ihm erwartet, sie augenblicklich zu wecken, doch er dachte nicht daran, das Wissen und mit ihm die Macht des Augenblicks ungenutzt aus den Händen zu geben.


~ Baldur ~


„Genug!“, rief Sir Tendor gelangweilt. „Ihr sollt nicht an Euren Kratzern verrecken, sodass statt Euch bessere Krieger morgen auf dem Weg nach Nordend abgestochen werden!“ Der Waffenmeister wandte sich kopfschüttelnd ab und schritt zum Schrein der Reinigung, wo er sein Nachtgebet abzuhalten pflegte.
Frustriert kickte Baldur eine Kampfplatzbegrenzung aus dem Weg und stapfte schon in Richtung der Schlafkammer, als sich eine schlanke Hand auf seine Schulter legte. Mit einem wütenden Ruck streifte er sie ab und als er statt Distanzierung Verständnis in den schönen Augen seiner Gegnerin las, wurde sein Zorn nur noch größer.
„Lasst mich einfach in Ruhe! Damit helft Ihr mir mehr als mit großmütigen Siegergesten!“
„Baldur“, sprach Suyne so sanft und gelassen, als wäre er ein wildes Tier, das es zu beruhigen galt. „Ihr habt sowohl die Kraft als auch das Herz eines großen Kriegers.“ Nicht eine Schramme zierte ihren hübschen Leib, wo seiner dutzende trug. „Was Euch fehlt, sind seine Augen und seine Geduld.“
„Und, was Euch fehlt, ist ein Liebhaber, der Interesse für Euer selbstgefälliges Gerede heuchelt.“
Die Klinge zerschnitt die Luft und um Haaresbreite entkam Baldur dem flinken Hieb, der seiner linken Schulter gegolten hatte.
„Gut so!“, rief Suyne. „Nun zieht Euer Schwert und verteidigt Euch, wenn Ihr könnt!“ Kaum war er der Aufforderung nachgekommen, als ein unerbittlicher Sturm von Klingen auf ihn niederprasselte. In einem Rhythmus der Hölle zischten Hiebe und Stöße in dichter Folge auf seine Brust, auf seine Beine, auf seine Lenden, ein Mal sogar auf seinen Hals zu, so schnell, dass er gar nicht anders konnte, als sein Heil in der Konzentration auf seine Verteidigung zu suchen. Hatte Suyne bereits im Probekampf so meisterhaft wie rücksichtslos auf ihn gewirkt, so hatte sie sich dort noch sehr zurückhalten. Hieb, Parade, Stoß, Parade, Stoß, Parade, Hieb Parade, Stoß und Baldur wich mit einem seitlichen Schritt nach vorn aus und setzte die Schwertspitze an die Kehle seiner Angreiferin. Um ihren Mund deutete sich ein leichtes Lächeln an, als sie ihre Waffe sinken ließ und den schlanken Hals entblößte. Schließlich ließ er von ihr ab, steckte das Schwert wieder in die Scheide und sie tat es ihm gleich. „Einen angenehmen Ritt nach Nordend, Sir Baldur!“, rief sie ihm zum Abschied zu und eilte von dannen.
„Und Euch eine wohlbehaltene Rückkehr aus dem Nebelmoor“, flüsterte Baldur ihr nach, mit einer jähen Besorgnis in der Stimme.
Kurz, bevor er die von Fackeln erleuchtete Tür der Schlafkammer erreichte, wurde er von Gorald, dem Pagen des Sehers zu sich gewunken.
„Meister Xanthis wünscht Euch zu sehen, mein Herr.“
Zu sehen oder eher zu hören?, war Baldur in Begriff zu fragen, doch er nickte nur und folgte dem Jungen zum Turm, während er sich den Kopf zerbrach, was der düstere Seher wohl von ihm wollte. Nachdem es ihm nach mehreren hundert Stufen auf der engen Wendeltreppe zu schwindeln drohte, erreichten sie endlich die Tür zum Bibliotheksgemach. Gorald klopfte drei Mal brav an, bevor er sie öffnete und Baldur den Eintritt wies. „Sir Baldur, auf Euer Geheiß, Meister!“
„Danke, Gorald“, sagte Xanthis. „Du darfst jetzt gehen. Komm bei Morgengrauen wieder.“ Gorald verneigte sich überflüssigerweise und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Xanthis saß in einem Stuhl vor einem aufgeschlagenen Buch mit hölzerner Schrift und schwieg, bis die Schritte seines Pagen auf den steinernen Treppenstufen verhallt waren. „Kommt näher“, befahl er und drehte sich mitsamt seinem Stuhl in Baldurs Richtung, während dieser vor ihn hin trat. „Ihr fragt Euch wohl, warum ich Euch habe rufen lassen. Nun, ich habe Euch beobachtet... auf meine Weise. Ihr seid der beherzteste und gewissenhafteste aller Ritter in Graufels und für keinen anderen habe ich Verwendung. Gebt mir Eure Hände.“ Zögerlich streckte er sie über den Schoß des Alten, bis dessen schorfe Finger sie fanden und sich in seine Unterarme krallten. Ein scharfer Kratzer, den ihm Suynes Klinge zugefügt hatte, protestierte, doch Xanthis ließ nicht locker in seinem Griff. „Ihr habt die Arme eines starken Kriegers“, verkündete der Alte. „Auch ich sollte ein Krieger werden, als ich jung und stark war. Ich sollte in die Welt hinausreiten und San’Guis’ Namen mit Blut und Eisen auf das Antlitz der Welt zeichnen. Doch die mir bestimmte Zukunft starb an einem Fehler, den ich beging.“ Seine toten Augen hoben sich dorthin, wo sie Baldurs Blick vermuteten. „Nun ist es meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass dergleichen nie wieder geschieht. Ich stelle Euch eine Frage, die Ihr als Diener Eures Ranges beantworten können müsstet: Was haben Gott und Fürst in Bezug auf Euch gemeinsam?“
„Beiden bin ich zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet“, antwortete Baldur gewählt und wahrheitsgemäß.
Xanthis nickte.
„Doch ist der Fürst ein Mensch wie Ihr selbst. Warum schuldet Ihr ihm den gleichen Gehorsam wie dem Gotte?“
Baldur überlegte. Nie hatte er das Wesen des Ordens in Frage gestellt, also hatte es auch keinen Grund für solche Überlegungen gegeben.
„Weil er der Statthalter meines Gottes ist. Der Bote seines Willens.“
Wieder nickte Xanthis, seine Hände noch immer fest um Baldurs Unterarme geschlossen.
„Jedoch ein Bote des Boten, um mit der Wahrheit zu sprechen. Denn nur wir Magier können uns rühmen, den Willen unseres Gottes zu erahnen. Ritter und Fürsten und selbst der Hochmeister des Ordens können ihn lediglich vermuten. Nur wir Magier können sie in ihren Vermutungen bestätigen oder widerlegen.“
Darauf wusste Baldur nichts zu erwidern.

„Wenn Ihr also mit Sicherheit wüsstet, dass der Fürst - sei es aus frevelhaftem Streben oder aus dümmlicher Ignoranz - entgegen dem Willen des Gottes handelte, was würde das für Euch bedeuten, der Ihr geschworen habt, beiden zu gehorchen?“
Baldur behagte die Richtung nicht, in die sich das Gespräch entwickelte.

„Dürfte ich eine Frage -“
„Erst, wenn Ihr meine beantwortet habt“, widersprach der Alte sanft, aber bestimmt.
„Ich läge im Zwiespalt“, erklärte Baldur vorsichtig. „Wenn ich dem Einen gehorchte, verriete ich den anderen. Wie ich mich auch entschiede, ich könnte meinen Schwur nicht aufrecht erhalten.“
Xanthis lächelte nachsichtig.
„Danach, wie Ihr mir geantwortet habt, müsstet Ihr es eigentlich besser wissen. Warum... die Frage könnte auch lauten: wann schuldet Ihr dem Fürsten den gleichen Gehorsam wie dem Gotte? Könnt Ihr Eure Worte von vorhin noch einmal wiederholen?“
Hilflos tat Baldur, wie er geheißen war, wohl wissend, dass er bereits verloren hatte.
„Wenn er der Statthalter meines Gottes ist. Das ist er nicht mehr, wenn er sich von seinem Willen entfernt.“
Der Seher nickte ein drittes Mal, diesmal bedächtiger und zufriedener als zuvor.
„Bleibt Euch im Angesicht des Schwures dann noch eine Wahl?“
„Nein“, es war mehr ein erstickter Seufzer, denn eine Antwort.
Sanft entspannten sich Xanthis’ Finger und gaben Baldurs Unterarme frei.
„Dann werde ich Euch jetzt erklären, was Ihr in Nordend zu tun habt.“


~ Alyndur ~

Anora musste ihre Waffen bei sich haben, denn weder ihr Schwert noch ihre Dolche, die sie stets am Gürtel trug, befanden sich bei der zurückgelassenen Ausrüstung. Gleiches galt für ihre Lederrüstung, in der sie an Orten zu schlafen pflegte, an denen sie sich nicht gänzlich sicher fühlte. Ihren Schattenumhang hatte sie jedoch abgelegt und sorgsam um einige zerbrechliche Gegenstände gehüllt. Alyndur fand eine Phiole mit einer seltsam anmutenden Flüssigkeit, deren Farbe sich mit dem Einfall des Lichts änderte. Er fragte sich, zu welchem Zweck Anora wohl außerhalb der bewohnten Reiche Gift bei sich führte, wo sie unter niemandem lebte als ihren eigenen Reisegefährten und bezweifelte, dass es sich nur um die Absicherung gegen einen möglichen Hungertod handelte. Er entdeckte die Nähausrüstung, die sie Nori für seine zerfetzten Klamotten geliehen hatte, ein paar private Dinge ohne Nutzen und eine halb geleerte Flasche mit dem starken Gebräu, das sich die Nordmänner abends verabreichten.
So, so, dachte Alyndur und spielte mit dem Gedanken, sich selbst einen Schluck zu gönnen, verwarf ihn jedoch angesichts der Lage und der Auffälligkeit im Falle einer Rückkehr Anoras. Auch ein Schlauch mit Wasser und ein paar Notreserven an Nahrung befanden sich dort. Was auch immer sich Anora von ihrem Ausflug in die Ebenen des Schweigens ohne Proviant und Ausrüstung erhoffte - wenn sie nicht bald zurückkehrte, würde es auf ewig ihr Geheimnis bleiben. Dann ertasteten seine Finger die Wärme. Hart wie ein Stein und warm wie das Fleisch einer Geliebten presste es sich gegen seine Hand, als er es aus den anderen Gegenständen barg, bis er bemerkte, dass ihn die Wärme nicht äußerlich, sondern vielmehr innerlich erfüllte. Als er sich das Kleinod an die Brust hielt, schien das Gift von Jahrzehnten herauszubluten und er spürte, wie ein tiefer Schatten langsam von seiner Seele fortgedrängt wurde und die ersten Sonnenstrahlen trafen auf die kalte Erde, die seit achtzig Jahren nichts als Finsternis gekannt hatte. Die Macht, die das bewirkte, liebte ihn nicht, doch sie hasste den Schatten so sehr, dass sie seine Freiheit für ihren Sieg in Kauf nahm. Erinnerungen und Erkenntnisse, alte wie neue, brachen wie ein aufgestauter Fluss, der seinen Damm schließlich bezwungen hatte, über ihn her und rissen ihn mit sich fort. Als er sich wiederfand, war es ein Name, der ihm wohlgefällig über die Lippen glitt... sein Name.
Nun war es aber an der Zeit, die anderen vom beängstigenden Verschwinden ihrer edlen Anführerin in Kenntnis zu setzen, denn noch hatte er eine Rolle zu spielen. Er ordnete alle Gegenstände wieder so an, wie er sie vorgefunden hatte, nur den grünen Stein verwahrte in einer versteckten Tasche in seinem Hemd. Er nahm Anoras Beutel in die freie Hand und wollte sich gerade daran machen, die anderen zu wecken, trat er auf den prall gefüllten Schlauch, den er zuvor hinter sich beiseite gelegt hatte und rutschte aus. Das Leder zerplatzte und das Wasser spritzte stark in alle Richtungen, ehe er bäuchlings auf dem frisch getränkten Sandboden landete, Fackel und Beutel in verschiedenen Armen von sich abgespreizt. Ärgerlich zog er die Arme an, um sich aufzurichten, als seine geschulten Augen im Fackelschein die zweite Spur vor sich ausmachten. Die Abdrücke waren so zart, als stammten sie von einem schleichenden Kind oder jemand anderem von sehr leichtem Gewicht, der seine Füße mit Bedacht aufgesetzt hatte, sodass man sie aus dem Stand schwerlich überhaupt erkannt hätte. Der Nässe war es zu danken, dass sie sich für das Auge zunächst überhaupt von der Umgebung abhoben. Die Spuren waren so leicht, dass sich noch nicht einmal sagen ließ, ob es der Mensch - falls man überhaupt sicher davon ausgehen konnte, dass es sich um einen handelte - barfuß oder auf Sohlen gegangen war. Die Spur führte zielstrebig zum Schlafplatz der Gruppe hin und ebenso zielstrebig wieder von dort weg, nur im Gegensatz zur Spur, die die das Pferd der Elfe hinterlassen hatte, führte diese nicht aus dem Lager heraus, sondern geradewegs
hinein, wo die Nordleute ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Alyndur musste sich tief über die blassen Abdrücke beugen, um sie verfolgen zu können, und irgendwann war er sich nicht mehr sicher, ob es überhaupt noch die ursprüngliche Spur war, der er zu folgen glaubte. Er war so sehr auf seine Suche konzentriert, dass er sie erst bemerkte, als in kurzer Entfernung von ihm das raue Gelächter erklang. Drei bereits angeheiterte Nordmänner lehnten an einem Wagen, tranken aus großen Hörnern und sahen ihn belustigt an. Er musste wahrlich einen absonderlichen Anblick geboten haben, als er mit einem großen Bündel in der einen Hand und einer Fackel in der anderen nahezu auf den Knien über den Sand rutschte, die Augen auf eine Spur geheftet, die er sich vielleicht nur noch einbildete. Alyndur nickte ihnen mit einem zugeständnisvollen Lächeln zu, doch als er seiner Spur wieder folgen wollte, krabbelte er gegen zwei massive Beine. Als er nach oben blickte, grinste ein bärtiges Gesicht auf ihn herab und schüttelte abweisend den Kopf. Alyndur richtete sich auf, klopfte sich den Sand notdürftig mit dem Arm ab, mit dessen Hand er Anoras Bündel gefasst hielt, und erklärte: „Unsere Anführerin ist verschwunden und diese Spur führt geradewegs von ihrem Lagerplatz weg.“ Der Nordmann hatte ihn offenbar nicht verstanden und selbst wenn, wäre es ihm wohl egal gewesen, denn er warf einen kurzen Blick dorthin, wo Alyndur vor sich in den Sand zeigte, schüttelte wieder den Kopf und deutete als Antwort auffordernd in die Richtung, aus der der Waldläufer gekommen war. Hier war das Lager der Nordleute und dort hatte er nichts zu suchen. Fluchend und unter dem erneuten Gelächter der Männer eilte er dorthin zurück, wo die Gruppe lagerte, und weckte die Gefährten.
 
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Senegor

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Nori schnarchte im Schlaf. Als ihn ein plötzlicher Tritt abrupt aus seinen Träumen riss, verschluckte er sich beinahe an seinem eigenen Bart, der ihm im Schlaf quer übers Gesicht gelegen hatte. "Was, beim Barte meiner Großmutter...", polterte der Zwerg los und wollte schon nach seinen Waffen greifen, in Erwartung eines Angriffs, doch als er aufsah, erblickte er nur Alyndur der offenbar in Hektik von einem Schlafendem zum andern rannte. Einige erwachten bereits von allein. Er hatte einen wunderbaren Traum gehabt. Er hatte von wunderschönen Zwerginnen gehandelt, einem riesenhaften Braten und acht, neun Krug warmen Mets. Wärme... Das war es, nach was sich der Zwerg in der feucht-kalten Ebene sehnte. Nachdem man ihn also von der imaginären Feuerstelle in mitten einer rauchigen Halle fortgerissen hatte, war Nori alles andere als gut gelaunt.
"Anora ist verschwunden.", hörte er Alyndur kurz sagen. Verwundert kratzte Nori sich am Kopf. 'Warum sollte jemand mitten in der Nacht sein Lager verlassen und sich vom sicheren Feuer in unbekanntes Gebiet aufmachen? Dazu allem Anschein ja auch noch allein, schließlich hat er nichts über weitere Verschwundene gesagt.'
Ärgerlich rieb sich Nori über die Rippen. Er hätte ihn auch sanfter wecken können. 'War wohl zu anstrengend sich zu einem so kleinen Kerl herunter zu beugen, den Rest kann er anscheinend ja auch auf normale Art und Weise wach machen!' Mürrisch erhob sich der Zwerg von seinem Lager und machte sich auf in Richtung der bereits Versammelten Gefährten. Dort angekommen hörte er einige Stimmen aufgeregt auf Alyndur eindrängen. Anscheinend war ihre Anführerin wohl mitten in der Nacht nur mit ihrem Pferd und ihren Waffen in die Dunkelheit geritten, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, oder sonst etwas woran man hätte feststellen können aus welchem Grund Anora dies tat.
Als Alyndur geendet hatte, war der Zwerg mehr oder weniger sprachlos. Was sollte er großartig dazu sagen, dass ihre Anführerin sich einfach so davon gemacht zu haben schien? Also hiess es ersteinmal abwarten, was der Rest der Gefährten zu den Ereignissen dieser unruhigen Nacht sagen würden.
 
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Darghand

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“Freja.“
„Hm?“
„Glaubst du...glaubst du sie wissen es?“
„Was?“
„Na, dass mit... mit uns. Dass wir...“
Freja war sich sicher, dass Thorreid in diesem Moment rot wurde. Es war fast unmöglich, mit ihm über solche Dinge zu sprechen. Er benahm sich immer wieder aufs neue wie ein Frischling.
„Ist das denn wichtig?“
„Ich weiß nicht. Es ist nur...“
Thorreid schwieg.
„Was?“
„Nun... ich meine, du hast ja einen Mann. Und ich... na du weißt schon.“
Freja hob den Kopf und stützte sich auf ihren Ellenbogen. Sie suchte seinen Blick, doch Thorreid blickte nur starr gen Himmel, von dem man nur ahnen konnte, dass er noch da war. Der Nebel versperrte auch die Sicht auch in diese Richtung.
„Vor was hast du Angst, Thorreid?“ fragte sie und klang ärgerlicher als sie es beabsichtigt hatte. „Dass dich die anderen geringschätzen, weil du mit einer verheirateten Frau die Felle teilst? Weil du mich einem anderen geraubt hast?“
Sein Schweigen zeigte ihr, dass sie Recht hatte.
„Und ich? Was ist mit mir? Ich hab Kinder und Enkel, Thorreid. Was glaubst du, was die anderen darüber denken? Und trotzdem lieg ich hier mit dir, anstatt allein in meinen Fellen zu frieren und dich von meinem Mammut aus anzuschmachten.“
„Beruhige dich.“ Thorreids Stimme konnte unglaublich sanft klingen. Als würde ein Braunbär schnurren. „Es ist nur... so ungewohnt. Ich hab nie... ich war immer nur kurz bei einer Frau, und keiner hat je gewusst, bei welcher. Ach, verdammt soll ich sein! Alle sollen es wissen, ich möcht's am liebsten der ganzen Karawane erzählen! Es ist halt nur, nur so ungewohnt. Vielleicht möchtest du das ja nicht, und... na, deshalb frag ich doch!“
Mit einem Mal tat Freja ihr übereilter Ärger leid. Es war geradezu rührend, worüber Thorreid sich den Kopf zerbrach – zugleich aber auch belustigend.
„Thorreid, ich bin sicher, jeder denkt sich seinen Teil.“ sagte sie ruhig. „Das hier ist ein trostloser Ort, jeder läuft den lieben langen Tag mit einer Trauermiene herum. Und wir? Wir sind die einzigen, die glücklich sind. Denkst du, das fällt niemandem auf? Mir ist das ganz gleich. Sollen sie sich zusammenreimen, was sie wollen. Ich bin zu alt, um mir solche Sorgen zu machen. Zumindest will ich's nicht mehr. Die können mir schön den Buckel runterrutschen.“
Thorreid lachte leise.
„Gut“ brummte er. „Dann will ich mir auch keine Sorgen mehr machen. Ah, mein ganzes Leben hab ich das nicht getan. Und jetzt fang ich damit an. Das gibt doch gar keinen Sinn.“
„Thorreid.“ sagte Freja nach einer Weile des Schweigens.
„Was denn?“
„Sag's ihnen nicht.“
„Hm?“
„An allen nagt der Fluch dieses Ortes. Ich kenne das selbst. Oft genug fühle ich mich alt, kraftlos. Ich zweifle an mir, an der ganzen Unternehmung. Den anderen geht es ähnlich, glaub mir. Es ist sicher schon... hm, anstrengend genug, uns nur zuzusehen. Wir müssen nicht noch damit angeben.“
„Schade.“ murmelte Thorreid. „Das würd ich wirklich gerne. Du bist nämlich was zum Angeben und Rumprahlen.“
Freja lachte, beugte sich zu ihm hinunter und gab ihm einen saftigen Kuss. Sie legte Arm und Kopf wieder auf Thorreids Brust und strich mit den Fingern durch die struppigen Haare die dort wuchsen. Seine grobe, schwielige Hand, die ganz sanft sein konnte, schob sie näher an ihn heran. Ihre kalten Zehen fanden ihren Weg zwischen seine nackten Beine. So schliefen sie ein, in einem Gewühl von wollenen Decken und Fellen, etwas abseits vom Lager, versteckt hinter etwas Buschwerk. Schliefen, bis der Aufruhr im Lager in den frühen Morgenstunden, in der trüben, halbdunklen Dämmerung, sie weckte, und ein einziger Satz die Runde machte: Die Elfe ist fort! Die Elfe ist fort!
 

Darghand

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~ Harmund ~

Skattjy kniete neben einem unförmigen, dunkelbraunen Haufen nieder. Einige Fliegen, die wer weiß wie die Kälte des Herbstes überlebt hatten, umkreisten die Masse. Mit einem vertrockneten Ast stocherte er in der stinkenden Masse herum und fischte, begleitet von einem triumphierenden „Ha!“ einen halben, menschlichen Kieferknochen hervor.
„Der gehörte dann wohl Aarvo.“ stellte der Schütze fest und bleckte die vom Sängerfarn gelb gefärbten Zähne zu einem ekelhaften Grinsen. „Ob er ihn schon vermisst? Vielleicht war er ja deshalb zuletzt so schweigsam.“
Harmund rümpfte angewidert die Nase.
'Wir haben Aarvos Überreste vor drei Tagen verbrannt, und dieser Mistkerl erlaubt sich solche üblen Scherze.' Es drehte ihm fast den Magen um.
„Pack dieses Ding weg!“ ranzte er Skattjy an und wandte den Blick von dem Knochen ab. Eher unwillkürlich schaute er wieder zu dem Haufen. Auf eine seltsame Art und Weise wirkte der Anblick dieser übelriechenden Hinterlassenschaft beruhigend auf Harmund. Immerhin zeigte sie, dass das Fellungetüm hinter dem sie her waren, natürlichen Ursprungs war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Schattengeister, Wandelnde Kadaver und ähnliche Beleidigungen des Ewigen Zyklus derartige Bedürfnisse hätten.
„Wie du meinst.“ Skattjy zuckte mit den Schultern und ließ den besudelten Knochen von seinem primitiven Werkzeug rutschen. Als makabre Gipfelmarkierung blieb er oben in dem Haufen stecken.
„Na sowas.“ Der Jäger schnalzte mit der Zunge und zeigte mit dem Stock auf den Knochen. „Ob das was zu bedeuten hat? Sollen wir einen Seher herholen?“
Nun verlor auch Umbar, der sich das Schauspiel bislang eher teilnahmslos angesehen hatte, die Geduld.
„Skattjy,“ grollte er drohend. „Meine Wunden sind noch nicht verheilt, aber glaub mir, ich bekomm's noch hin, dich einhändig in dem Haufen da zu ersticken.“
Jeder der Grenzläufer besaß so viel Verstand, sich nicht mit dem Alten Wolf anzulegen. Auch Skattjy war schlau genug.
„Es ist Blut dadrin.“ sagte er knapp und spuckte dünnflüssigen gelben Speichel. „Viel. Das Vieh ist so gut wie tot, wie ich's euch gesagt hab.“
„Gut. Dann weiter.“ knurrte Umbar. „Die Fährten sind ja kaum zu übersehen.“

Sie ließen den stinkenden Haufen hinter sich und folgten der Fährte des Tieres tiefer in den Wald hinein. Hier standen die Bäume nicht mehr so licht wie an den Ufern des Flusses. Über den Sommer hinweg waren diese Dickichte nahezu undurchdringlich; ein dichtes, schattiges Gewebe aus Krüppelbuchen mit ihren grotesk verdrehten Stämmen und Ästen, dornigem Gesträuch, Rankenpflanzen und kurzlebigen Farnen. Doch nun, im Herbst, griffen nur dürre, kahle Ästchen wie Totenhände nach ihnen, versperrten nur blassgraue, gewundene Stämme ihren Weg oder bildeten Torbögen, als ginge man durch die Rippenbögen eines Mammuts. Wohin man auch schaute, alles war grau und braun und zitterte ängstlich mit den verdorrten Blättern vor der Kälte des nahenden Winters. Gegen Mittag hatte ein ein feiner, kalter Regen eingesetzt, der ebenso dicht wie unaufhörlich fiel und den Boden zu ihren Füßen in zähen Morast und ihre Fellumhänge in schwere Lasten verwandelte.
Der Spur des verwundeten Tiers zu folgen erwies sich tatsächlich als zunehmend einfach. Abgebrochene Zweige und Äste, heruntergerissenes Moos und Blutspuren an Felsen und Baumstämmen, in denen lange, braune Fellfetzen hingen, entdeckten sie nun einfach im Vorübergehen.
Harmund vermutete, dass Skattjys vergiftete Pfeilspitzen noch immer im Fleisch der Bestie steckten. Das Jucken des Wundbrandes brachte sie vermutlich dazu, sich immer wieder an Baumrinden und schartigen Felsen zu reiben. Früher hatte er Skattjy für seine unwaidmännischen Jagdmethoden verachtet, doch nun hatte jeder von ihnen stets eines der giftigen Geschosse schussbereit auf der Sehne liegen. Aus was er sein Gebräu zusammenmischte hatte Skattjy für sich behalten, die Wirkung hingegen hatte er ausführlich und geradezu begeistert erläutert. Einmal in den Blutkreislauf gelangt ließ das Gift die Adern nach und nach aufbrechen. Das Opfer verblutete innerlich. Harmund hatte so etwas wie Befriedigung in sich verspürt, als Skattjy diesen schmerzhaften Tod schilderte. Seine Trauer über den Tod seiner getöteten Kameraden war schnell einer grimmigen, rachsüchtigen Entschlossenheit gewichen, und auch wenn sie darüber kein Wort verloren hatten, glaubte Harmund, dass Umbar und Skattjy ähnlich empfanden. Keiner von ihnen wäre in der Lage gewesen, Worte dafür zu finden, doch die Bande zwischen den Grenzläufern waren eng und fest. Einen Gefallenen des Rudels zu rächen war Teil ihres Schwurs, ihn zu erfüllen eine Selbstverständlichkeit. Sie alle wollten die Bestie tot sehen, ihrem langsamen Sterben beiwohnen und den Kadaver anschließend in Stücke reißen. Es herrschte Einigkeit darüber, dass es sich um eine widernatürliche Kreatur handeln musste, ein fremdes Tier, das in das Herrschaftsgebiet der Geister eingedrungen und ihnen feindselig war. Die Grenzläufer wurden nie von Tieren attackiert, es sei denn, sie verhielten sich wirklich falsch. Doch dieses Vieh war anders. Der Tod der Grenzläufer musste durch den Tod der Bestie gerächt und die Ordnung in den nördlichen Gefilden wiederhergestellt werden. Für Harmund war das eine einfache, geradezu zwangsläufige Logik.
'Bei unseren Ahnen' dachte er, 'Wir sind in die Wälder gegangen, um Freiheit zu finden und die Bräuche unserer Vorväter abzuschütteln. Und jetzt? Jetzt unterwerfen wir uns freiwillig den Regeln, die wir als unsere eigenen anerkannt haben. Wo ist da der Unterschied?'

Am Ende fanden sie die Bestie in einer engen Felsscharte, mit den Hinterläufen an der rückwärtigen Wand nach Schutz suchend. Das Biest knurrte leise, als es die Grenzläufer witterte, zu mehr war es nicht mehr fähig. Blut troff ihm aus Maul, Nase und Augen. Zu dritt standen sie vor ihm, die Hände an die eisernen Axtköpfe gelegt, und sahen es lange an.
Zwei kleine, jetzt vor Blut erblindete Augen über kurzen Schnauze und einer platten Bärennase, ein gewaltiger kantiger Unterkiefer, ein Maul, aus dem oben und unten zwei Paar Reißzähne ragten, Ohren wie bei einem Luchs. Der Kopf saß an einem dicken Hals, tief unter den seltsam hohen Schultern und den mächtigen Vorderläufen. Die Hinterbeine waren kurz, der Rücken fiel steil ab. Sogar jetzt noch, geschwächt und ohnmächtig auf dem Boden liegend, wirkte seine Größe furchteinflößend.
„Was ist das?“ fragte Harmund tonlos in die Stille des fallenden Regens hinein.
„Ein Warg.“
Er und Skattjy drehten sich nach dem Alten Wolf um, der immernoch das sterbende Biest musterte.
„Die Warge sind ausgerottet. Sie...“ begann Harmund, doch der Alte unterbrach ihn.
„Bevor ich Grenzläufer wurde, sollte ich Seher werden. Ich hab die Runensteine gesehen, die Schriften der Altvorderen und ihre Malereien. Ich kenne die Bilder. Das ist ein Warg. Nichts anderes.“
Wie zur Bestätigung hob die Kreatur den Kopf und gab ein jämmerliches Grollen von sich. Ein weiterer Schwall Blut suppte zwischen den Lefzen hervor. Es gab keinen Zweifel daran, wie nah das Tier seinem Tod war – Harmund bemerkte die ersten Raben, die sich krächzend in den kahlen Bäumen ringsum versammelten; bereit, sich um das bevorstehende Festmahl zu streiten.
„Außerdem,“ sagte Umbar. „sind die Warge nicht ausgerottet. Die Nachtmahre ist ausgerottet, unsere Urgroßväter haben die letzten getötet. Die Warge wurden verbannt, schon vor Hunderten von Wintern, sagt die Legende der Ersten Väter. In einen Berg gesperrt.“
„Bah.“ Skattjy spuckte schon wieder aus. „Die Legenden, die Legenden. Ein Haufen Scheiß steht in den Legenden... Das ist doch nur irgendein Vieh, aus dem Norden über die Pässe gekommen. Bloß halt eins, das wir nicht kennen.“
Umbars Blick verfinsterte sich.
„Mag sein. Ich bin damals kein Seher geworden, weil mir die ganzen Märchen nicht geschmeckt haben. Nichts als Geschichten, um den Sehern ihren Status zu lassen, damit ihre Sicht die einzige ist, die gilt. Deshalb mögen sie uns nicht, und die Speerfrauen, Baummenschen und Geisterhaften können sie genauso wenig ab. Aber wenn's stimmt, was die Legende sagt, dann bedeutet das mehr als einen hässlichen Berg Fell, der drei unserer Brüder umgebracht hat. Mehr als nur ein Einzelgänger, der den Weg zurück über die Berge gefunden hat.“
„Märchen, ganz genau!“ giftete Skattjy. „Bei den hässlichen Fratzen meiner Ahnen, was ist das, die Altersblödheit? Du faselst daher wie die Seher, vielleicht hättest du doch einer werden sollen! Ich bleib dabei, der stinkende Haufen Pelz und Hauer hier ist über die Pässe marschiert, und wir haben's nicht mitgekriegt, also sind wir selbst schuld. Wir haben's zur Strecke gebracht und können uns aus dem Fell einen schönen Mantel machen. Und damit hat sich's!“
„Du sollst an keine Märchen glauben, du Ratte, du sollst dein bisschen Brägen anstrengen, das dir dein Farngekaue noch übrig gelassen hat. Irgendwas Wahres steckt in allen Geschichten. Und einen Grund wird’s schon geben, warum unsere Altvorderen die Biester damals bekämpft haben. Das Reich muss davon erfahren.“
„Aber nicht von mir! Wenn ich nur an das Gesabbel des Sehers von meinem Stamm denke, möchte ich kotzen.“
„Skattjy“ sagte Harmund ruhig, aber mit unmissverständlicher Schärfe. „Wie Umbar schon sagte: das Reich muss davon erfahren, und sei es nur, damit nicht noch mehr von uns sterben. Was du tust, kümmert hier keinen. Unser Weg steht ohnehin fest. Es ist nicht an uns, das zu entscheiden.“
Eine ganze Weile sagte niemand mehr etwas, sie standen nur da und starrten den sterbenden Warg an.
„Wie machen wir's also?“ fragte Harmund.
„Mit den Äxten.“ brummte Umbar. „Jeder einen Schlag in den Kopf.“
Skattjy nickte zustimmend.
Der Alte Wolf zog seine Waffe als erster hervor, Harmund und Skattjy folgten. Gemeinsam traten sie auf den Warg zu, gemeinsam hoben sie ihre Waffen in den Regen empor.
„Für Lasse.“
„Für Aarvo.“
„Für Tjove.“
Drei Äxte rauschten gleichzeitig nieder, drei Klingen spalteten Fell, Haut und Knochen.

Etwas geriet in Bewegung und vertrieb die hungernden Raben, die sich laut krächzend in die Lüfte erhoben. Auch nachdem die Grenzläufer dem Warg das Fell abgezogen und den Unterkiefer und die Pranken der Vorderläufe abgeschlagen hatten, fraß kein Rabe und kein anderes Tier von dem Kadaver.
 
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Alyndur

Zwielichtiger
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„Dort waren einzelne Hufspuren, die aus dem Lager herausführten. Sonst fehlt auch von ihrem Pferd jede Spur. Sie muss dorthin geritten sein.“ Der Wind hatte ganze Arbeit geleistet. Ein kräftiger Stoß, der einem Wogen von Sand in die Augen gestreut hatte, so man sie nicht rechtzeitig mit den Händen zu schützen gewusst hatte, und nichts erzählte mehr von der Richtung, die Anora bei ihrer mehr als merkwürdigen Flucht eingeschlagen hatte. Nichts außer Alyndur selbst, dem das Wetter als einzigem gewährt hatte, die Spuren zu erblicken, die vom Lager wegführten. Von denen, die hineinführten, ganz zu schweigen, doch über sie hatte er bislang kein Wort verloren. Alyndur mühte sich, möglichst ratlos drein zu blicken, was angesichts der Lage nicht allzu schwierig schien, als er den Blick der Männer suchte, die er zu Anoras verlassener Schlafstatt geführt hatte. „Alles, was ich von ihrem Besitz vorfand, habe ich geborgen: Einen Beutel mit nahezu ihrer gesamten Ausrüstung. Es fehlen lediglich ihre Waffen und, was sie sonst bei sich am Körper führte.“ Und ein kleines grünes Steinchen, also nichts, was Euch kümmern dürfte, teure Gefährten. „Kein Wasser, keine Nahrung fehlt an ihrem Platze. Anora muss gänzlich ohne Proviant fortgeritten sein.“ Und ohne jede Chance auf Rückkehr, sollte sie sich auf ihre eigenen Spuren verlassen haben.
„Vielleicht hat sie etwas am Rand des Lagers erspäht, was ihr Sorge bereitete, und wollte nur kurz danach schauen“, mutmaßte Marons Knappe, den er Bisu rief. Noch vor allen anderen Gefährten wirkte der junge Bursche besonders betroffen.
„Anora ist eine erfahrene Abenteurerin“, belehrte man ihn. „Sie hätte ihren Gefährten zuerst ein Zeichen gegeben, bevor sie sich auf Gedeih und Verderb mit etwas Ungewissem eingelassen hätte.“
„Im Übrigen“, warf Nori grimmig ein. „Glaubt Ihr, in dieser endlosen Einöde lebt überhaupt irgendetwas, das Anoras Aufmerksamkeit auf sich hätte ziehen können?“
Alyndur musste unwillkürlich an den Leichnam des alten Baumes zurückdenken, dessen brennendes Holz dem Zwerg und ihm keine Stunde zuvor noch eine spärliche und mit entsetzlichem Qualm erkaufte Wärme gespendet hatte. Die Rinde von solch einer Schwärze überzogen, als hätten schon zuvor einmal Flammen an ihr geleckt, und seine knochigen Äste doch so hoch ragend, als hätte er schon immer an diesem Ort gewacht.
„Vielleicht lebte hier einst etwas, das nun ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht“, wollte er spotten, doch eine seltsame Kälte fuhr durch seine Muskeln und ließ die Belustigung auf seiner Zunge gefrieren.
„Nun, wie dem auch sei - es gibt keine Spuren mehr, denen wir folgen könnten und die Richtung allein gibt keine Sicherheit. Es würde genügen, wenn sie nur eine Hand breit davon abgewichen wäre, und inzwischen kann sie überall sein. Ich bin gewiss kein Feigling, doch anstatt sie zu finden, liefen wir eher Gefahr, unseren eigenen Weg zu verlieren.“ So hätte es enden sollen. Über Monde hinweg war er mit Anora und ihrer Gruppe gereist. Er hatte sich ihr angeschlossen aus Gründen, die erst jetzt an Klarheit gewannen. Ihre Fähigkeiten hatte er durchaus anzuerkennen gewusst, doch nie hatte er sie darüber hinaus schätzen gelernt. Die einzige Unterhaltung, die sie über die Belange der Reise hinaus geführt hatten, hatte Anora in peinlicher Wut abgebrochen, als Alyndur es gewagt hatte, auf ihre Beweggründe zu sprechen zu kommen. Seht, Elfe, ich respektiere sogar Eure Beweggründe zu sterben. So hätte es enden sollen.
Etwas in ihm wollte es jedoch anders. Irgendetwas glaubte, dass ihre Zeit noch nicht am Ende war. Anora musste ihre Suche nach dem Magier fortsetzen. Er hatte sich ihr nicht ohne Gründe angeschlossen.
Und wenn schon? Er hatte doch schon unerhoffterweise gefunden, was er brauchte, oder etwa nicht? Wenn Anora lebend zur Karawane zurückkehren sollte, würde sie dann nicht ihre Ausrüstung zurückfordern, den Stein eingeschlossen? Und würden sie dann nicht die anderen in ihrem Recht unterstützen? Was, wenn er den Stein wieder verlöre? Was dann? So hätte es enden sollen.
Dann fand ihn die Erinnerung an einen noch nicht allzu weit zurückliegenden Tag. Der Nebel hatte Alyndur gerufen und ihn bereit gefunden, ihm zu folgen. Nur sein Hengst, mit einem Trotz gesegnet, der Anoras Stute fehlen musste, hatte es verhindert. Was wäre ihnen dort draußen widerfahren, hätte Calderion gehorcht? Der Tod? Oder Schlimmeres?
„Das einzige, was wir für sie tun können“, erklärte er dem alten Nordmann. „Ist, Euer lautestes Horn zu blasen. Und zu hoffen, dass es ihr den Weg zurück weist.“
 

Darghand

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Der Alte nickte bedächtig und starrte weiterhin die Hufabdrücke an, die schon kaum noch zu erkennen waren. Sein Gesicht sah vor Sorge noch faltiger und verwitterter aus als gewöhnlich. Tatsächlich hatte Ulbrun schlecht geschlafen. Ein Albtraum hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, noch ehe die Kunde von Anoras Verschwinden die Nachtruhe beendete. Die Erinnerung war nur noch verschwommen vorhanden, doch der Alte war sich sicher, dass er einen der Tierträume gehabt hatte, die die Geister manchmal den Sehern schickten. Er erinnerte sich, von einem kahlen Baum über einen herbstlichen Wald geblickt hatte, und sich einige seiner schwarzgefiederten Brüder und Schwestern sich um ihn versammelt hatten. Ein großes Wesen war unter ihnen auf dem Waldboden umhergekrochen, und dann waren drei schemenhafte Gestalten aufgetaucht, die sich dem Wesen näherten. Und dann war da nur noch diese entsetzliche, unausweichliche, alles unter sich begrabende Angst gewesen. Ulbrun hatte die Panik noch minutenlang in sich gespürt, nachdem er aus dem Schlaf hochgeschreckt war. Einen Augenblick hatte er sogar befürchtet, sein Herz zerspringe gleich, so sehr raste es.

Ihm fiel die üble Geschichte ein, die sich auf dem Hinweg ereignet hatte. Freja hatte sie in allen Einzelheiten geschildert. Der finstere, aus dem Boden gewachsene Stein. Die misshandelte Leiche, die an ihm aufgeknüpft war. Onolf, mit den kalten weißen Augen. Was, wenn die Elfe auf so ein Ding stieß?
Aber der junge Waldläufer hatte recht. Im Gegensatz zu der verblassenden Hufspur war die Schneise, die die Mammuts in den Grund trampelten, nahezu unübersehbar. Die riesigen Tiere hinterließen nicht nur tiefe Abdrücke, sondern fraßen im Vorbeigehen auch mit Vorliebe das ohnehin schon nur spärlich vorhandene Gesträuch ab. Es war weitaus wahrscheinlicher, dass Anora die Karawane wiederfinden würde als umgekehrt. Die junge Elfe einzuholen war ohnehin völlig aussichtslos. Nur die Pferde der Gefährten wären schnell genug, und ob seine Schwester und die anderen Verständnis dafür hätten, womöglich tagelang auf eine Ausreißerin zu warten, stand noch auf einem ganz anderen Blatt.
„Ja, die Hörner“ murmelte er eher zu sich selbst als zu den anderen in seinen Bart.
'Bei allen Geistern, wovor bist du nur geflohen, ivuli Anora?'
 

Morgan

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Maron legte dem aufgeregten Jungen die Hand beruhigend auf die Schulter: "Anora weis, was sie tut und sie wird ihre Gründe haben - ich habe volles Vertrauen in Sie, auch wenn sie in letzter Zeit keines in sich selbst hatte."
In der vergangenen Nacht hatte der Krieger den Rat des alten Raben wahrgenommen und meditierte und stellte sich lebhaft die grünen, saftigen Hügel seiner Heimat vor. Den Wind zwischen den Hügeln und die Herden der wilden Pferde. Das hatte seiner Seele gut getan, bis er ein Scheppern hörte und ein davongallopierendes Pferd - Anoras Pferd!
Sie wird ihre Gründe haben und bis dahin würde man die Hörner blasen, damit Sie einen Orientierungspunkt hatte. In dieser Elfe steckte mehr als man glauben mochte. Trotzdem bat Maron die Elemente seine Freundin zu schützen. Vor allem vor sich selbst - hatte er doch ihren inneren Kampf immer stärker werden sehen.
 

Nebressyl

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Der Dunkle beobachtete das Spektakel aus einigen Schritten Abstand während Rhaynin ungläubig bei den anderen Reisenden der Gemeinschaft stand und versuche, wie alle anderen auch, Licht in die Finsternis der Beweggründe Anoras zu bringen. Ihm war klar, was vorgefallen war. Nur die momentane und zukünftige Tragweite des Geschehens konnte er noch nicht erfassen.
Seit dem Tag, an dem ihm die Wandlung Anoras durch ihren inneren Kampf aufgefallen war, hatte er sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Es tobte eine regelrechte Schlacht in Ihrem Wesen - und sie war dabei diese zu verlieren.Nur der starke Fusel der Nordleute verhalf ihr zu wenigen Stunden Ruhe. Es war ihm nicht entgangen. Doch war er auch nicht in der Lage etwas dagegen zu unternehmen. Das Verhältnis zwischen Anora und ihm war nach wie vor sehr angespannt und sie hätte ihm niemals gestattet sich in ihren inneren Kampf einzumischen. Ganz abgesehen davon, dass sie diesen Kampf für sich selber austragen musste.
Diese Nacht konnte er nicht schlafen. Ein Gefühl der Vorahnung hatte ihn beschliechen und veranlasste ihn sich seiner alten Fähigkeiten wieder zu erinnern. So schlich er von seiner ohnehin etwas abgelegeneren Schlafstätte abseits des Lagers. Die Präsens eines weiteren Wesens erregte seine Aufmerksamkeit. Seinen Augen verdankte er es, dass er trotz des sternlosen Himmels genug zu erkennen vermochte. Er sah Anora, wieder dabei den nicht endenwollenden inneren Kampf auszufechten. Keine Kleinigkeit entging seinem scharfen Blick. Ausser der unbekannten Tatsache, die Anora so zusetzen in der Lage war. Sie hatte offensichtlich die Kontrolle verloren - oder war kurz davor. Ein weiteres Opfer der Ebenen...seine Hand umschloss langsam aber sicher den Knauf des filigranen Elbenschwertes als er inne hielt. Sie war kurz davor die Menschen anzugreifen, die ihr helfen wollten ihr Ziel zu erreichen. Doch sie hielt in ihrer Bewegung inne. Entsetzt lies sie ihre Waffe fallen und rannte davon. Ja, dieser Kampf würde weiter in ihr toben. Ob sie jemals wieder im Stande war die Kontrolle zurück zu erlangen war fraglich. Aktuell hatte sie jegliche Kontrolle über ihr Leben verloren.
Kaum hatte sie zu Pferd das Lager verlassen erschien die Kreatur, dessen Anwesenheit er gespürt hatte. Er konnte die Schwingungen nicht genau zuordnen - aber sie waren ihm durchaus bekannt. Auch als der Unbekannte sich Anoras Waffe näherte und diese unverstohlen an sich nahm half ihm der Blick nicht weiter. Lediglich sein Bauchgefühl hinderte ihn daran sich einzumischen. Dieses Wesen kam ihm unangenehm bekannt vor und seine Anwesenheit hier sollte keinen der Gemeinschaft gefährden. Und dies würde wahrscheinlich passieren, wenn er sich nun zeigen würde. Aber was war an der Waffe so besonderes?

Rhaynin war in den vergangenen Tagen das gesteigerte Interesse des Ritters an Anora Alia aufgefallen. Langsam beschliech sie das vage Gefühl von Neid und Eifersucht. Was hatte diese Frau in all ihrer Distanziertheit und Arroganz, was den Hünen so beschäftigte?
Egal wie sehr sie sich den Kopf darüber zerbrach. Sie kam zu keinem Ergebnis und die Ebenen belasteten ihr Gemüt darüber hinaus und machten sie schwermütig und traurig. Nun stand sie bei den beteiligten und verstand gar nichts mehr. Erst war diese Elfe so darauf bedacht, die Gruppe zu kontrollieren und jeden interessierten an der Gemeinschaft auf Abstand zu halten. Nun war sie diejenige, die ohne ein Wort, ohne eine Nachricht aus heiterem Himmel die Gruppe stürmisch verlassen hatte. Und die Tatsache, dass ihr Gefährte das ganze Szenario mit Abstand und aus der Distanz beobachtete. Aber jetzt viel ihr etwas an seinem Blick auf - es lag weder Liebe noch Zärtlichkeit in ihm. Er schaute besorgt und bedrückt und darüber hinaus wirkte er sehr angespannt und nachdenklich. Doch er schien sie nach wie vor nicht unterrichten zu wollen, was in ihm vorging. Seit Tagen hatten sie kein Wort miteinander gewechselt - ausser das Nötigste zur Lagervorbereitung. Aber fest stand, die junge Halbelfe sah den Tempelritter zum ersten Mal seit langer Zeit ohne seine Rüstung. Trotz der kühlen Luft der Ebenen trug er nicht mal ein Obergewand, ganz so als hätte er seine dunkle Haut zu seinem Vorteil genutzt. Nur zu was? Die Frage schoss ihr durch den Kopf -und die Antwort, die sie bekam gefiel ihr nicht besonders. Was hatte er mitbekommen? Was hatte er gesehen? Sie wusste inzwischen von seiner besonders guten Dunkel- und Nachtsicht. Und wieso teilte er sich ihr nicht mit? Misstrauen und Argwohn versuchten erneut ihr Denken zu beherrschen. Hatte er nicht versucht ihr Vertrauen zu erlangen? Warum dann diese Verhaltensänderung? Sie verstand gar nichts mehr...und am wenigsten den Zusammenhang!
 

Darghand

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Vier Mal am Tag wurden von nun an die Hörner geblasen – in der Morgendämmerung vor dem Aufbruch, dann um die Mittagszeit, am Abend kurz bevor das Lager aufgeschlagen wurde und noch einmal nach Einbruch der Nacht. Jedes Mal war es ein vielstimmiges Konzert aus kleinen Jagdhörnern, den beinlangen Signalhörnern, die sie auch für die Verständigung innerhalb der Karawane verwendeten und schließlich dem sogenannten Siegelhorn von gut anderthalb Manneslängen. Es hing an der Flanke von Thorreids Mammutbullen; ein Kunstwerk aus dem Stoßzahn eines voll ausgewachsenen Mammuts und sorgfältig gewachstem Holz. Sein Ton war so tief und voll, dass er im Magen kitzelte und jeden Knochen vibrieren ließ. Kein anderes Horn trug seine Botschaften so weit in die Welt hinaus wie dieses.
Jetzt, im Dunkel der hereinbrechenden Nacht, erklang es wieder. Tiefe und langgezogene Töne, die scheinbar bis in alle Ewigkeit nachhallten.
'Entweder, wir verscheuchen damit alles, was uns gefährlich werden könnte, oder wir locken es an. Und alles nur wegen diesem dummen Mädchen.'
Zu ihrem Erstaunen hatte Freja auf die Flucht der jungen Elfe vor nunmehr zwei Tagen eher verärgert als besorgt reagiert. Sie ärgerte die Unverantwortlichkeit der Elfe, die offenbar für nichts als sich selbst Augen hatte; es ärgerte sie, dass sie nun auf ihre Rückkehr hoffen und sich darum Sorgen machen müssten und sie hatte sich sogar über Ulbrun geärgert, der diese sonderbare Gruppe angeschleppt hatte. Ihm schien damals in Kahlar'tha viel an ihrer Begleitung gelegen gewesen zu sein, und das war auch der Grund für Frejas Angebot gewesen. Einen Nutzen dieser Begleitung vermochte Freja nicht erkennen, vielmehr sorgten sie nur für Scherereien – erst durch das unerfreuliche Zusammentreffen mit den Rittern und nun durch das Verschwinden der Elfe, das sich niemand so recht erklären konnte. Missmutig schaute sie zu dem kleinen Feuer hinüber, um das sich diese seltsame Gemeinschaft aus ivulis, Südmenschen und sogar einem dawi versammelt hatte.
'Sie versuchen nicht einmal, sich nützlich zu machen.' Keiner von ihnen hatte je beim Beladen der Mammuts oder beim Errichten des Lagers geholfen oder auch nur seine Hilfe angeboten. Stets blieben sie unter sich und kümmerten sich ausschließlich um ihre eigenen Habseligkeiten. Freja wusste durchaus über die Unaufgeschlossenheit ihres Volkes gegenüber den Südländern, aber sie verlangte auch keine Freundschaft oder gemeinsames Singen am abendlichen Feuer, sondern nur ein paar helfende Hände. Als Anerkennung des Gastrechts, das sie ihnen gewährten.
Um sich von ihrem Ärger abzulenken, lief Freja das Lager ab, wie sie es jeden Abend tat. Sie sprach mit denen, die Aufmunterung oder Anerkennung brauchten ebenso wie mit denen, die sich stritten; hörte sich Klagen und Sorgen an, half dabei, die Gepäckballen anders zu befestigen und die Zelte zu errichten und trank mit jenen, die es ihr anboten. Sie bemühte sich, für Zusammenhalt unter ihren Leuten zu sorgen, ohne ihren Status als Führerin aufzugeben.
Nach der abendlichen Plackerei fühlte sie sich noch immer nicht müde. Dennoch kroch sie zu Thorreid in die Felle ihres gemeinsamen Nachtlagers, das sie wie gewohnt etwas abseits der Feuer und Schlafplätze der anderen aufgeschlagen hatten. Thorreid schlief bereits den Schlaf der Gerechten, als Freja sich an ihn schmiegte. Er murmelte etwas im Halbschlaf und legte ihr, wie in einer unbewussten, lange gewohnten Geste, den Arm um die Schultern. Freja freute sich über seine Wärme und seinen Geruch, legte den Kopf auf seine Brust und schloss die Augen.
Es dauerte lange, bis sie Ruhe fand. Zuviele Gedanken spukten ihr im Kopf herum, zu sehr nagte noch immer der Ärger über die Gefährten und die Elfe im Besonderen an ihr. Immer wieder versuchte sie, sich anders und bequemer hinzulegen. Bald störte Thorreids Griff, dem sie sich entwand, dann vermisste sie seine Wärme und Nähe. Als endlich Schweigen einkehrte, die Stimmen verstummten und sie langsam wegdämmerte, begann Thorreid zu schnarchen. Freja hob den Kopf, blinzelte in die Dunkelheit hinein und überlegte. Dann löste sie sich kurzentschlossen aus Thorreids Armen, packte einige der körperwarmen Felle und legte sich wenige Schritt weiter in eine schmale Senke. Hier nun, allein mit sich selbst, unter einem Himmel ohne Sterne, übermannte sie der Schlaf fast augenblicklich.

Zunächst dachte Freja, eines der Felle sei verrutscht, und der Nachtwind wehe nun kalt und klamm in die sich bietende Öffnung. In jedem Fall verspürte sie eine unangenehme Kälte am Hals, und das hatte sie aus dem Schlaf geholt. Müde griff sie an die Stelle zwischen Hals und Schulter. Sie fühlte einen kalten, harten Dorn, eine scharfe Kante, die wie eine Drohung, oder ein Versprechen, über ihrem weichen Fleisch hing. Ihre Bewegung erstarrte. Freja zählte bis drei und überwand sich, die Augen zu öffnen. Über ihr, im fahlen, nebligen Mondlicht, stand eine nackte, leichenblasse Gestalt, die sie aus toten weißen Augen anstarrte. In ihrer rechten Hand hielt sie ein kurzes Schwert mit schmaler Klinge. Die Kälte, die von der Waffe ausging, brannte schon fast auf der Haut.
„Shhhh.“ machte die Gestalt und legte einen Finger an den Mund. Sie legte ruckartig den Kopf schief, als warte sie auf eine Antwort.
„Shhhh. Nichts sagen, ja, ja? Ganz ganz leise sein, jaja?“ zischte sie. Freja nickte stumm. Die Angst machte sie stumm und unbeweglich.
In einer flüssigen Bewegung kniete die Gestalt neben ihr nieder, ohne die Position der Klinge auch nur um eine Nuance zu verändern. Sie beugte sich tief über Frejas Gesicht. Jetzt erkannte sie Onolf ohne jeden Zweifel wieder. Die eingefallenen Wangen. Die sich scharf unter einer dünnen Haut sich abzeichnenden Knochen. Der leere Blick. Doch seine Augen wirkten nicht mehr tot, auf ihnen lag ein ganz und gar entsetzlicher Glanz, als wäre Milch mit Silber vermischt worden.
„Leise sein, leise sein.“ wiederholte Onolf flüsternd. „Ja, ja? Nichts wecken, ja? Ich kann dich sehen, das weißt du, ja, ja? Fast wie... fast wie vorher! Nur im Dunkeln, ja, ja?“
Freja wusste nichts anderes zu tun als fast unmerklich den Kopf hin und her zu bewegen. Die Spitze des Schwertes ruhte auf ihrem Hals ohne die Haut auch nur anzuritzen, doch die Kälte tröpfelte in sie hinein und fraß sich immer weiter vor. Sie spürte ihre Schulter kaum noch.
„Ooh, sie haben mich sehen lassen, ja, ja? Ihr Geschenk sagen sie, Geschenke bringen sie, ja, ja? Was weggenommen haben sie mir, jaja, aber angenommen hab ich's, ja, ja?“
„Lass mich, Onolf. Bitte. Nimm nur...“ flüsterte Freja, doch Onolf unterbrach sie. Er schnellte nach oben, wiederum ohne das Schwert zu bewegen.
„Nein, nein, nichts bitten, nein! Shhhh! Nichts herrufen, ja, ja? Ich... ich erlaube es ihnen, jaaaa. Kein Geschenk ist umsonst, sagen sie, ja, ja? Sehen kann ich, weißt du? Da, den Busch, und da, die Gräser und dahinten den Wurm! Alles, alles, ALLES!“
Freja sammelte ihren Mut.
„Ja, ist gut“ brachte sie hervor. Die Kälte war fast unerträglich. „Lass, lass uns zu Ulbrun gehen, er kann...“
„Mir helfen?“ Onolf flüsterte nicht mehr, seine Stimme klang mit einem Mal metallisch, höhnisch, bösartig. „Zwecklos. Lachhaft. Nichts kann er.“
„Freja?“ Thorreid rührte sich in seinem Lager.
„Vorbei.“ dröhnte Onolf. „Wisse, Weib, es wird eine Beilzeit kommen, eine Zeit der Wolfsstürme, eine Zeit, in der die Blumen nach Aas riechen und die Hunde nach Wind schnappen.“
Er stach zu. Die Klinge glitt in sie hinein, widerstandslos. Es tat fast gar nicht weh. Mit gebrochenem Blick sah sie das Schwert über sich funkeln. Sie hörte den Schrei, sah eine massige Figur heranstürzen, ihren Namen brüllend. Das Schwert hob sich, eine Faust umschloss es und Blut quoll zwischen den Fingern hindurch. Es knackte und knirschte, als die zweite Faust das Gesicht traf. Zähne splitterten, Blut broch hervor, Augen platzten. Schmerzgeheul. Ein wütendes Morden, ohne Maß, mit bloßen Händen.
Freja spürte wie etwas über ihre Wangen strich.
'Es ist ganz warm' dachte sie. Dann war da nichts mehr.
 
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Alyndur

Zwielichtiger
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Alyndur träumte. Doch heute Nacht waren es keine verschlungen Rätsel oder verworrene Erinnerungen, in deren Reich er sich verirrte. Vielmehr glich es einem Blick in die Zukunft. Alyndurs Augen schlugen auf und er richtete sie nach Norden. Erst sah er nur den Nebel, der das Lager von allen Seiten wie eine feste Wand umschloss, doch nach einer Weile begann dieser, unter dem Druck seines Blickes zu weichen. Alyndur raste in die Einöde hinaus, ließ das Lager und seinen schlafenden Körper hinter sich. Er überquerte zahllose Meilen, raste durch das Land wie im Fluge. Für einen Augenblick glaubte er, am Rande seines Blickfelds Anora zu erspähen, wie sie auf ihrer Stute durch die Weiten ritt, doch falls sie es war, verschwand sie genauso schnell wieder, wie sie ihm erschienen war. Alyndur gab es auf, auf seine Umgebung zu achten, wie es der Instinkt eines Waldläufers von ihm verlangte, und verengte seinen Blick auf das, was vor ihm lag. Wie ein Blitzschlag glitt er durch die Welt, rasch und ungehindert, bis sich der Nebel lichtete. Vor ihm ragte eines der majestätischsten Bollwerke in den Himmel, die die Erde wohl jemals erschaffen hatte: Die Adlerberge. Er setzte seinen Weg fort, durchquerte Schluchten und glitt über Pässe, sah in furchtbare Tiefen und blickte herauf zu den Dächern der Welt aus ewigem Eis. Schließlich fand er das, was ihn hierher geführt hatte. Es war so kalt und so schwerelos, dass es nichts anderes sein konnte... Alyndur erblickte seinen Tod. War es der Schatten einer Gestalt oder der einer tiefen Wolke, der sich über seinen Körper beugte? Vorsichtig näherte er sich der Erscheinung, um nicht ihre verderbliche Aufmerksamkeit erregen. Noch ein Schritt, noch ein kleiner, so vorsichtig, wie es diese körperlose Form gestattete, dann würde er-
„OOOOOOOAAAAAAAAAAHHHHHHHRRR“

Alyndur stürzte von seinem Nachtlager hoch, das Langschwert blank und fest in seiner Rechten. Hatte er geträumt? Er hätte schwören können, dass es ein markerschütternder Schrei gewesen wäre, der ihn aus seinem tiefen Schlummer gerissen hatte, doch um ihn herum herrschte nichts als die Stille der Nacht. Er lockerte den Griff um den Schwertknauf und ließ sich zurück in die warmen Decken sinken. Doch nur einer dieser Träume, die ihn in letzter Zeit oft heimsuchten.

„OOOOAAAAHAHAAHAAAAAHHHRRR“ Da war es wieder. Anders als beim ersten Mal, doch unzweifelhaft vom selben Ursprung. Wie das Brüllen eines verwundeten Bären, nur menschlicher... und von einem tieferen Schmerz beseelt. Alyndur näherte sich dem Ursprung, der nicht weit vom Lager entfernt sein konnte, und traf dabei auf andere, Nordleute verschiedenen Alters und Ranges und auch auf ein paar seiner Gefährten, die ebenfalls in die Richtung des schrecklichen Lauts eilten. Etwas abseits vom Lager fanden sie einen robusten Nordmann am Boden sitzend, dessen kräftiger Bart nicht reichte, um den Schmerz zu verbergen, der sein Gesicht verzerrte. In seinen Armen hielt er den reglosen Körper einer Frau, die Alyndur als Schwester des Sehers Ulbrun erkannte. Freyas Gesicht war so bleich, als wäre die Wärme schon länger aus ihm gewichen. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Züge kraftlos. Ihre Mundöffnung bewegte sich leicht, als sie Nordmann mit seinen starken Armen sanft wiegte, doch ein Loch in ihrem Hals, aus dem ein roter Strom hervorquoll, beseitige jeden Zweifel an ihrem Zustand. Ein Stück abseits erspähte Alyndur ein klägliches Etwas, das einst den Köper eines ausgesprochen dürren Menschen hätte darstellen können. Neben einer skelettartigen Hand lag eine Waffe, deren Klinge sich im Licht der Fackeln, die einige Beobachter mitgebracht hatten, weniger wie Stahl als vielmehr wie Eis spiegelte - Anoras Schwert. Die zarten Fußspuren, fiel es Alyndur ein. Sie hatten von den Schlafstätten der Gefährten zu den Zelten der Nordleute geführt. Freya und ihr Totenwächter hatten in den letzten Tagen viel Zeit beieinander verbracht, hatten zusammen gelacht und die Götter wussten, was nicht noch alles getan, während der größte Teil des Reisetrupps mit sich selbst und dem Trübsal gefangen gewesen war. Der Waldläufer hatte dem Tod oft in die Augen blicken müssen und es war ihm zur Gewohnheit geworden, mit Kälte über die Leiber Gefallener hinwegzusehen. Sein Glück hatte ihm bald den überheblichen, dümmlichen Glauben gestattet, dass sein eigener Körper nie darunter sein würde. Diese Nacht aber zeigte sich ihm der Tod mit einer vergessenen - nein, einer verdrängten - abgrundtiefen Abscheulichkeit. Menschen des Nordens fielen auf die Knie, gestandene Krieger schluchzten bekümmert, Frauen hielten einander fest, Kinder wandten sich ab oder liefen davon. Noch ist ihr Blick auf das Schwert gerichtet und auf das, was es angerichtet hat, stellte Alyndur betrübt fest. Dann werden sie die Hand entdecken, die es führte. Dann werden sie sich der Hand erinnern, die es hätte behüten müssen. Und dann werden sie erkennen, dass auch sie einen Teil der Schuld trägt.
 

Anora

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Verloren…
Wie lange zog sie nun schon so durch dieses gottverlassene Land? Waren es Stunden, Tage, oder gar schon Wochen? Sie konnte es nicht sagen, und es war ihr auch gleichgültig. Das trübe Licht der Sonne kam und ging, ohne dass sie davon Notiz nahm. Sie verfolgte kein Ziel und war schon lange am Ende ihrer Kräfte angelangt. Bei ihrem überstürzten Aufbruch hatte sie kein Proviant mitgenommen, und wenn sie von Zeit zu Zeit an einem der morastartigen Tümpel, auf die sie stieß, Halt machte um ihren ärgsten Durst zu stillen, hinterließ das bräunliche Wasser nur einen schalen Geschmack in ihrem ausgetrockneten Mund.
Doch das alles kümmerte sie nicht mehr. Was um sie herum und mit ihr geschah, nahm sie nur noch wie ein teilnahmsloser Beobachter wahr. Der Kampf gegen die Ebenen war verloren. Ihr Geist weilte schon lange nicht wirklich in dieser Welt, hatte sich zurückgezogen in ihr Innerstes, um dem höhnischen Lachen ihres Vaters zu entgehen, das sie bei jedem Schritt begleitete, und um ihr eigenes erbärmliches Versagen nicht ertragen zu müssen.
Ihre Stute Aerlynn trug sie zuverlässig über die ganze Zeit hinweg, ob sie nun wach war oder schlief – Es machte sowieso keinen Unterschied mehr! - , doch ohne ihre Führung suchte sich die Braune ihren eigenen Weg und blieb ab und an stehen, um ein paar dörre Gräser zu zupfen oder einen Schluck Wasser aus einer Pfütze zu nehmen. Auch sie war entkräftet und hatte schon bessere Tage gesehen. Die Ebenen zehrten auch an ihr. Das Land war voller Schrecken und Gefahren, der Boden war uneben und hielt überall Stolperfallen bereit, und gleichzeitig gab es kaum reichhaltige Nahrung. Lange würde auch sie so nicht mehr weiter machen können.
Anora war auf dem Rücken der Stute in sich zusammengesackt. Ihr Geist war weit weg, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit. Die Vergangenheit hatte sie eingeholt, und so durchlebte sie Dinge, die schon lange hinter ihr lagen, noch einmal von neuem.

***

Es war Frühling, und der Wald blühte voller Leben.
Sie sprach gerade mit ihrer Mutter, der Hohepriesterin der Morgengöttin Smeija ihres Dorfes. Sie war eine wunderschöne und anmutige Frau, in deren Adern das reine Blut der Wildelfen floss. Doch heute hatte sie ihre Stirn in tiefe Falten gelegt und blickte sie sorgenvoll an.
Auch sie selbst war dazu bestimmt, eine Priesterin der Morgengöttin zu werden, und ihre Weihe stand kurz bevor. Ein ruhiges und beschauliches Leben erwartete sie.
Doch dann hatte sie eine Nachricht von ihrem Vater erhalten – Zum ersten Mal in ihrem Leben. Ihr Vater… Sie hatte ihn nie kennen gelernt, und ihre Mutter hatte nur wenig von ihm gesprochen. Manchmal schien es ihr so, als wäre es ihr unangenehm von diesem speziellen Teil in ihrer Vergangenheit zu erzählen. Oft hatte Anora sich gefragt, wie er wohl sein mochte, ihr Vater… Und nun diese Nachricht! Ein Vogel hatte sie am Morgen gebracht. Er hatte direkt an sie geschrieben, an seine Tochter. Er schrieb, er wolle sie sehen, bat sie um ihre Hilfe bei einem bedeutenden Experiment. Dass er ein großartiger Magier und Forscher sein musste, hatte sie bereits aus dem wenigen, was ihre Mutter erzählt hatte, erfahren. Am liebsten hätte sie sofort ihre Sachen gepackt und wäre aufgebrochen. Aber ihre Mutter war dagegen. Sie erinnerte sie an ihre Pflichten dem Dorf und insbesondere ihrer Göttin gegenüber – Doch das konnte sie nicht aufhalten. Anora versicherte ihr, dass sie schon bald wieder zurückkehren würde. Sie wolle ihren Vater nur ein einziges Mal sehen, um zu verstehen, wer sie war und woher sie kam. Danach wollte sie freudig ihren Dienst für die Göttin antreten. Die Diskussion dauerte lange, doch schließlich senkte ihre Mutter den Blick und gab nach. Ihre Hände ruhten auf ihrem gerundeten Bauch. Sie erwartete zu dieser Zeit ein Kind.

Als Anora in Elyndorr eintraf, wusste sie nichts über den Orden der Grünen Drachen oder irgendeine Organisation des Reiches. Sie war jung, und die Verachtung, mit der man ihr begegnete, nahm sie mit demütig gesenktem Haupt stillschweigend entgegen. Sie fragte bei den Wachen nach ihrem Vater, einem elfischen Magier, der für den Orden arbeitete. Die Männer sahen sich mit einem seltsamen Blick an, den sie nicht zu deuten wusste, dann führten sie sie zu ihm.
In jenem Augenblick, in dem sie Elmay’rath Helegnen zum ersten Mal sah, hatte er sie bereits für sich gewonnen. Er hatte eine einnehmende, selbstsichere Ausstrahlung, wie man sie nur selten findet, eine Aura, die ihm sofort die Bewunderung und die Gunst aller einbrachte. Er war ein hoch gewachsener Hochelf mit langem, goldblondem Haar, einem schmalem, strengem Gesicht und tiefgrünen Augen. Seine Körperhaltung war sehr gerade, fast schon steif. Vom ersten Moment an wollte Anora diesem einzigartigen Mann, der ihr Vater war, gefallen, seine Gunst und Anerkennung erlangen und von ihm als Tochter geliebt werden. Dafür hätte sie alles getan.
Elmay’rath erklärte ihr in kurzen, prägnanten Sätzen, was er vorhatte. Es ging um ein Projekt im Auftrag des Ordens, das die Schwachstelle der Ritter, ihre Schutzlosigkeit gegenüber Magie, beseitigen oder zumindest vermindern sollte. Sie sollte ihm dabei zur Hand gehen, und wenn sie zustimmte würde ihr die Ehre zuteil werden, als Erste den Versuch durchzuführen. Voller Eifer willigte sie ein.
In den nächsten Tagen lernte sie ihre neue Umgebung kennen, und zu ihrer Überraschung auch einen Halbbruder väterlicherseits, der den Namen ihres Vaters angenommen hatte. Er hieß Echil Helegnen. Er mochte ein gutes Stück älter sein als sie, und zu dieser Zeit war er der Schüler und Assistent ihres Vaters. In vielerlei Hinsicht war er Elmay’rath sehr ähnlich, doch ihm fehlte diese besondere, einnehmende Art, die ihren Vater so einzigartig machte. Er verstand es nicht, andere mit seiner Begeisterung anzustecken und an seinem Feuer teilhaben zu lassen, wie Elmay’rath es tat, doch das mochte auch daran liegen, dass seine Euphorie nicht so überschwänglich war wie die ihres Vaters.
Anora genoss die Zeit bei diesem ihr bisher unbekannten Teil ihrer Familie sehr. Sie war hier in eine andere Welt eingetreten, die ihr ihr abgegrenztes und ruhiges Dorf bisher vorenthalten hatte. Manchmal begleitete sie ihren Vater oder ihren Halbbruder hinaus in die Stadt und sah Dinge, die sie sich nie erträumt hätte. Mit großen Augen sog sie diese bunte und erstaunliche Welt in sich auf. Hin und wieder spielte sie gar mit dem Gedanken, nicht mehr in ihr Dorf zurückzukehren, sondern hier zu bleiben, und ihrem Halbbruder folgend ein Schüler ihres Vaters zu werden. Die Arbeit unter ihrem Vater gefiel ihr sehr. Stets war sie eifrig bemüht, zu gefallen und behilflich zu sein. Das Lächeln ihres Vaters war ihr Ansporn genug.
Dann waren die Vorbereitungen abgeschlossen, und das Experiment begann.
Anfangs war es harmlos, was von ihr gefordert wurde. Sie musste meist nichts anderes tun als ein paar seltsame Tränke zu sich zu nehmen, die ihr Vater hergestellt hatte, und immer wieder musste sie ein paar Tropfen ihres Blutes geben – Wozu war ihr nicht bekannt. Auch wenn die Gebräue abscheulich schmeckten und sie kaum noch eine Stelle an ihren Händen hatte die noch nicht aufgestochen war, war sie doch nur allzu gerne bereit, diese kleinen Opfer zur Freude ihres Vaters zu bringen.
Doch mit der Zeit kamen die Schmerzen. Zuerst war es nur ein leichtes Kribbeln auf ihrer Haut, kaum mehr als ein unangenehmes Jucken. Dann wurde es zu einem schmerzhaften Ziehen, wie als würde sich ihre Haut zusammenziehen, als wäre sie zu klein, um ihren ganzen Körper zu überspannen. Und schließlich begann sie zu brennen, so stark, dass sie es kaum noch ertragen konnte. So, glaubte sie, musste es sich anfühlen, wenn man auf einem Scheiterhaufen verbrannte. Doch der Glaube an ihren Vater und an seine Fähigkeiten war ungebrochen. Er wirkte Zauber auf sie, die ihren Geist unempfindlich gegen die Schmerzen machen sollten – So sagte er. Dennoch wurde sie müder und schwächer, je mehr Zeit verging. Sie schlief mehr, als sie wach war, und war schon nach kürzester Zeit außerhalb des Bettes so erschöpft, dass sie sich zur Ruhe legen musste. Schließlich kam der Tag, an dem sie nicht mehr aus ihrem Bett aufzustehen vermochte. Ihr Vater beruhigte sie, sagte, das wäre nur ein vorübergehender Effekt und das Ende des Experimentes wäre schon in Sicht, sie solle nur noch ein wenig länger durchhalten. Und sie glaubte ihm. Natürlich glaubte sie ihm. Er war ihr Vater. Tapfer schluckte sie weiterhin die Tränke, die er ihr brachte. Und die Schmerzen wurden schlimmer. Eines Nachts wurde es zu viel. Ihr Körper stand in Flammen. Sie wollte aufstehen und ihre Pein mit Wasser lindern, doch sie konnte sich nicht bewegen. Panik überkam sie, und sie konnte nicht anders als zu schreien, und sie schrie was ihre Lungen hergaben. Niemand kam. Irgendwann versagte ihr auch die Stimme. Völlig abgeschnitten von der Außenwelt, unfähig, noch irgendetwas anderes zu tun, weinte sie sich lautlos in den Schlaf. Inzwischen war sie nur noch selten wach, und wenn, dann ruhte ihr Blick auf ihrem Vater, der meist neben ihrem Bett stand und Zauberformeln murmelte, die sie nicht verstand. Es war ein flehender, hoffnungsvoller Blick, doch Elmay’rath schien ihn nicht zu bemerken. Er versicherte ihr immer wieder, dass das Experiment bald beendet sei, doch jedes Mal, wenn sie aufwachte, gab es neue Tränke zu trinken und neue Zauberformeln zu sprechen.
Und dann kam der Tag, an dem sie die Augen öffnete, und ihr Vater war fort. Sie wartete, wartete lange, doch er kam nicht wieder. Als ihr bewusst wurde, dass er möglicherweise niemals wiederkommen würde, sie einfach so hier zurückgelassen hatte, hilflos, wie sie war, da überkam sie die Angst. Sie verdrängte alles um sie herum, selbst den Schmerz. Sie wollte aufspringen und weglaufen, doch das konnte sie nicht. Sie wollte schreien, doch das konnte sie nicht. Ihr blieb nichts anderes, als zu den Göttern zu beten, ihr beizustehen. Ihr Geist aber nahm den einzigen Ausweg, der ihm noch offen stand, und so verfiel sie in eine tiefe, totengleiche Bewusstlosigkeit.
Die Dunkelheit war für sie wie ein Geschenk.

Als Anora ihre Augen das nächste Mal aufschlug, war sie nicht mehr in den Räumen ihres Vaters. Sie kannte die Behausung nicht, in der sie sich befand, doch sie war noch zu schwach, um sich genauer umzusehen. Ihre Haut brannte wie Feuer, und die feuchten Tücher, in die man sie offensichtlich gewickelt hatte, brachten kaum Linderung. Die Müdigkeit kehrte schnell zurück und der Schlaf bemächtigte sich ihrer erneut.
Einige Zeit später, als sie wieder bei Bewusstsein war, erfuhr sie, dass sie sich im Haus ihres Halbbruders Echil befand, das weit nördlich von Elyndorr lag. Sie musste wochenlang geschlafen haben.
Als sie langsam wieder zu Kräften kam, befragte sie Echil nach dem weiteren Verlauf der Geschehnisse. Er erklärte ihr in sachlichem Tonfall, dass ihr Vater das Experiment aufgrund ihres erbärmlichen Zustandes für gescheitert ansah und es abbrach. Er hatte sich nicht weiter um sie gekümmert, hatte sie achtlos liegen gelassen, denn nun, da sie keinen Nutzen mehr für ihn hatte, war es ihm egal, was aus ihr wurde. Ihr Körper und ihr Geist waren so geschwächt gewesen, dass sie vermutlich gestorben wäre, hätte Echil sich nicht ihrer angenommen. Er hatte das nicht aus Nächstenliebe getan, sondern nur, weil er es als gerecht empfand, nachdem sie ihnen so lange gedient hatte. Also hatte er sie hierher geschafft und sich um sie gekümmert.
Diese Worte trafen Anora mit voller Härte. Ihr kindlicher Idealismus wurde innerhalb kürzester Zeit zerschlagen, und ihr Bewusstsein war nun offen für die Grausamkeit der Welt, in der das Gesetz der Stärkeren herrschte. Ihr Vater hatte sie benutzt und dann fallen gelassen, ganz so, wie es ihm beliebte. Niemals hatte er in all dieser Zeit an sie gedacht, niemals war ihm etwas an ihr gelegen. Sie war seine physische Tochter, sein Eigentum, doch niemals mehr.
Das sollte sie nie wieder vergessen.

Als sie wieder kräftig genug war, machte sie sich auf die Heimreise zurück in ihr Dorf. Es mussten bereits mehrere Monate vergangen sein, seit sie von dort aufgebrochen war.
Die Reise war lang und beschwerlich, und Anora suchte zumeist die Einsamkeit. Sie sprach mit niemandem, der ihr auf der Straße begegnete, und eine Kapuze schützte sie vor den neugierigen Blicken der Vorbeiziehenden. Die Schmerzen hatten nachgelassen, doch ihre Haut hatte sich rötlich gefärbt, und sie wagte es nicht, dass jemand sie so zu Gesicht bekam.
In ihrem Dorf angelangt wurde sie mit Freude, aber auch mit Sorge begrüßt. Als die anderen ihre rote Haut sahen, wichen sie vor ihr zurück, als fürchteten sie, sich mit einer unbekannten Krankheit anzustecken. Dennoch bemühten sie sich, sie wieder in ihre Gemeinschaft aufzunehmen und zu vergessen, dass sie jemals weg gewesen war. Doch für Anora gab es keine Gemeinschaft mehr. Ihre Mutter versuchte mehrmals vergeblich, auf sie einzuwirken, sie möge doch erzählen, was ihr widerfahren sei, doch Anora schwieg zu diesem Thema nur.
Mit der Zeit wurde sie von den anderen immer mehr gemieden. Sie fürchteten sich vor ihr, denn sie war nicht mehr so, wie sie sie gekannt hatten. Meistens suchte sie von sich aus die Abgeschiedenheit und verbrachte Stunden in derselben, starren Position, vollkommen in sich gekehrt. Dann wieder genügte eine Belanglosigkeit, um sie zum Toben zu bringen – Und ihre Wut überstieg alles, was die anderen Elfen jemals gekannt hatten. In ihrem Inneren brodelte ein Vulkan, unberechenbar und zerstörerisch, immer zum Ausbruch bereit. Schlimmer jedoch als ihre Zornausbrüche war die Tatsache, dass Anora sich weigerte, sich an den Gebeten zu den Göttern, auch zu der Morgengöttin Smeija, zu beteiligen. Auch ihre Stellung als Priesteranwärterin wollte sie nicht mehr aufnehmen, was nicht gerade dazu beitrug, ihre Position im Dorf zu verbessern.
Eines Tages geschah es, dass sie zufällig für kurze Zeit alleine mit dem neugeborenen Sohn ihrer Mutter war. Der Junge hatte sein Spielzeug verloren und verlangte danach, und Anora wollte es ihm wiedergeben. Doch als sie ihn eher zufällig berührte, da begann er so laut zu schreien, als hinge sein junges Leben davon ab. Ihre Mutter kam sofort herbeigestürmt, riss den Jungen von ihr Weg und beschimpfte sie. Dabei sah sie sie voller Abscheu an, so als wäre sie ein Monster. In diesem Augenblick verstand Anora, dass hier kein Platz mehr für sie war.

Es hatte sie zurück nach Elyndorr verschlagen, denn sie kannte keinen anderen Ort, an den sie hätte gehen können. Sie hatte kein Geld und wusste nichts anzufangen, mit dem sie sich welches hätte verdienen können. Schnell brachten sie die Armut und der Hass der Menschen in die Slums der Stadt, wo sie sich durch Betteln am Leben zu erhalten versuchte. Sie hatte gehofft, Zuflucht in den Tempeln zu finden, doch bei den Menschengöttern in Elyndorr war sie offensichtlich nicht willkommen und die Priester jagten sie davon. Ihre Haut hatte inzwischen wieder eine normale Färbung angenommen und sie brannte auch nicht mehr. Als Erinnerung an das Durchgemachte blieb ihr einzig ein rötliches Mal in ihrem Nacken, das die Form einer Sonne hatte.
Als sie wieder einmal mit bettelnd erhobenen Händen und zu Boden gesenktem Blick in einer Gasse saß, ausgemergelt und kurz vor dem Verhungern, fiel wie so oft ein Schatten auf sie – doch dieser blieb auf ihr liegen. Als sie aufblickte, sah sie in das – zugegebenermaßen recht hässliche – Gesicht eines Mannes, der zumindest zum Teil orkisches Blut in sich tragen musste. Er sah nicht unfreundlich zu ihr hinab und fragte sie nach ihrem Namen. Sie nannte ihm ihren, ihren neuen Namen, denn sie wollte sich weder nach ihrer Mutter noch nach ihrem Vater benennen. Von nun an hieß sie Anora Alia, Anora, die Andere. Der fremde Mann nickte, dann nannte er ihr seinen Namen. Er hieß Balan.

In Balans Gilde wurde sie aufgenommen wie in einer Familie. Sie bekam Nahruhg, Kleidung und eine Unterkunft. Sie lernte, sich zu verteidigen, und später auch anzugreifen. Sie wurde ausgebildet in der Diebeskunst und machte den Schatten zu ihrem Freund und Beschützer. Bald schon bekam sie kleinere Aufgaben übertragen und verdiente sich so ihr eigenes Geld – Doch niemals fragte sie jemand nach ihrer Vergangenheit. Obwohl sie Freunde fand und sich unter ihnen wohl fühlte, blieb sie verschlossen, und als ihre Fähigkeiten mit der Zeit immer besser wurden und sie sich ihr Leben als Söldner und Kopfgeldjäger verdingen konnte, nahm sie immer öfter Aufträge an, die sie auf weite Reisen durch das Reich führten. Obwohl die Bar „Zur steinernen Treppe“ für sie eine neue Heimat geworden war, zog es sie immer wieder in die Ferne. Sie konnte und wollte nicht mehr in einer Gemeinschaft leben, das war nichts mehr für sie. Wenn sie langfristig zu viele Leute um sich hatte, fühlte sie sich eingezwängt, wie in einem Kerker.
Bei einem ihrer Aufträge, dessen Ziel ein niederer Magier von bescheidener Kunstfertigkeit war, machte sie die Erfahrung, dass dessen Zaubersprüche ihr nichts anzuhaben vermochten. Ihre Haut schien die Magie zu absorbieren – Sie färbte sich rot und brannte wie Feuer, doch sie selbst nahm keinen Schaden. Diese Tatsache lernte sie schnell zu ihrem Vorteil zu nutzen. Bald schon war sie in gewissen Kreisen begehrt und berüchtigt für allerlei Aufträge, die etwas mit Magieanwendern zu tun hatten. Deren Gegenwart alleine genügte, um bereits Schmerzen auf ihrer Haut zu verursachen, doch ihr Hass auf jegliche Art von Zauberer war so groß, dass sie über diese Kleinigkeit gerne hinwegsah.
Wie lange sie jedoch auch fort blieb, immer wieder kehrte sie zu Balans Gilde zurück und damit auch nach Elyndorr.

Bei einem dieser Besuche Jahre später erfuhr sie eher durch Zufall, dass ein Magier im Dienste des Ordens wohl wieder Experimente durchführte, zumindest hatte man vor einiger Zeit eine fremde, rothaarige Halbelfe in der Stadt gesehen, die zu ihm gebracht wurde.
Niemand konnte verstehen, warum Anora diese Information dazu veranlasste, alles stehen und liegen zu lassen und geradewegs in die Feste der Ritter der Grünen Drachen, den größten Feinden von Balans Gilde, zu marschieren.
Sie kam unbewaffnet und bat darum, zu ihrem Vater, dem Hofmagier Elmay’rath Helegnen vorgelassen zu werden. Mittlerweile wusste sie, was für eine Besonderheit es war, dass gerade dieser Orden einen Elfenmagier beschäftigte, doch sie wusste auch, wie fähig ihr Vater war, und wie skrupellos und kalt – Eigenschaften, die gut zu den Rittern passten.
Als sie in seine Räume kam, ging alles ganz schnell. Sie sah die Überraschung im Blick ihres Vaters, als er sie bemerkte. Doch da war keine Angst. Ihr Vater war zu selbstsicher, zu eingenommen von sich selbst als dass er jemals in seinem Leben Angst empfunden hätte. Sie sah auch das Mädchen, das bewusstlos in einem Bett lag, ganz so, als wäre sie eine leblose Puppe, so jung und so zierlich. Und sie sah das Messer, das unweit von ihr auf dem Fensterbrett lag – Der Dolch ihres Vaters.
Die Bewegung war fließend, und einen Moment lang wurde um sie herum alles schwarz. Als sich ihr Blick wieder klärte, sah sie ihren Vater vor sich knien. Der Dolch war tief in sein Herz vorgedrungen. Ihre Finger lagen noch auf dem Griff. Blut, sein Blut, tropfte langsam von der Klinge auf ihre Haut hinab.
Ihr Vater blickte zu ihr auf. Und zum ersten Mal sah er sie wirklich, so, wie sie war. Seine Augen weiteten sich. Dann wurden sie starr.
Elmay’rath ging ohne einen Laut aus dieser Welt.

Im Nachhinein erschien es ihr wie ein Wunder, dass sie mit dem Mädchen auf den Schultern, das ihre Halbschwester väterlicherseits war, so einfach aus der Festung hatte hinausgelangen können. Der Tod ihres Vaters war noch nicht bekannt geworden. Niemand hielt sie auf.
Mit der leblosen Halbelfe machte sie sich auf den Weg nach Norden. Für sie gab es keine andere Möglichkeit.
Echil empfing sie ein wenig erstaunt, doch nicht wirklich überrascht. Er stellte keine Fragen und tat, was er schon einmal getan hatte.
Anora blieb bei ihm, bis das Mädchen erwacht war. Obwohl sie ansonsten gesund zu sein schien, blieb sie stumm – Kein Wort kam je über ihre Lippen. Da sie nicht wussten, wer sie war und woher sie kam, beschlossen sie, dass sie bei Echil bleiben und diesen unterstützen würde. Sie gaben ihr den Namen Ira, denn in ihren giftgrünen Augen flackerte ein Zorn, den Anora im Grunde ihres Herzens selbst verspürte, auch wenn sie inzwischen gelernt hatte, ihn besser zu kontrollieren und vor anderen zu verbergen. Mit Ira hatte sie jemanden gefunden, der war wie sie – Und doch wünschte sie sich, es wäre nicht so.
Als alles geklärt war, verabschiedete sie sich wieder von ihren Geschwistern. Es sollte für lange Zeit der letzte Besuch bei ihnen gewesen sein.
Dann ging Anora wieder auf ihre Reise.

***

Obwohl inzwischen mehr als ein Menschenleben vergangen war, seit sie zum ersten Mal aus ihrem Dorf aufgebrochen war, hatte diese Geschichte Anora ihr Leben lang geprägt. Sie hatte nicht mehr bewusst daran gedacht, doch die Geschehnisse von damals verfolgten sie wohin sie auch ging und spiegelten sich in all ihren Handlungen wider. Ihr jetziges Sein war mehr als zuvor ein Produkt ihres Vaters, doch es war auch ihr wahres Sein, das dadurch zum Vorschein gekommen war.
Aber nun…
Als sie zum Ende ihrer Vergangenheit und zum Beginn ihrer Gegenwart gekommen war, wurde es dunkler um ihren Geist. Sie wehrte sich nicht dagegen, warum auch? War der Schatten ihr nicht immer ein Freund und Beschützer gewesen? So musste es sein!
Die Finsternis umhüllte sie, sog sie in sich auf, nahm sie mit sich.
Und sie fiel, und fiel…
 
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Anora

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…und fiel.
Als sie mit dem Kopf voran auf dem harten, ausgetrockneten Boden aufschlug, kehrte ihr Geist widerwillig in diese Welt zurück.
Leise stöhnend drehte sich Anora auf den Rücken und blinzelte gegen das fahle Sonnenlicht. Sie musste wohl vom Pferd gestürzt sein. Als sie ihren Kopf leicht zur Seite wandte, begann ihre Stirn wie wild zu pulsieren. Sie blinzelte daraufhin noch heftiger, versuchte, ihren Blick zu klären.
Dort, nur wenige Meter entfernt, stand Aerlynn unter den traurigen Überresten eines abgestorbenen Baumes und zupfte an dem dörren Gras, das hier in ausreichenden Mengen wuchs.
Fluchend setzte Anora sich auf. Ihr Schädel protestierte dabei so heftig, dass sie einen Moment lang die Augen schließen musste, um nicht umzukippen. Alles drehte sich, und das vergnügte Geschrei der Stimmen in ihrem Kopf machte es nicht besser. Mit einer Hand tastete sie vorsichtig nach der Stelle an ihrer Stirn, an der das Pochen am heftigsten war. Die Haut dort fühlte sich ganz warm und taub an. Und da war noch mehr… Als sie die Hand wieder senkte, war sie blutverschmiert.
Missmutig versuchte sie aufzustehen, doch als sie ihr rechtes Bein belastete, durchfuhr plötzlich ein heftiger Schmerz ihren Fuß.

„Auch das noch!“, murmelte sie. Scheinbar hatte sie sich bei ihrem Sturz den Fuß verstaucht.
Die warnenden Schmerzen in ihrem Fuß und ihrem Kopf ignorierend stemmte sie sich nun vollends hoch und humpelte leise stöhnend zu dem toten Baum hinüber. Dort angekommen stützte sie sich dankbar an dessen morschen Stamm ab. Das Schwindelgefühl war heftiger geworden. Die Welt um sie herum drehte sich jetzt so schnell, dass ihr schlecht wurde. Weit würde sie in diesem Zustand auf jeden Fall nicht mehr kommen, und ein Blick auf Aerlynn sagte ihr, dass auch diese mehr als nur froh über diese ungeplante Rast war. Wahrscheinlich wäre sie eh nicht mehr auf ihren ungesattelten Rücken hinauf gekommen…
Vorsichtig ließ Anora sich mit dem Rücken an der Rinde des Baumes entlang hinab gleiten, bis sie wieder sicher auf dem Boden saß. Das Schwanken ließ langsam wieder etwas nach.
Im Prinzip war es auch egal, ob sie weiter ritt oder nicht, denn ob sie hier starb oder an irgendeinem anderen Ort in diesen gottlosen Ebenen spielte nun wirklich keine Rolle mehr.
Wenn es nur nicht so verflucht kalt wäre…
Sie zitterte am ganzen Körper, was auch nicht weiter verwunderlich war, schließlich befand sich fast ihre ganze Ausrüstung bei der Karawane und so entkräftet, wie sie schon war, war sie anfälliger für die Kälte als normalerweise.

‚Dann mach dir doch ein Feuer!’, spottete die Stimme ihres Vaters.
Diese Idee fand sie gar nicht mal so abwegig.
Auf Knie und Arme gestützt sammelte sie tote Äste, vertrocknetes Gras und was ihr in ihrer näheren Umgebung sonst noch so brennbar vorkam und bildete damit einen kleinen Haufen direkt neben ihrer Ruhestätte am Baumstamm. Das Material würde einem Feuer nur kurz Nahrung bieten, doch das war besser als gar nichts. Sie wollte nur noch einmal die Wärme spüren…
Ein paar Steine, die sie in einem Kreis rund um ihre kleine Feuerstelle legte, sollten verhindern, dass die Flammen um sich schlugen und sich ausbreiteten – Der ausgetrocknete Boden mit dem verdörrtem Gras bot sich dafür geradezu an. Zu ihrem Glück trug sie immer ein paar Feuersteine bei sich, und so dauerte es jetzt nicht mehr lange, bis ein Funke auf das trockene Material übersprang. Nachdem die Flammen einmal kurz auflodert waren, bildeten sie sich zurück, bis nur noch ein dünner Schein übrig blieb. Von Wärme konnte keine Rede sein. Dennoch ließ Anora sich leicht lächelnd zurück an den Baumstamm sinken.
Schon die Anstrengung, das Feuer zu machen, hatte ihr viel abverlangt, doch sie hatte es geschafft. Jetzt fühlte sie sich vollkommen erschöpft und ausgelaugt. Es war an der Zeit für etwas Ruhe.
Sie spürte noch, wie ihr das warme Blut langsam die Stirn hinunterlief, sich in ihren Augenbrauen verfing und in weiteren Bahnen über ihr Gesicht rann, doch sie machte sich nicht mehr die Mühe, es wegzuwischen. Ihr Zittern ließ nach, und irgedwann spürte sie die Kälte nicht mehr.
Einmal glaubte sie, in der Ferne etwas zu hören, ein Dröhnen, wie durch ein Horn verursacht, doch ihr Geist war bereits wieder in zu weite Ferne gerückt, als dass er davon noch wirklich hätte Kenntnis nehmen können.
Als sie einschlief, dämmerte es bereits. Doch auch in dieser Nacht sollte ihr der Schlaf keine geruhsamen Träume schenken.
 

Darghand

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Frejas Totenwache war geblieben. Alle, die der Aufruhr aus dem Schlaf gerissen hatte, die sich mit Speeren und Fackeln aufgeregt versammelt hatten, waren an Ort und Stelle geblieben. Nach und nach waren das Stimmenmeer, das Aufschreien und Weinen verstummt, und nach und nach hatten sie einen Kreis um Thorreid und ihre tote Führerin gebildet. Inmitten dieses Kreises hatte auch Ulbrun gesessen, leichenblass und unfähig, anderen Beistand oder Trost zu spenden, ohne Worte oder Gedanken finden zu können, die dem Tod irgendeinen tieferen Sinn und den Trauernden Halt geben könnten
Nachdem ihn der Lärm geweckt hatte, galt sein erster Gedanke der geflohenen Elfe.
'Die ivuli!' war es ihm durch den Kopf geschossen. 'Die ivuli hängt nackt und tot an einem großen schwarzen Felsen.' Die entsetzten Gesichter, die ihn auf seinem Weg durch das Gedränge angeblickt hatten, hatten einen Verdacht genährt. Doch der Anblick von Thorreid, auf seinen Knien wimmernd und stammelnd, und der blutbesudelte blonde Schopf in seinem Schoß hatten Ulbrun wie ein Felsbrocken getroffen. Es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, und dann war da nur noch die Erinnerung an Odva, die ihn mit ihrem kleinen Körper gestützt hatte.
„Nun komm schon her Ulbrun.“ hatte sie gesagt. „Ihr Männer weint am besten in den Armen einer Frau.“ Der alte Seher hatte ihr Angebot dankbar angenommen.

So hatten sie die Nacht verbracht. Als der Morgen dämmerte, erhob sich eine erste einzelne Stimme, zwei weitere stimmten mit ein und am Ende sangen alle – ein vielstimmiger tiefer Chor. Sie sangen das Klagelied, das traditionell bei allen Todesfällen angestimmt wurde, und dann einige in Lieder gefasste Sagen aus der Alten Zeit, der Zeit der Ersten Väter, die von den Taten großer Helden kündeten und meist mit deren Tod endeteten. Als der Chor verebbte, und sich niemand fand, der noch einmal ein neues Lied anstimmen wollte, erhob sich Ulbrun aus der sitzenden Menge und wankte auf wackeligen Beinen auf Thorreid zu. Die ganze Zeit über hatte es niemand gewagt sich ihm zu nähern.
Als Ulbrun näher trat, sah er, dass Thorreid Freja ins Heidekraut gebettet und ihre Augen geschlossen hatte. Er starrte vor sich auf den kargen Boden und hob auch dann nicht den Blick, als Ulbrun direkt vor ihm stand. Der Alte streckte ihm die Hand hin.
„Komm, Thorreid. Sitz nicht mehr allein hier.“
Thorreid hob langsam den Kopf. Seine Augen waren noch immer gerötet, er schien innerhalb weniger Stunden um Jahre gealtert zu sein.
„Wir haben sie umgebracht, Ulbrun.“ sagte er mit tonloser Stimme. „Hörst du? Wir waren das.“
„Was... was redest du denn da?“
Was ich rede??“ Thorreid schlug mit einer heftigen Bewegung die ihm dargereichte Hand weg.
Wir sind schuld! Verstehst du?!“ Er zeigte mit dem Zeigerfinger auf Ulbrun, als wollte er ihn damit aufspießen. „Du... sieh ihn dir doch an! Sieh ihn dir an!“ Er trat gegen Onolfs Überreste. Das Geräusch war widerlich. Als schlüge man auf einen staubigen Sack voll Knochen.
„Was hast du denn gewusst?! Was hast du gewusst, Seher?? Nichts! Gar nichts! Gesundpflegen wolltest du ihn, mit Kräutern, wie bei einem Husten! Wo waren denn deine Geister? Wo waren sie, als Freja sie gebraucht hat?“
Ulbrun sagte nichts. Er konnte nicht. Die Anschuldigung hatte sich in ihm bereits zuvor zusammengebraut wie ein Sommergewitter, Thorreid war erster Blitz und Donner, nun brach sie vollends über ihn herein.
„Wo waren denn deine Geister?? Sind sie nicht überall?! Und hier!“ Thorreid griff nach dem blutverklebten Schwert und fuchtelte damit vor ihm herum.
„Erkennst du's? Erkennst du's, frage ich?! Ich schon! Die ivuli verschwindet, und lässt ihre Waffe hier! Zwei Tage vorher!“ Wutentbrannt schmiss er die Klinge Ulbrun vor die Füße. „Soll das Zufall sein?!“
„Und ich...“ Thorreids Stimme wurde wieder leiser, er klang erschöpft. „Ich bin auch schuld. Sie lag wegen mir hier draußen, weil wir... weil wir uns... ich... ich hab's nicht verhindert. Ich konnt's nicht. Ichhabsnichtverhindert. Ichhabsnichtverhindert...“
„Thorreid“ sagte Ulbrun, und es war ihm, als käme jede einzelne Silbe in unglaublicher Langsamkeit über seine Lippen. „Vielleicht hast du ja recht... aber... niemand weiß das im Moment, niemand weiß, wo...“
Er beendete den Satz nicht, denn Thorreids Faust landete krachend auf seiner Nase. Ulbrun hörte, wie die Knochen brachen, und landete rücklings im Heidekraut. Sterne tanzten vor seinen Augen. Schützend hob er die Hände vor das Gesicht, aber Thorreid ging ihm nicht nach. Er stapfte durch eine Gasse, die sich schnell in den Reihen der Nordmenschen gebildet hatte. Ulbrun erhob sich mühselig, wie ein geprügelter Hund. Er schmeckte das Blut, das von seiner Nase auf seine Lippen rann. Als er in die Runde und die Gesichter der Nordleute sah, entdeckte er alles, alles, nur kein Mitgefühl. Es war diese kurze Erkenntnis, die ihn zum zweiten Mal zerbrach.
 

Morgan

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Auch Maron liefen die Tränen über die Wangen, als er sah, was geschehen ist. Er und Bisu hatten stets im Wechsel auf äußere Feinde geachtet, doch mit der Mauer im Rücken, sahen sie das Lager der Nordleute nicht. Als Ulbrun dann noch zu Boden ging, war der Bruch deutlich - die Schuld würde Ihm und Anora angelastet werden. Traurig blickte er sich zum Elbenritter um, der ebenfalls mit sorgevoller Mine dastand. Als keiner dem Raben half, reichte ihm Bisu sein Tuch (welches schon etwas tränennass war) um sich die Nase abzutupfen und Maron bot dem Alten seine Hand.
Diese Ebene saugte jede Freude aus einem und weidete sich am Leid der Reisenden, logisches Denken war kaum möglich und nun hatte sich der Totkranke als nekrotischer Killer entpuppt. Man freute sich fast auf die schneebedeckten Adlerberge, nur um diese Öde zu verlassen.
 
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